»Die Leute kannten nicht nur die Toten, sondern auch deren Mörder« |
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Psychodrama-Praktiken: der Täter als Opfer |
Nach dem Militärputsch in Indonesien 1965 kam es in den Folgemonaten zur systematischen Ermordung von über einer Million Regimegegnern, tatsächlichen oder angeblichen Kommunisten. Noch heute ist es nahezu unmöglich, Überlebende von damals zu befragen, zu groß ist die Angst vor Repression und Verfolgung. Joshua Oppenheimer und Christine Cynn sprechen in ihrer eindrucksvollen, wahnsinnigen z.T. kaum zu ertragenden Dokumentation mit einigen Tätern von damals; ehemaligen, filmbegeisterten Mitgliedern einer Todesschwadron, die in dieser Zeit im Kinobetrieb als Kartenabreißer und Ticketschwarzmarkhändler tätig waren.
Christine Cynn hat wie bereits in Oppenheimers The Globalisation Tapes auch in The Act of Killing Co-Regie geführt; sie ist u.a. beim UK Arts and Humanities Research Council ’s Genocide and Genre Project tätig.
Das Gespräch führte Axel Timo Purr.
artechock: Frau Cynn, The Act of Killing ist ein Film, der mehr als schockiert, ein Film, der hinterfragt, wo man selber stünde, würde die nächste Runde in despotischer Machtausübung eingeläutet, und der verunsichert, weil im Grunde keiner weiß, wo er stehen würde, ob er Opfer oder Täter ist oder „nur“ Zuschauer.
Christine Cynn: Ja, völlig richtig, der Film weist weit über diese lokale Besonderheit hinaus – wir in unseren gegenwärtigen westlichen Gesellschaften können uns glücklich schätzen, dieser Entscheidung nicht ausgesetzt zu sein.
artechock: Wie haben Sie angefangen, wie sind Sie auf diesen fast vergessenen Massenmord gestoßen?
Cynn: Es hat eigentlich schon 2001 angefangen, als wir in Indonesien für einen Film recherchierten, der später als The Globalisation Tapes bekannt wurde. Wir haben sieben Monate dort verbracht, in einem Dorf gelebt und Plantagenarbeiter befragt. Eine der Fragen, die aufkam, drehte sich um die Gründung einer Gewerkschaft, um die katastrophalen Arbeitsverhältnisse zu verbessern. Doch Gewerkschaften, fanden wir schnell heraus, hatten keinen guten Ruf. Jeder kannte irgendjemanden, der in den 1960ern wegen solchen Gedankenguts getötet worden war. Auf breiter Ebene. Doch das war es nicht allein, die Leute kannten nicht nur die Toten, sondern auch ihre Mörder, meistens Nachbarn. Nur drei Häuser von hier lebt der und der und der habe den und den umgebracht. Und das war dann eigentlich auch das erste Mal, das wir begannen, mit den Tätern selbst zu sprechen.
artechock: Bevor wir zu Tätern übergehen, noch einmal zu den Opfern: da ja zum Teil Eltern, nahe Verwandte, Freunde getötet wurden und Sie mit ihren Nachkommen sprachen – gab es dort so etwas wie Rache- und Vergeltungssehnsüchte?
Cynn: Nein, dazu sind sie einfach zu lange unterdrückt gewesen. Denn es wurde ja sogar in den Ausweispapieren vermerkt, dass sie Familienmitglieder von hingerichteten Kommunisten waren. Sie hatten schlechtere Chancen in Schulen und an Ausbildungsplätzen. Eine ganze lange Geschichte der Unterdrückung, weshalb eigentlich alle verängstigt schwiegen und sich zum Teil sogar für ihre Vergangenheit schämten und schuldig fühlten. Sie wünschten sich natürlich irgendwie alle Anerkennung, wussten auf der anderen Seite aber nicht einmal, wie und wo ihre Verwandten genau gestorben sind. Und das ist seit 48 Jahren so!
artechock: Könnten Gründe für dieses autoaggressive Verhalten auch in der indonesischen Geschichte zu finden sein, die ja seit der holländischen Besatzung auch immer eine der Unterdrückung gewesen ist?
Cynn: Nein, ich glaube nicht. Das hier ist wirklich eine eigene Geschichte, die damals mit paramilitärischen Organisationen eingeläutet wurde und auch heute noch durch ebendiese Organisationen verwaltet wird. Mit Terror, Unterdrückung und einem Militärbudget, das seinesgleichen sucht, das umso gefährlicher ist, als es im Grunde keine äußeren Feinde gibt, sich also ganz auf den Kampf von »inneren« Feinden konzentriert werden kann. Erst in den letzten Jahren hat sich das ein wenig geändert, relativiert, gibt es auch zarte, kritische Stimmen, initialisiert durch die asiatische Wirtschaftskrise 1998, als es überhaupt erstmals Proteste gegen die Regierung gab und tatsächlich Wahlen stattfanden. Zwar mit massivem Korruptionspotential und einem Militär, das ähnlich wie in Ägypten im Grunde eine eigene Schattenwirtschaft betreibt. Aber man kann dennoch von einer Transformation der Gesellschaft sprechen.
artechock: Diese Grundsituation hat es Ihnen natürlich sicher leicht gemacht, die früheren Täter zu kontaktieren...
Cynn: Ganz genau, denn sie haben ja tatsächlich nichts zu verbergen.
artechock: In etwa so, als würden die Deutschen den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben und Hitler und Himmler und alle Unterstellten in einem offenen Diskurs erklären, warum es wichtig und richtig gewesen ist, die Juden zu vernichten.
Cynn: So in etwa. Es war sicherlich nicht das erste Mal, dass sie darüber geredet haben. Und dann half uns natürlich, dass wir Amerikaner waren, von denen auch heute noch ganz klar geglaubt wird, dass sie ausnahmslos antikommunistisch sind. Auch wir, unser Filmteam. Und natürlich ließen wir sie in dem Glauben. Auch, als wir schließlich – nachdem wir die Globalisation Tapes, eine Auftragsarbeit, fertiggestellt hatten – wieder nach Indonesien zurückkehrten, um uns dieser Arbeit zuzuwenden. Das war ab 2003. Wir sprachen mit den Mördern, die uns wiederum zu anderen Tätern weiterreichten und so ging es schließlich auch in den Hierarchien immer weiter nach oben. Bis wir dann schließlich bei unseren Hauptprotagonisten landeten, die uns vor der Kamera explizit erklärten, wie sie getötet haben.
artechock: Aber das ist ja nicht alles. Ihre Porträtierten ziehen ja irgendwann sogar Statisten hinzu und bewegen sich fast in einem psychodramatischen Kontext, in dem auch sichtbar die eigenen (Täter-)Traumata bewältigt werden. War das Ihre Idee, diese psychodramatischen Elemente zu integrieren?
Cynn: Wir haben ganz konventionell begonnen, mit Fragen, Antworten. Mit diesen Demonstrationen von Tötungen. Aber als wir Anwar Congo dann zum ersten Mal unser Filmmaterial zeigten, wurde uns klar, dass er mehr wollte, dass er schon damals während der Morde ein Schauspieler sein, in Filmen mitspielen wollte. Er erklärt ja auch immer wieder in seinen Ausführungen zu den Tötungen, dass er und seine Freunde versucht hätten Tötungsmechanismen aus Hollywoodfilmen zu übernehmen, die aber alle nicht taugten, weil sie zuviel Nacharbeit erforderten, es ganz simpel zu viel Blut gab, dass weggewischt werden musste, weshalb sie dann auf ihre Methode mit dem Drahtseil kamen. Als sich Congo dann also auf unserem Filmmaterial sah, sagte er, dass das nicht genug, weil zu wenig realistisch sei, dass er anders gekleidet sein, besser nachgespielt werden müsse. Das kam uns natürlich entgegen, denn zusammen mit Joshua Oppenheimer versuchen wir ja seit Jahren einen alternativen Weg der Dokumentation zu finden. Denn diese Versuche, die Kamera zu verstecken, sind im Grunde absurd, denn es ist ja erst die Kamera, die die eigentliche Inszenierung, das »Spiel« erschafft. Selbst der Interviewte weiß in dem Moment, in dem er gefilmt wird, dass sich seine Situation damit verändert, was wiederum ihn verändert. Und genau damit wollten wir arbeiten. Als wir die Mördergeschichten hörten, waren wir nicht nur der Sache wegen schockiert, sondern auch weil wir nicht wussten, was sie uns eigentlich damit erzählen wollten. Und wie sie tatsächlich selbst dazu standen, was sie genau fühlten. All das ließ uns den Vorschlag von Congo und seinen Freunden – den Genozid noch einmal „nachzuspielen“ – plausibel, wichtig erscheinen, ein Chance etwas zu erreichen, was mit normalen Dokumentationsmethoden einfach nicht möglich ist. Die einzige Einschränkung, die wir ihnen auferlegten, war das Thema. Sie sollten nicht irgendwas spielen, um ihre schauspielerische Sehnsucht auszuleben, sondern sich genau auf dieses Thema konzentrieren.
artechock: Trifft die „Selbstinszenierung“ auch auf die bizarren Szenen mit dem Fisch und dem Wasserfall zu?
Cynn: Ja, auch das war Anwars Idee – er hatte einfach eine tiefe Sehnsucht, gereinigt zu werden und von seinen Opfern Vergebung zu erlangen, denn trotz gesellschaftlicher Sanktionierung, geht es den Tätern ja nicht gut. Sie sind von Alpträumen und Zweifeln geplagt. Und nicht nur diese Szenen zeigen den schmalen Grad zwischen Darstellung und Wirklichkeit, Dokumentation und Spielfilm.
artechock: Das sehe ich auch so. Vor allem bei den Szenen, wo Anwar scheinbar sichtlich erschüttert sich fragt, ob seine Opfer wirklich so gefühlt haben wie er sich gerade als gespieltes Opfer fühlt und Joshua aus dem Off sagt: »Sicherlich noch schlimmer, denn sie wussten, dass es kein Spiel, sondern ihr Ende war.« Aber nicht nur das, auch die Szenen am Schluss, wo Anwar Congo sich scheinbar in einer wirklichen therapeutischen Katharsis befindet – ist das gespielt gewesen, oder haben sie den Eindruck gehabt, dass Anwar tatsächlich eine Entwicklung durchlaufen hat? Er also tatsächlich verstanden hat, was er getan hat?
Cynn: Natürlich bin ich nicht Anwar, aber ich habe das Gefühl, dass er nach einem Leben voller Widersprüche, in einer fast schizoiden Persönlichkeitsstruktur gefangen, sich im Grunde wie jeder nach Heilung, nach Vereinigung seiner zerrissenen Teile sehnt. Allein wenn man sein arrogantes Auftreten in der Anfangsszene betrachtet und irgendwann seine Idee, selbst eines seine Opfer zu spielen und dann das Ende, das deutet für mich schon auf so etwas wie einen Heilungsprozess und damit Erkenntnisgewinn hin. Er hat zwar seine Sichtweise gegenüber den Gründen für das Morden nicht geändert, aber erstmals Empathie für seine Opfer entwickelt und dies auch erstmals vor seinen Freunden artikulieren können.
artechock: Hat sich, so wie Anwar seine Sicht gegenüber seinen Opfern verändert hat, auch Ihre Sichtweise gegenüber Anwar verändert?
Cynn: In gewisser Weise schon. Ich kann ihm auf keinen Fall für das, was er getan hat, vergeben, aber möglich ist so etwas wie Mitgefühl, ein Verstehen dafür, zu was menschliche Wesen fähig sind und welche Höllenqualen sie durchleiden müssen, selbst als Täter.
artechock: Wie wurde der Film in Indonesien aufgenommen?
Cynn: Wir haben zum 48. Jahrestags des Genozids – der technisch gesehen eigentlich keiner ist, weil es keine rein ethnische Säuberung war, sondern nur eine partielle, da ja »immerhin« die chinesische Minderheit mit involviert war – wir haben als zum Jahrestag ermöglicht, dass sich jeder Indonesier den Film kostenlos herunterladen kann. Es gab Filmvorführungen im Land, in den großen Städten, an Universitäten, landesweit. Um die Zensur zu umgehen, mussten wir auf einen klassischen Filmverleih verzichten und auf sogenannte „private“ Aufführungen ausweichen, im kleinen Rahmen und ohne Eintrittsgelder zu erheben. Leute konnten sich den Film auch „ausleihen“ und selbst Aufführungen organisieren. Die Reaktionen waren bis auf einige paramilitärische Gegenreaktionen überwiegend positiv, es gab landesweite Diskurse in der Presse und immer wieder hitzige Diskussionen.
artechock: Haben Sie selbst an einer der Aufführungen teilnehmen können?
Cynn: Nein, leider nicht, es ist nach dem Film nicht wirklich sicher für mich, nach Indonesien zurückzukehren. Auch aus diesem Grund haben wir die Namen unserer indonesischen Mitarbeiter im Abspann nicht genannt. Gleichwohl gab es aus Regierungskreisen eigentlich nur vereinzelte Kritik, die das übliche Schema bediente: die, die den Film zeigen, seien genau diejenigen, die man damals habe beseitigen müssen. Aber wie schon gesagt, das war nur vereinzelt so, nicht der Grundtenor.
artechock: Ist sich Anwar neben der erwartbaren partiellen nationalen Kritik bewusst gewesen, welche Reaktionen dieser Film außerhalb seines Kulturraums auslösen würde?
Cynn: Er hat den Film gesehen und obwohl ihm sicherlich klar war, dass es nicht der glamouröse Heldenstreifen geworden ist, nach dem er sich immer gesehnt hat, war er durchaus berührt davon und hat verstanden. In einem Al Jazeera-Beitrag wird Anwars Reaktion und die anderer Betroffener sehr gut nachvollziehbar dargestellt.
artechock: Er fühlte sich also nicht betrogen oder ausgenutzt?
Cynn: Zumindest hat er das niemals gesagt, auch nach den empörten Reaktionen nicht. Genauso wenig, wie er letztendlich wirkliche Reue bezüglich der Morde gezeigt hat. Es ist für ihn vielleicht weniger ein Film mit Aussage, als eine Aneinanderreihung von Erinnerungen. Und letztlich ist es auch das, was ausschlaggebend für die Indonesier ist. Es hat einen Erinnerungsprozess in Ganz gesetzt. Das größte Magazin im Land, etwa dem Time Magazin in den USA vergleichbar, hat eine Spezial-Ausgabe zu den 1965er Massenmorden gebracht. Und damit natürlich auch einen Diskurs ausgelöst. Erstmals fühlen sich die Opfer „anerkannt“, dürfen sie die Massengräber besuchen ohne Angst haben zu müssen, dafür belangt zu werden. Gleichzeitig entsteht in der Bevölkerung ein Gespür dafür, wie man jahrzehntelang einer medialen Indoktrination aufgesessen hat. Und das ist eine Erkenntnis, die weit über den indonesischen Raum hinausgeht, die für alle Gesellschaften gilt.