»Ab wann ist eine Lüge ein Verbrechen?« |
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Valeria Bruni Tedeschi und Jacques Gamblin |
Die Zahl seiner Filme beläuft sich auf über 70. Auch Die Farbe der Lüge, ab heute im Kino, ist ein typischer Chabrol: Ein Krimi der dem bourgoisen Milieu den Spiegel vorhält, ihre eigenen Lügen dechiffriert, in dem subjektive Unschuld und objektive Schuld sich vermischen.
Mit Claude Chabrol sprach Rüdiger Suchsland während
der letzten Berlinale.
artechock: In vielen Ihrer Filme kommen Detektive vor. Was bedeutet diese Figur für Sie? Ein Aufklärer, ein Priester der Wahrheit?
Claude Chabrol: Zunächst einmal ist bei der Detektiv-Figur die Funktion immer stärker als die Persönlichkeit. Es gibt da einen gewissen Konflikt zwischen beidem. Die Persönlichkeit sollte normalerweise nicht allzusehr in den Vordergrund treten. Ich selbst bemühe mich allerdings, meine Detektive trotz allen funktionalen Erfordernissen keinesfalls zu einer Karikatur werden zu lassen. Sie sollten beispielsweise nicht zu alt sein,
sollten sich nicht dem annähern, was man in älteren englischen Detektiv-Stories – aus den 20er, 30er Jahren – oder in Belgien findet: alte Typen mit großem Schnurrbart und dem ganzen Zeug – das sind Karikaturen.
Ich versuche demgegenüber noch etwas Raum für Persönliches zu lassen. In Au coeur du mensonge gibt es eigentlich einen Widerspruch zwischen dem Charakter des Mädchens
und ihrem Beruf.
artechock: Mir scheint, daß der Film sehr stark an der Opposition zwischen Landschaftsmalerei und Portraits orientiert ist. Auch formal. Wie weit hat das ihre Mis-en-scene auch betroffen?
Chabrol: Ich versuche zwischen beidem hin und her zu wechseln. Die Personen – also auch die Portraits – werden in dem Film immer wichtiger. Irgendwann hat die Umgebung in diesem Film überhaupt keine Bedeutung mehr. Sie ist dem Zuschauer dann schon bekannt, hat keine Umgebung mehr. Zum Beispiel bei der Fahrt auf dem Boot: Da sieht man das Wasser nur 10 etwa Sekunden.
artechock: In Ihren Filmen tritt die Handlung immer mehr in den Hintergrund, Personen und Charaktere werden dagegen immer wichtiger.
Chabrol: Ich habe in meinen Filmen die Handlungen noch nie besonders interessant gefunden. Ich habe auch nie nach irgendwelchen besonders aufregenden Geschichten gesucht. Was Handlung angeht, ist es wie mit der Landschaft: Sie hilft uns, die Charaktere besser zu verstehen.
Um an Simenon zu erinnern: Die Story entstand bei ihm aus den Personen und nicht umgekehrt. Nichts entsteht aus der Notwendigkeit der Handlungen.
artechock: Aber ein Film wie Die Fantome des Hutmachers scheint doch eine viel „spannendere“ Handlung zu besitzen. Ist nicht diese Handlungsreduktion auch ein Stilmittel Ihrer späten Filme?
Chabrol: Das ist ein tromp l’oeuil, eine Sinnestäuschung. [LACHT] Ich habe nicht den Eindruck, daß in Die Fantome des Hutmachers viel passiert. Aber trotzdem, wenn das Ihr Eindruck ist...
artechock: Können Sie sich denn einen finalen Punkt vorstellen? Wird diese Reduktion immer weitergetrieben?
Chabrol: Ja, ich denke im Hinblick aufs Kino ist es in jedem Fall richtig, sich von dem vorherrschenden Modell, dem Actionfilm, wegzubewegen. Actionfilme sind nicht schlecht. Aber das Drama des Actionfilm ist, daß er so schnell ist, daß die Leute dabei nicht zum Denken kommen. Das sollten sie aber im Kino tun. [LACHT]
artechock: Wollten Sie mit diesem Film einmal etwas ganz anderes machen?
Chabrol: Ich weiß, ja, man muß immer aufpassen, das man nicht zu routiniert wird, und sollte immer wieder 'mal etwas riskieren. Es ist keine gute Lösung, wenn man zu Dreharbeiten genauso fährt, als ob es ins Büro ginge.
Aber gleichzeitig weiß ich auch, daß ich eine leichte Tendenz habe, immer die gleichen Themen zu nehmen. Ich mache eben das, was mich besonders interessiert. Wie ein Fisch im Wasser.
artechock: Ihr Film hat etwas sehr Selbstreflexives. Sie sprechen von Kunst, Licht, Arten der Darstellung, der Repräsentation. Ist Ihnen Wie wichtig ist Ihnen das?
Chabrol: Wenn man sich einen Maler zur Hauptfigur macht, dann muß man natürlich über solche Dinge nachdenken. Zudem unsere zeitgenössische Realität von einer gewissen Tyrannei der Bilder geprägt ist. Natürlich macht es Spaß, einmal über Farben nachzudenken, und das Leben eines Künstlers zu beschreiben.
artechock: Ihr Kino hat schon immer viel mit dem Thema Wahrheit und Lüge und beider Verhältnis zu tun, dieser Film ganz speziell. Denken Sie, daß im Kino überhaupt Wahrheit stattfinden kann? Gibt es wahre Bilder und wahre Geschichten? Oder ist das eine falsche Frage?
Chabrol: Das hängt davon ab, ob man Bilder für wahr hält. Wenn sie wahr sind, eine Rekonstruktion reeller Eindrücke sind, die in irgendeiner Beziehung zu dem stehen, was man kennt, woran man sich erinnert, gut, dann kann man sagen: Da ist Wahrheit. Aber das ist trotzdem nicht die gleiche Wahrheit, wie die der Dinge selbst.
Das ist ein echtes Problem.
Zum Beispiel damals in Rumänien – Temesvar – da hat nichts gestimmt. Wenn
man Wahrheit will, dann muß man alles zeigen: Die Körper, den Typ, der das gemacht hat, und so weiter... Aber auch dann wäre es eine rekonstruierte Wahrheit.
artechock: Ich hatte das deswegen gefragt, weil es ja im Kino immer wieder Ansätze gibt, gegen die ganzen Täuschungen eine Wahrheit entgegenzusetzen – in der Geschichte, aber jetzt auch in den letzten Jahren: Dogma95. Mich interessiert, was sie darüber denken. Kann es gelingen, auf diese Weise Wahrheit ins Kino zu bringen?
Chabrol: Also ich mag das Wort »Dogma« ganz und gar nicht. Darüber kann ich nur lachen. Aber es stimmt, diese Idee ist ganz gut. Allein schon aus Werbegründen ist das formidabel. Und das Kino kann davon nur profitieren. Aber die Gründe sind natürlich wirtschaftliche: Wie stellt man billige Filme her? Im Übrigen halten die sich an ihre eigenen Regeln nicht. Sie beleuchten doch künstlich, und bald werden sie auch mit der Handkamera
aufhören.
Was Festen angeht, finde ich die ersten 20 Minuten sehr penibel, das hat etwas Illustratives. Danach ist der Film sehr schön.
Aber ich möchte ein neues Dogma aufstellen: Keine Schnurrbärte!
artechock: Wenn ich Ihren Film richtig verstehe, dann zeigen sie uns die Lüge, aber verurteilen sie nur bedingt. Ab wann ist eine Lüge so schlimm, daß man sie verurteilen muß?
Chabrol: Ja, diese Frage habe ich mir selbst gestellt: Ab wann ist eine Lüge ein Verbrechen?
Ich will es mal so sagen: Im Allgemeinen kann ich das nicht beantworten. Aber in diesem Fall doch: In dem Moment, wo die Lüge im Geist eines Menschen eine Deformation der Wirklichkeit produziert. Die ihn unfähig macht, sich in der Totalität der Welt zu orientieren. Es steht schon schlimm genug mit der heutigen Gesellschaft. Sie produziert
genug Desorientierung. Aber wenn ein Mensch gar nicht mehr zurückfindet in die Wahrheit, wenn er sein Gleichgewicht verliert. Dann wird es sehr ernst.
Aber die Verwirrung fängt schon ziemlich früh an: Wenn man an den Weihnachtmann glaubt, der Dinge versteckt, und irgendwann entdeckt, das sich alles ganz anders verhält – da gerät das Gleichgewicht schon aus den Fugen.
artechock: Welche Rolle spielt für Sie die Musik in ihren Filmen?
Chabrol: Wenn ich mir alte Filme anschaue, auch die, die sonst formal sehr modern sind, dann bin ich immer erstaunt, daß da viel zu viel Musik ist. Die verstärkt alles nur unnötig. Sie wiederholt immerfort, was man schon auf der Leinwand sieht. Man hat schon längst alles kapiert, trotzdem geht es weiter. Das finde ich lächerlich. Außerdem bin ich überzeugt, daß der Synchronismus in der Musik etwas sehr Gefährliches.
Mit meiner Art
sarkastischerer Musik erlaubt man dem Zuschauer, sich etwas Distanz zu wahren. Um sich auf gewisse Art seine Fähigkeit zur Analyse zu bewahren.
Manchmal setze ich Musik aber auch ein, um den dramatischen Aspekt zu verstärken: Es gibt einen Moment in meinem neuen Film, eine Abschiedsszene am Bahnhof, der Mann geht, und sieht ein junges Mädchen, und da kommt ein Zirkus-Thema von Kurt Weill. Das schafft einen wilden Moment, man hat den Eindruck, der Typ könnte sich jeden Moment auf das
Mädchen stürzen.
artechock: Dem Wettbewerb müssen Sie sich weniger stellen, als die jungen Dänen. Aber aus welchen Beweggründen machen Sie Ihre Filme? Woody Allen erklärt, er habe zu Hause immer 30, 40 Geschichten liegen. wie viele liegen bei Ihnen?
Chabrol: [LACHT] Also ich habe keine 30, Woody ist ein guter Lügner. er hat vermutlich 10, wie alle anderen. Wer gewohnt ist, oft zu drehen, der hat natürlich eine Art Schublade. Aber wenn 6 Monate vorbei sind, dann ist es plötzlich zu spät.
Mein nächster Film wird im Übrigen auch sehr billig, der spielt nämlich – ich spreche eigentlich nicht dadrüber, aber die Hauptidee verrate ich – in einem Schrank, einem geschlossenen
Schrank. Er handelt von einem, der sich darin eingeschlossen hat, und dem man von außen Wasser gibt...
artechock: ...auch ein Dogma-Film?...
Chabrol: Ja, es ist Trinkwasser. Keine Gewalt! [LACHT]
artechock: Vorhin haben Sie erwähnt, daß die Täuschung in der Gesellschaft überhand nimmt, daß Gesellschaften dahin tendieren, orientierungslos zu werden. Möchten Sie in Ihren Film dem entgegensteuern? Neue Orientierung geben?
Chabrol: Ich will ich etwas Furchtbares sagen: Ich bin extrem glücklich! [LACHT] Letztlich sind die Filme gemacht, damit ich mich nicht unglücklich fühle. Lügen ist nicht das Schlimmste...
artechock: Was ist das Schlimmste?
Chabrol: Das Schlimmste ist, wenn man aufgibt.
artechock: Waren Sie je an dem Punkt, aufgeben zu wollen?
Chabrol: Nein. Nein, nein, aber ich wollte schon mal alles verbrennen.
artechock: Wenn Sie eben sagten, daß Sie extrem glücklich seien, liegt das auch daran, daß sie Filme machen, in denen oft sehr triste, unglückliche Geschichten erzählt werden, mit viel Gewalt? Ist das auch eine Art von Selbsttherapie?
Chabrol: Ja, ja. Das ist ganz einfach. Die düsteren Geschichten reflektieren nur, was ich nicht bin. Meine Filme sind die am wenigsten autobiographischen der Filmgeschichte. Denn meine Geschichte ist zwar für mich selbst göttlich, aber für andere absolut uninteressant.