14.11.2013

»Die Leute kannten nicht nur die Toten, sondern auch deren Mörder«

Einem Mann wird ein Messer an die Kehle gehalten
Psychodrama-Praktiken: der Täter als Opfer

Christine Cynn über ihre Mitarbeit an The Act of Killing, neue Inszenierungsansätze und wie ein Dokumentarfilm nicht nur zum therapeutischen Instrument seiner Protagonisten, sondern eines ganzen Landes werden kann

Nach dem Mili­tär­putsch in Indo­ne­sien 1965 kam es in den Folge­mo­naten zur syste­ma­ti­schen Ermordung von über einer Million Regime­geg­nern, tatsäch­li­chen oder angeb­li­chen Kommu­nisten. Noch heute ist es nahezu unmöglich, Über­le­bende von damals zu befragen, zu groß ist die Angst vor Repres­sion und Verfol­gung. Joshua Oppen­heimer und Christine Cynn sprechen in ihrer eindrucks­vollen, wahn­sin­nigen z.T. kaum zu ertra­genden Doku­men­ta­tion mit einigen Tätern von damals; ehema­ligen, film­be­geis­terten Mitglie­dern einer Todes­schwa­dron, die in dieser Zeit im Kino­be­trieb als Karten­ab­reißer und Ticket­schwarz­mark­händler tätig waren.

Christine Cynn hat wie bereits in Oppen­hei­mers The Globa­li­sa­tion Tapes auch in The Act of Killing Co-Regie geführt; sie ist u.a. beim UK Arts and Huma­ni­ties Research Council ’s Genocide and Genre Project tätig.

Das Gespräch führte Axel Timo Purr.

artechock: Frau Cynn, The Act of Killing ist ein Film, der mehr als scho­ckiert, ein Film, der hinter­fragt, wo man selber stünde, würde die nächste Runde in despo­ti­scher Macht­ausü­bung eingeläutet, und der verun­si­chert, weil im Grunde keiner weiß, wo er stehen würde, ob er Opfer oder Täter ist oder „nur“ Zuschauer.

Christine Cynn: Ja, völlig richtig, der Film weist weit über diese lokale Beson­der­heit hinaus – wir in unseren gegen­wär­tigen west­li­chen Gesell­schaften können uns glücklich schätzen, dieser Entschei­dung nicht ausge­setzt zu sein.

artechock: Wie haben Sie ange­fangen, wie sind Sie auf diesen fast verges­senen Massen­mord gestoßen?

Cynn: Es hat eigent­lich schon 2001 ange­fangen, als wir in Indo­ne­sien für einen Film recher­chierten, der später als The Globa­li­sa­tion Tapes bekannt wurde. Wir haben sieben Monate dort verbracht, in einem Dorf gelebt und Plan­ta­gen­ar­beiter befragt. Eine der Fragen, die aufkam, drehte sich um die Gründung einer Gewerk­schaft, um die kata­stro­phalen Arbeits­ver­hält­nisse zu verbes­sern. Doch Gewerk­schaften, fanden wir schnell heraus, hatten keinen guten Ruf. Jeder kannte irgend­je­manden, der in den 1960ern wegen solchen Gedan­ken­guts getötet worden war. Auf breiter Ebene. Doch das war es nicht allein, die Leute kannten nicht nur die Toten, sondern auch ihre Mörder, meistens Nachbarn. Nur drei Häuser von hier lebt der und der und der habe den und den umge­bracht. Und das war dann eigent­lich auch das erste Mal, das wir begannen, mit den Tätern selbst zu sprechen.

artechock: Bevor wir zu Tätern übergehen, noch einmal zu den Opfern: da ja zum Teil Eltern, nahe Verwandte, Freunde getötet wurden und Sie mit ihren Nach­kommen sprachen – gab es dort so etwas wie Rache- und Vergel­tungs­sehn­süchte?

Cynn: Nein, dazu sind sie einfach zu lange unter­drückt gewesen. Denn es wurde ja sogar in den Ausweis­pa­pieren vermerkt, dass sie Fami­li­en­mit­glieder von hinge­rich­teten Kommu­nisten waren. Sie hatten schlech­tere Chancen in Schulen und an Ausbil­dungs­plätzen. Eine ganze lange Geschichte der Unter­drü­ckung, weshalb eigent­lich alle verängs­tigt schwiegen und sich zum Teil sogar für ihre Vergan­gen­heit schämten und schuldig fühlten. Sie wünschten sich natürlich irgendwie alle Aner­ken­nung, wussten auf der anderen Seite aber nicht einmal, wie und wo ihre Verwandten genau gestorben sind. Und das ist seit 48 Jahren so!

artechock: Könnten Gründe für dieses auto­ag­gres­sive Verhalten auch in der indo­ne­si­schen Geschichte zu finden sein, die ja seit der hollän­di­schen Besatzung auch immer eine der Unter­drü­ckung gewesen ist?

Cynn: Nein, ich glaube nicht. Das hier ist wirklich eine eigene Geschichte, die damals mit para­mi­li­täri­schen Orga­ni­sa­tionen eingeläutet wurde und auch heute noch durch ebendiese Orga­ni­sa­tionen verwaltet wird. Mit Terror, Unter­drü­ckung und einem Mili­tär­budget, das seines­glei­chen sucht, das umso gefähr­li­cher ist, als es im Grunde keine äußeren Feinde gibt, sich also ganz auf den Kampf von »inneren« Feinden konzen­triert werden kann. Erst in den letzten Jahren hat sich das ein wenig geändert, rela­ti­viert, gibt es auch zarte, kritische Stimmen, initia­li­siert durch die asia­ti­sche Wirt­schafts­krise 1998, als es überhaupt erstmals Proteste gegen die Regierung gab und tatsäch­lich Wahlen statt­fanden. Zwar mit massivem Korrup­ti­ons­po­ten­tial und einem Militär, das ähnlich wie in Ägypten im Grunde eine eigene Schat­ten­wirt­schaft betreibt. Aber man kann dennoch von einer Trans­for­ma­tion der Gesell­schaft sprechen.

artechock: Diese Grund­si­tua­tion hat es Ihnen natürlich sicher leicht gemacht, die früheren Täter zu kontak­tieren...

Cynn: Ganz genau, denn sie haben ja tatsäch­lich nichts zu verbergen.

artechock: In etwa so, als würden die Deutschen den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben und Hitler und Himmler und alle Unter­stellten in einem offenen Diskurs erklären, warum es wichtig und richtig gewesen ist, die Juden zu vernichten.

Cynn: So in etwa. Es war sicher­lich nicht das erste Mal, dass sie darüber geredet haben. Und dann half uns natürlich, dass wir Ameri­kaner waren, von denen auch heute noch ganz klar geglaubt wird, dass sie ausnahmslos anti­kom­mu­nis­tisch sind. Auch wir, unser Filmteam. Und natürlich ließen wir sie in dem Glauben. Auch, als wir schließ­lich – nachdem wir die Globa­li­sa­tion Tapes, eine Auftrags­ar­beit, fertig­ge­stellt hatten – wieder nach Indo­ne­sien zurück­kehrten, um uns dieser Arbeit zuzu­wenden. Das war ab 2003. Wir sprachen mit den Mördern, die uns wiederum zu anderen Tätern weiter­reichten und so ging es schließ­lich auch in den Hier­ar­chien immer weiter nach oben. Bis wir dann schließ­lich bei unseren Haupt­prot­ago­nisten landeten, die uns vor der Kamera explizit erklärten, wie sie getötet haben.

artechock: Aber das ist ja nicht alles. Ihre Porträ­tierten ziehen ja irgend­wann sogar Statisten hinzu und bewegen sich fast in einem psycho­dra­ma­ti­schen Kontext, in dem auch sichtbar die eigenen (Täter-)Traumata bewältigt werden. War das Ihre Idee, diese psycho­dra­ma­ti­schen Elemente zu inte­grieren?

Cynn: Wir haben ganz konven­tio­nell begonnen, mit Fragen, Antworten. Mit diesen Demons­tra­tionen von Tötungen. Aber als wir Anwar Congo dann zum ersten Mal unser Film­ma­te­rial zeigten, wurde uns klar, dass er mehr wollte, dass er schon damals während der Morde ein Schau­spieler sein, in Filmen mitspielen wollte. Er erklärt ja auch immer wieder in seinen Ausfüh­rungen zu den Tötungen, dass er und seine Freunde versucht hätten Tötungs­me­cha­nismen aus Holly­wood­filmen zu über­nehmen, die aber alle nicht taugten, weil sie zuviel Nach­ar­beit erfor­derten, es ganz simpel zu viel Blut gab, dass wegge­wischt werden musste, weshalb sie dann auf ihre Methode mit dem Drahtseil kamen. Als sich Congo dann also auf unserem Film­ma­te­rial sah, sagte er, dass das nicht genug, weil zu wenig realis­tisch sei, dass er anders gekleidet sein, besser nach­ge­spielt werden müsse. Das kam uns natürlich entgegen, denn zusammen mit Joshua Oppen­heimer versuchen wir ja seit Jahren einen alter­na­tiven Weg der Doku­men­ta­tion zu finden. Denn diese Versuche, die Kamera zu verste­cken, sind im Grunde absurd, denn es ist ja erst die Kamera, die die eigent­liche Insze­nie­rung, das »Spiel« erschafft. Selbst der Inter­viewte weiß in dem Moment, in dem er gefilmt wird, dass sich seine Situation damit verändert, was wiederum ihn verändert. Und genau damit wollten wir arbeiten. Als wir die Mörder­ge­schichten hörten, waren wir nicht nur der Sache wegen scho­ckiert, sondern auch weil wir nicht wussten, was sie uns eigent­lich damit erzählen wollten. Und wie sie tatsäch­lich selbst dazu standen, was sie genau fühlten. All das ließ uns den Vorschlag von Congo und seinen Freunden – den Genozid noch einmal „nach­zu­spielen“ – plausibel, wichtig erscheinen, ein Chance etwas zu erreichen, was mit normalen Doku­men­ta­ti­ons­me­thoden einfach nicht möglich ist. Die einzige Einschrän­kung, die wir ihnen aufer­legten, war das Thema. Sie sollten nicht irgendwas spielen, um ihre schau­spie­le­ri­sche Sehnsucht auszu­leben, sondern sich genau auf dieses Thema konzen­trieren.

artechock: Trifft die „Selbst­in­sze­nie­rung“ auch auf die bizarren Szenen mit dem Fisch und dem Wasser­fall zu?

Cynn: Ja, auch das war Anwars Idee – er hatte einfach eine tiefe Sehnsucht, gereinigt zu werden und von seinen Opfern Vergebung zu erlangen, denn trotz gesell­schaft­li­cher Sank­tio­nie­rung, geht es den Tätern ja nicht gut. Sie sind von Alpträumen und Zweifeln geplagt. Und nicht nur diese Szenen zeigen den schmalen Grad zwischen Darstel­lung und Wirk­lich­keit, Doku­men­ta­tion und Spielfilm.

artechock: Das sehe ich auch so. Vor allem bei den Szenen, wo Anwar scheinbar sichtlich erschüt­tert sich fragt, ob seine Opfer wirklich so gefühlt haben wie er sich gerade als gespieltes Opfer fühlt und Joshua aus dem Off sagt: »Sicher­lich noch schlimmer, denn sie wussten, dass es kein Spiel, sondern ihr Ende war.« Aber nicht nur das, auch die Szenen am Schluss, wo Anwar Congo sich scheinbar in einer wirk­li­chen thera­peu­ti­schen Katharsis befindet – ist das gespielt gewesen, oder haben sie den Eindruck gehabt, dass Anwar tatsäch­lich eine Entwick­lung durch­laufen hat? Er also tatsäch­lich verstanden hat, was er getan hat?

Cynn: Natürlich bin ich nicht Anwar, aber ich habe das Gefühl, dass er nach einem Leben voller Wider­sprüche, in einer fast schi­zo­iden Persön­lich­keits­struktur gefangen, sich im Grunde wie jeder nach Heilung, nach Verei­ni­gung seiner zerris­senen Teile sehnt. Allein wenn man sein arro­gantes Auftreten in der Anfangs­szene betrachtet und irgend­wann seine Idee, selbst eines seine Opfer zu spielen und dann das Ende, das deutet für mich schon auf so etwas wie einen Heilungs­pro­zess und damit Erkennt­nis­ge­winn hin. Er hat zwar seine Sicht­weise gegenüber den Gründen für das Morden nicht geändert, aber erstmals Empathie für seine Opfer entwi­ckelt und dies auch erstmals vor seinen Freunden arti­ku­lieren können.

artechock: Hat sich, so wie Anwar seine Sicht gegenüber seinen Opfern verändert hat, auch Ihre Sicht­weise gegenüber Anwar verändert?

Cynn: In gewisser Weise schon. Ich kann ihm auf keinen Fall für das, was er getan hat, vergeben, aber möglich ist so etwas wie Mitgefühl, ein Verstehen dafür, zu was mensch­liche Wesen fähig sind und welche Höllen­qualen sie durch­leiden müssen, selbst als Täter.

artechock: Wie wurde der Film in Indo­ne­sien aufge­nommen?

Cynn: Wir haben zum 48. Jahres­tags des Genozids – der technisch gesehen eigent­lich keiner ist, weil es keine rein ethnische Säuberung war, sondern nur eine partielle, da ja »immerhin« die chine­si­sche Minder­heit mit invol­viert war – wir haben als zum Jahrestag ermög­licht, dass sich jeder Indo­ne­sier den Film kostenlos herun­ter­laden kann. Es gab Film­vor­füh­rungen im Land, in den großen Städten, an Univer­si­täten, landes­weit. Um die Zensur zu umgehen, mussten wir auf einen klas­si­schen Film­ver­leih verzichten und auf soge­nannte „private“ Auffüh­rungen auswei­chen, im kleinen Rahmen und ohne Eintritts­gelder zu erheben. Leute konnten sich den Film auch „ausleihen“ und selbst Auffüh­rungen orga­ni­sieren. Die Reak­tionen waren bis auf einige para­mi­li­täri­sche Gegen­re­ak­tionen über­wie­gend positiv, es gab landes­weite Diskurse in der Presse und immer wieder hitzige Diskus­sionen.

artechock: Haben Sie selbst an einer der Auffüh­rungen teil­nehmen können?

Cynn: Nein, leider nicht, es ist nach dem Film nicht wirklich sicher für mich, nach Indo­ne­sien zurück­zu­kehren. Auch aus diesem Grund haben wir die Namen unserer indo­ne­si­schen Mitar­beiter im Abspann nicht genannt. Gleich­wohl gab es aus Regie­rungs­kreisen eigent­lich nur verein­zelte Kritik, die das übliche Schema bediente: die, die den Film zeigen, seien genau dieje­nigen, die man damals habe besei­tigen müssen. Aber wie schon gesagt, das war nur verein­zelt so, nicht der Grund­tenor.

artechock: Ist sich Anwar neben der erwart­baren parti­ellen natio­nalen Kritik bewusst gewesen, welche Reak­tionen dieser Film außerhalb seines Kultur­raums auslösen würde?

Cynn: Er hat den Film gesehen und obwohl ihm sicher­lich klar war, dass es nicht der glamouröse Helden­streifen geworden ist, nach dem er sich immer gesehnt hat, war er durchaus berührt davon und hat verstanden. In einem Al Jazeera-Beitrag wird Anwars Reaktion und die anderer Betrof­fener sehr gut nach­voll­ziehbar darge­stellt.

artechock: Er fühlte sich also nicht betrogen oder ausge­nutzt?

Cynn: Zumindest hat er das niemals gesagt, auch nach den empörten Reak­tionen nicht. Genauso wenig, wie er letzt­end­lich wirkliche Reue bezüglich der Morde gezeigt hat. Es ist für ihn viel­leicht weniger ein Film mit Aussage, als eine Anein­an­der­rei­hung von Erin­ne­rungen. Und letztlich ist es auch das, was ausschlag­ge­bend für die Indo­ne­sier ist. Es hat einen Erin­ne­rungs­pro­zess in Ganz gesetzt. Das größte Magazin im Land, etwa dem Time Magazin in den USA vergleichbar, hat eine Spezial-Ausgabe zu den 1965er Massen­morden gebracht. Und damit natürlich auch einen Diskurs ausgelöst. Erstmals fühlen sich die Opfer „anerkannt“, dürfen sie die Massen­gräber besuchen ohne Angst haben zu müssen, dafür belangt zu werden. Gleich­zeitig entsteht in der Bevöl­ke­rung ein Gespür dafür, wie man jahr­zehn­te­lang einer medialen Indok­tri­na­tion aufge­sessen hat. Und das ist eine Erkenntnis, die weit über den indo­ne­si­schen Raum hinaus­geht, die für alle Gesell­schaften gilt.