20.04.2023

»Die Sehnsucht danach, sich selbst zu zerstören...«

Brandon Cronenberg während der Berlinale 2023
Brandon Cronenberg während der 74. Berlinale 2023
(Foto: Elena Ternovaja – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0)

Brandon Cronenberg im Interview über seinen neuen Film Infinity Pool

Brandon Cronen­berg hat sich mit drei Kurz- und drei Spiel­filmen zusehends als eigen­s­tän­dige Stimme (nicht nur) im Genre-Kino etabliert. Unab­hängig vom berühmten Fami­li­en­namen, bedient sich insbe­son­dere sein neues Werk Infinity Pool vertrauter Horror-Motive, um sie auf oft impres­sio­nis­ti­sche, meta­pho­ri­sche und heim­tü­ckisch-gewitzte Art zu einer höchst eigenen Erfahrung zu verwan­deln, sich mit Fragen von Identität und Wahr­neh­mung ausein­an­der­zu­setzen.
So finster und trans­gressiv seine Filme werden können, und so düster er auf Fotos gern drein­schaut, erweist sich Brandon Cronen­berg bei der Interview-Begegnung am Rande der Berlinale als höchst char­manter, auskunfts­freu­diger und humor­voller Gesprächs­partner.

Das Gespräch führte Thomas Willmann

artechock: Infinity Pool ist eine kroatisch-ungarisch-kana­di­sche Produk­tion. Das klingt, als würde da womöglich eine inter­es­sante Geschichte dahinter stecken...

Brandon Cronen­berg: Zunächst war es haupt­säch­lich eine kana­di­sche Produk­tion. Unsere kana­di­schen Produ­zenten sind alte Freunde von mir. Wir haben einen Kurzfilm zusammen gemacht, Please speak conti­nuosly and describe your expe­ri­ences as they come to you – aber wir wollten schon lange gemeinsam einen Kino­spiel­film machen. Aber für Infinity Pool benö­tigten wir ein Resort. Und diese Art Strand-Resort gibt es in Kanada einfach nicht. Also haben wir uns in Europa umgesehen. Und Ungarn hat [lacht] ein gutes Steu­er­gut­schrif­ten­system, und erfahrene Crews. Sowie ein System, bei dem es möglich ist, auch in einem benach­barten Land zu drehen. Kroatien hatte die Küste – so hat sich das alles entwi­ckelt.

artechock: Es ging da also lediglich um Drehorte und Steu­er­an­reize?

Cronen­berg: Es war im Grunde ein Puzzle, wie man einen Inde­pen­dent-Film drehen kann, der in einem Resort spielt. Aber auch diese Art von osteu­ropäi­scher Ästhetik gehörte in den Film. Somit war das in mehrerer Hinsicht der richtige Ort.

artechock: Wie viel von der Kultur, Geschichte, Mytho­logie des fiktiven Urlaubs­lands La Tolqa haben Sie vorab für sich ausbuch­sta­biert?

Cronen­berg: Die Sprache wurde von einem echten Lingu­isten entwi­ckelt, es gab also für den Film eine kohärente geschrie­bene und gespro­chene Sprache. Der übrige Hinter­grund ist nur nach Bedarf ausge­ar­beitet. Weil es bewusst ein etwas absurdes Land sein soll. Es soll nicht völlig kohärent sein. Das World­buil­ding war ein Balan­ceakt. Es sollte sich real genug anfühlen, um stimmig zu sein – aber es sollte auch ein etwas seltsamer Traum von einem Land sein, der sich im Verlauf des Films entspinnt. Ein gewisses Maß World­buil­ding war hilfreich, das Ganze zu erden – aber zuviel wäre nicht sinnvoll gewesen, einfach aufgrund seiner Funktion.

artechock: Hat sich viel am Konzept und Drehbuch geändert, als Sie den konkreten Drehort hatten – oder hat der ohnehin perfekt gepasst?

Cronen­berg: Oh, keines­wegs, es gab viele Ände­rungen. Auch das ist teils eine Folge des unab­hän­gigen Filme­ma­chens. Man hat keine $200 Mio., um seine Vorstel­lungen vorab genau durch­zu­de­si­gnen, und das dann alles zu bauen. Aber mir taugt dieser Prozess ehrlich gesagt. Das hat was von »Found Art«: Man hat eine Ahnung, worauf man hinaus will – aber dann findet man die Drehorte, und passt seine Konzep­tion an diese konkreten Orte an. Gestaltet diese etwas um, und erkundet sie. Ich mag diesen Entde­ckungs­pro­zess. Es war immer als eine Art Traum von einem Ostblock­staat gedacht. Aber ich glaube, die reale Geschichte dieser Länder hat stärker als erwartet abgefärbt. Wir hatten diese Wolgas – Autos, mit denen einst Politiker herum­kut­schiert wurden; und das wurden unsere Poli­zei­autos. Das Poli­zei­re­vier im Film war eigent­lich ein altes Kraftwerk aus der kommu­nis­ti­schen Ära. Ich glaube, viel von dieser Ästhetik hat einfach aufgrund unserer Drehorte mehr auf den Film abgefärbt.

artechock: Mir schien der Film generell offener für die reale Welt als Ihre vorhe­rigen Arbeiten. Dass er eher einen Blick hat für das, was da ist, anstatt eine – freilich starke – Vision auf die Welt zu proji­zieren. Hatten Sie beim Dreh ein solches Gefühl?

Cronen­berg: Hmm, das mag womöglich nur eine Folge des Settings gewesen sein. Es war wichtig, etwas von der Land­schaft einzu­fangen. Ein solch entschei­dender Teil der Erfahrung ist die Erfahrung dieses ORTES. Deshalb war alles vermut­lich weniger konstru­iert.
Freilich noch immer auf einer gewissen Ebene sehr arti­fi­ziell, weil es so klar eine reine Fiktion ist. Doch ande­rer­seits... Ab und zu hatten wir veritable Totalen! [Lacht laut]

artechock: Die gibt’s in Possessor weniger... [Lachen] Eine der tollen Sachen an dem Film ist, wie er seine Gestalt wandelt: »Es ist Folk Horror! Nein, es ist Body Horror! Ah, nein, es geht um Doppel­gänger!« Man wird ständig auf einen anderen Pfad geführt, als man erwartet. Können Sie etwas vom Schreib­pro­zess und dem Finden des Weges zwischen all diesen Ebenen und Rich­tungen erzählen?

Cronen­berg: Ganz ehrlich – es war, warum auch immer, eine meiner einfachsten ersten Dreh­buch­fas­sungen. Viel­leicht, weil ich unter keinerlei Druck stand. Ich habe da niemandem ein Skript geschuldet und hab es mehr oder minder zum Vergnügen geschrieben. Auch wenn der Entwick­lungs­pro­zess dann – mit Finan­zie­rung, weiteren Fassungen etc. – an die fünf, sechs Jahre gedauert hat... Zudem hatte ich den Stoff Jahre vorher, um 2014, 2013 rum, als Kurz­ge­schichte begonnen, aus der ich dann dieses Drehbuch entwi­ckelte. Insgesamt also war der Prozess sehr lang – aber die erste Fassung ging mir relativ schnell und einfach von der Hand. Ich weiß nicht genau warum. Viel­leicht steckte sie schon fertig in meinem Kopf, oder wie auch immer...

artechock: Es geht in dem Film auch um das Ego eines Autors. Wieviel davon ist Selbst­por­trät, eine Art Selbst-Satire, oder Exor­zismus eigener Erfahrung?

Cronen­berg: Ein gehöriges Bisschen, ja. Ich habe das Drehbuch zwischen meinem ersten und meinem zweiten Film geschrieben. Da gab es eine acht Jahre währende Lücke, in der ich die Finan­zie­rung für meinen zweiten Film nicht zusam­men­bekam, und wo ich jeden Tag aufs Neue am Versuch geschei­tert bin, einen Film zu machen. Drum... [Lacht] Wenn man jeden Tag aufwacht, nur um dann an der gleichen Sache zu scheitern, fängt man an, sich über sich selbst lustig zu machen. Da haben sich all meine Unsi­cher­heiten, Eitel­keiten und mein Selbst­hass als Autor in den Prot­ago­nisten James einge­schli­chen. In anderen Hinsichten ist er als Figur kein Alter Ego für mich – aber in dem einen Aspekt ist er’s durchaus, was, glaube ich, zu einem gewissen Grad nicht untypisch für Autoren ist. Viel­leicht kennen Sie das ja selber... [Lachen] Jeden­falls: Als jemand, der eine Sache geschaffen hatte, und dann keine zweite Sache hinbe­kommen hat... – davon hat sich etwas einge­schli­chen.

artechock: Aber auf eine erstaun­lich amüsante und selbst­re­flek­tierte Weise – im Vergleich zu vielen bier­ernsten, eitlen Filmen über die Schaf­fens­krisen von Künstlern...

Cronen­berg: Ja, keine Ahnung – viel­leicht muss ich einfach über mich selbst lachen. Ab einem gewissen Punkt ist es schlicht eine solch lächer­liche Ange­le­gen­heit, immer weiter mit dem Kopf stur gegen irgend­einen Prozess zu rennen. In solchen Situa­tionen ist meine instink­tive Reaktion Selbst­ironie.

artechock: Tradi­tio­nell – zurück­ge­hend mindes­tens bis zu den Roman­ti­kern und etwa Poes »William Wilson« – dienen Doppel­gänger als eine Quelle der Vers­törung, der Angst. In Infinity Pool aber wirken sie befreiend.

Cronen­berg: Bis zu einem gewissen Grad mag das wieder der Selbst­hass eines Schrei­bers sein. [Lacht] Die Sehnsucht danach, sich selbst zu zerstören und zu erleben, wie befrie­di­gend das wäre. Mag sein, dass James quasi ein Selbst-Sadist ist.
Aber in diesem Fall wirkt die Dopplung, aufgrund der Eigenheit des Justiz­sys­tems von La Tolqa, auch auf eine andere Weise befreiend. Da es die Figuren von den Beschrän­kungen konven­tio­neller Konse­quenzen erlöst.
Es geht hier nicht eigent­lich um Doppel­gänger im tradi­tio­nellen Sinn. Es gibt zwar einen Strang, wo man, wenn man mag, sich fragen kann, wer der echte James ist – aber das ist eigent­lich gar nicht wichtig. Es ist eher eine Art magisch-realis­ti­scher Mecha­nismus, der dazu dient, andere Dinge zu verhan­deln.

artechock: Die nächste Wendung ist dann, dass die Doppelung zwar befreiend ist – doch was sie freisetzt, sind nicht gerade die nobelsten Instinkte...

Cronen­berg: [Lacht] Meist treten die edleren Triebe der Menschen nicht durch diese Art von Befreiung zu Tage. In gewisser Weise sind es extrem gewöhn­liche Charak­tere in einem extrem gewöhn­li­chen Kontext, die extrem fies werden. Aber die Mensch­heits­ge­schichte ist voller normaler Leute, die die schreck­lichsten Dinge tun in einem Kontext, wo das plötzlich erlaubt oder ermutigt wird.
Ich glaube nicht, dass es eine essen­ti­elle mensch­liche Natur gibt, die gut oder böse ist – aber wir sind nunmal Tiere, und wir haben die Triebe von Tieren, und wir haben eine sehr lange Historie unglaub­lich schreck­li­chen Verhal­tens. Und auch wenn es durch Zivi­li­siert­heit verschleiert werden kann – irgendwo steckt das in uns drin.

artechock: Norma­ler­weise sind Splatter-Effekte im Genre-Kino dazu inten­diert, ausführ­lich gezeigt und bestaunt zu werden. Sie verwenden sie auf eine viel impres­sio­nis­ti­schere Weise...

Cronen­berg: Zum Teil liegt das daran, weil meine bishe­rigen Filme alle sehr subjek­tive Filme waren – soll heißen, dass jeder davon weit­ge­hendst der Erfahrung einer konkreten Figur folgt. Und diese Art impres­sio­nis­ti­scher Szenen – egal ob es um Gewalt geht, um Sex, oder um normale drama­ti­sche Szenen – rühren daher, dass ich gerne nach formalen Wegen suche, diese subjek­tive Erfahrung der Figuren wieder­zu­geben; auf eine Weise, die Teil der Film­sprache wird. Ich mag Makro-Einstel­lungen, weil sie eine Takti­lität haben, was wiederum zu der Subjek­ti­vität beiträgt: Den Dingen nahe­kommen, herum­hu­schen – all das, denke ich, ist dieser subjek­tive Modus. Bis zu einem gewissen Grad ist es aber auch die Folge davon, mit klas­si­schen Spezial- und Makeup-Effekten zu arbeiten. Man dreht einen bestimmten Effekt nur für diesen einen kurzen Moment, und er funk­tio­niert sehr gut in einer Art kurzem Einsprengsel. Aber er könnte nicht auf längere Dauer bestehen, weil man die Kamera nicht bewegen kann, weil da jemand direkt außerhalb des Bilds sitzt mit einer Pumpe und einem Schlauch... [Lacht] Für mich recht­fer­tigt das Ergebnis absolut diese Einschrän­kungen, weil ich finde, dass reale Effekte ein taktiles Gewicht haben, das für mich CGI-Blut einfach nie hinbe­kommt. Ich kann verstehen, warum manche Action-Filme­ma­cher sich [für Blut­spritzer] so sehr auf Compu­ter­ef­fekte verlassen, weil man da eine sehr lange Kampf­se­quenz im Stil etwa von John Wick insze­nieren kann. Mit CGI-Blut muss man da nicht schneiden, wenn man nicht möchte – und wenn es einem vor allem um die Stunt-Choreo­gra­phie geht, hat das klare Vorteile. Aber der Nachteil davon ist in meinen Augen, dass es einfach nicht so reinhaut, auf einer gewissen Ebene einfach nicht so befrie­di­gend wirkt.

artechock: Als Fan des Avant­garde-Ambient Musikers Tim Hecker muss ich fragen: Wie kam er als Film­kom­po­nist zu dem Projekt?

Cronen­berg: Mein Team und ich haben mögliche Namen für die Filmmusik gesammelt. So gern ich bei Possessor mit Jim Williams zusam­men­ge­ar­beitet habe – aufgrund der anderen Produk­ti­ons­kon­stel­la­tion musste es diesmal jemand aus Kanada sein. Uns kam die Idee: Oh, Tim Hecker! Ein unglaub­lich bril­lanter kana­di­scher Musiker! Wir alle lieben seine Arbeit. Kaum war sein Name gefallen, habe ich mitbe­kommen, dass einer meiner Cutter und meine Produk­ti­ons­leute von Possessor rein zufällig gerade erst mit ihm die Miniserie The North Water gemacht hatten. Und ich sie anspre­chen konnte.
Es war wirklich eine fantas­ti­sche Erfahrung. Freilich ist er ein groß­ar­tiger Künstler – aber auch äußerst bereit, sich als Film­kom­po­nist auf die Zusam­men­ar­beit einzu­lassen. Das ist ein sehr anderer Arbeits­modus für einen Kompo­nisten, weil es deutlich kolla­bo­ra­tiver ist, und weil man sich nach dem Bild richten muss.

artechock: Wie konkret waren Ihre Vorgaben an ihn – oder haben Sie ihn einfach machen lassen?

Cronen­berg: Wir hatten vorab eine Menge Gespräche. Und während wir im Schnitt waren, hat er sich schon an einige Roh-Kompo­si­tionen gemacht, mit verschie­denen Instru­men­ta­tionen expe­ri­men­tiert. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was funk­tio­niert. So konnten wir noch während des Schnitts seine ersten Musik­ent­würfe anlegen und schauen, was zum Film passte, und was der Film von sich wies. Mitunter waren seine ersten, noch blind kompo­nierten Entwürfe schon sehr nah am Endre­sultat. Den Track zur Orgie etwa hatte er vorab geschrieben, wir haben die Szene nach der Musik geschnitten, und er hat anschließend nur noch ein wenig fein­jus­tiert. In anderen Fällen waren es ausführ­li­chere Diskus­sionen, weil wir ihm den fertig geschnit­tenen Film geschickt hatten, und er nach dem Bild kompo­nierte. Ich hab ihm freilich nicht VORGESCHRIEBEN, was er zu tun hatte. [Lacht] Aber wir haben über gewisse Szenen gespro­chen, denn ihre Funktion im Gesamt­zu­sam­men­hang, im drama­tur­gi­schen Bogen des Films, und sie im Kontext und Verhältnis mit anderen Cues zu sehen, macht oft einen entschei­denden Unter­schied.

artechock: Mr. Cronen­berg, wir danken Ihnen vielmals für dieses Gespräch.