»Ist da Leben drin?« |
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Jean-Pierre und Luc Dardenne |
Nach dem zweimaligen Gewinn der Goldenen Palme von Cannes – 1999 für Rosetta und 2005 für L’enfant – gehören die wallonischen Brüder Jean-Pierre (geb. 1951) und Luc Dardenne (geb. 1954) zu den erfolgreichsten Gegenwartsregisseuren. In den 70er Jahren begannen die Brüder, die bisher immer zusammen gearbeitet haben, mit sozial stark engagierten Dokumentarfilmen, die im Umkreis der seinerzeit aufkommenden Videobewegung entstanden. Ihre Portraits normaler Arbeiter, freier Radiosender, der Schicksale von Emigranten oder des antifaschistischen Widerstands in Belgien wurden berühmt. 1975 gründeten sie in Lüttich ihre Firma „Dérives“, die mehr als 60 Dokumentarfilme produzierte. 1987 drehten sie ihren ersten Spielfilm, Falsch nach dem Theaterstück von René Kalisky.
Die Dardennes bekennen sich dezidiert zur „Ablehnung des Ästhetizismus“. Sie arbeiten meist mit unbekannten Darstellern oder Laien, mit Handkamera, in dokumentarischem Stil – weswegen ihre Filme nicht nur dem britischen „Free Cinema“, sondern auch jenen der dänischen Dogma-Bewegung ähneln, ohne sich an deren strenges Regelwerk zu halten. Mag alles auch spontan wirken, ist doch vieles genau geplant, ähnlich wie bei den Filmen Robert Bressons liegt dem Anschein des Naturalismus Künstlichkeit zugrunde. Und viel Geduld: Bis zu 60 Mal werden einzelne Szenen gedreht.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Ihr Film entdeckt das Mobiltelefon als wichtigstes Handwerkszeug des Kleinkriminellen. Wie hat das Handy die Welt der Kleinkriminellen verändert – und wie hat es das Kino verändert? Diese Geschichte hätten sie früher zumindest ganz anders erzählen müssen…
Jean-Pierre Dardenne: Ich denke das kam aus der Beobachtung dieser Leute. Ist Ihnen schon aufgefallen, wie wer auf der Straße immer die neuesten Handys hat, und fortwährend telefoniert? Je ärmer, um so bedeutender ist das Handy. Wie Sie selbst sagen, macht es die Arbeit schneller, beschleunigt die Kommunikation. In diesem Fall die Drogendeals. Ich kenne übrigens einen, der konnte durch sein Handy seine Unschuld beweisen.
Luc Dardenne: Als Filmemacher gibt einem mehr Möglichkeiten. Es gibt den Charakteren mehr Mobilität und Bewegungsfreiheit. Sonst hätten wir immer irgendwie erzählen müssen, wie unsere Hauptfigur eine Telefonzelle findet. Und auf dem Land gibt es kaum Telefonzellen.
artechock: Woher kennen Sie solche Typen wie Bruno? Warum sind die Ihnen so vertraut, ihre Nöte, ihr Alltag, ihr soziales Milieu?
Jean-Pierre Dardenne: Das Wichtigste ist doch: Sie sind doch Menschen wie alle anderen auch. Sie teilen zum größten Teil die gemeinsamen menschlichen Dinge: Sie essen, trinken, lieben, schlafen. Sie haben Gefühle, sie haben Angst – wie wir. Sie sind für uns keine sozialen »Fälle«, keine Karikaturen, keine Objekte, sondern Individuen.
Als solche interessieren sie uns als Regisseure. Was passiert, ist dass man Gefühle für Bruno entwickelt, und dass jedes menschliche Wesen an seinem Abenteuer Anteil nehmen kann. und wenn man sich mit offenen Augen umschaut, wird man solche Leute überall treffen. Als wir jung waren, haben sie uns fasziniert, weil sie so viel freier schienen, als wir es sind.
Zudem haben wir früher als Dokumentarfilmer sehr viele Leute portraitiert, die ein bisschen wie Bruno sind, die am Abgrund stehen – auch wenn ihre Situation nicht mehr ganz die gleiche ist, kann man sich dadurch sehr viel vorstellen.
artechock: Wenn wir Bruno sehen, dann sehen wir eine Lebensweise, die viele Kinogänger nicht kennen. Was ist das Lebensgefühl, was ist die Haltung, die dieses Leben prägt und dominiert? Ist das Angst? Ist es Aggression? Man kann auch an die Leute erinnern, die im Zentrum der derzeitigen Unruhen in Frankreich, oder der Ereignisse in New Orleans stehen…
Luc Dardenne: Müdigkeit. Das ist ein sehr sehr ermüdendes Leben. Ich glaube denen, die in Frankreich revoltieren, geht es um anderes, als Bruno. Bruno ist einer, der nicht in die Gesellschaft zurück möchte. Er hat bereits akzeptiert, dass er kein Teil mehr von ihr ist. Darum würde er auch nicht gegen irgendetwas protestieren, sich nicht mit Polizisten prügeln. Er würde auch kein Benzin kaufen, um Autos anzuzünden. Vielleicht einmal, um etwas Spaß zu haben. Aber er will nichts von der Gesellschaft.
Er lebt draußen. Er macht seine Geschäfte draußen. Er landet im Inneren der Marginalität. Er ist ein kleiner Gangster. Aber er hat es akzeptiert, draußen zu sein. Und es macht ihm Spaß, auf eine gewisse Weise, zu sein, wo er ist. Aber es ist natürlich doppelbödiger: Er sagt, er will keine Arbeit, weil er weiß: Das Geld wird ihm weggenommen, um seine Schulden abzuzahlen. Aber natürlich sagt er das vielleicht auch nur, weil er weiß, dass er sowieso keine Arbeit bekommt.
Er ist auch ziemlich frei – ein bisschen wie ein Freibeuter, ein Schmuggler. Er hat Geld, er kann machen, was er will – das stimmt, und ist zugleich eine große Illusion. Er ist wie einer, der im Untergrund lebt. Das ist eine Person, die man, selbst, wenn man verdammt, was sie tut, doch auch gleichzeitig faszinierend findet.
artechock: Wie würden Sie Ihre Haltung als Filmemacher ihrem Gegenstand, ihrer Geschichte, ihren Figuren gegenüber beschreiben? Man hat ihr Kino moralisch genannt, es ist natürlich auch politisch. Ist Ihre Haltung humanistisch?
Jean-Pierre Dardenne: Sie ist cineastisch, ganz einfach!
Luc Dardenne: [lacht] Ich verstehe, dass man Etiketten braucht, aber…
artechock: Mir geht es nicht um Etiketten. Mir geht es darum, Ihre Haltung kennenzulernen. Was treibt Sie an? Sie definieren Sie sich?
Jean-Pierre Dardenne: Ich definiere gar nicht. Weil ich auf den Spuren menschlicher Wesen gehe, die sich schnell allen Definitionen verschließen. Und die Angst haben, definiert zu werden. Das ist irrational, aber so ist es. Mein Bruder hat da einen ganz anderen Blickwinkel. Aber meiner Meinung nach versuchen wir, menschliche Geschichten zu erzählen. Von Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, und die man in der Regel nicht sieht – außer, wenn sie einmal kurz laut ihre Stimme erheben. Und plötzlich gibt es Panik. Wir versuchen, für sie Bilder zu finden, und sie in unseren Geschichten zum Leben zu bringen. Aber so, dass Menschen, die nicht am Rand der Gesellschaft leben, Anteil nehmen können, sie als ganze Menschen erkennen. Wir versuchen, so zu erzählen, dass der Zuschauer auch das versteht, was man nicht filmen kann. Das ist die innere Spur.
Wir tun das mit Gesten, Haltungen, Bildern, Objekten – aber kaum über den Dialog. Es gibt nicht viel Dialoge bei uns. Wir geben den Figuren auch Zeit, nichts zu tun.
Wir versuchen, dem Zuschauer Zeit zu geben, selbst eine Haltung einzunehmen, und während des Films seinen Platz zu finden. Voila, das sage ich! [Zu seinem Bruder gewand] Und Du?
Luc Dardenne: [Lacht] In Japan fand man uns sehr buddhistisch und sehr Zen. Man hat uns gefragt: »Woher kennen Sie den Zen-Buddhismus so gut?« Wir haben keine Ahnung davon. Seitdem nennen wir uns Zen-Cineasten. [Lacht]
Ich möchte sagen: Was wir versuchen, zu machen, ist das Leben zu finden. Wir fragen uns immer – wenn wir schreiben, wenn wir drehen -: Ist da Leben drin? Das ist es, was mich wirklich interessiert. Mehr als Charaktere und Figuren, möchte ich Personen filmen, Personen, die existieren, die wirklich da sind, und die leben. Deren Lebenswillen man spürt. In Japan hat man uns auch auf die dortige hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen angesprochen, und erstaunt gesagt: Ihre Figuren wollen leben. Ja, das versuchen wir. Bruno hat einen starken Lebenswillen. Er verändert sich, aber es sind die Umstände, die ihn verändern. Der Lebenswille bleibt gleich. Ich glaube, das ist es immer wieder, was wir versuchen – auch Rosetta, auch Olivier in Le fils sind so. Das Leben muss in ihnen pulsieren.
artechock: Sie haben 2005 schon zum zweiten Mal in Cannes gewonnen. Cannes ist nicht nur das wichtigste, sondern auch das glamouröseste Filmfestival. Ihre Filme stehen dagegen eher für Anti-Glamour. Glauben Sie, dass es in Europa eine heimliche Sehnsucht nach solchem Anti-Glamour gibt? Oder dienen Sie da eher als Feigenblatt einer Industrie, die sich ganz anders ausrichtet?
Luc Dardenne: Wir sind ihr gutes Gewissen. Oder das schlechte Gewissen. Es kann schon sein. Auch für die Öffentlichkeit. Wir machen keine Filme, die in jedem Land Millionen ins Kino locken. Wir haben trotzdem unser Publikum. Die Industrie hasst uns, das ist schon klar, will wir nicht das Kino machen, dass die haben wollen. Weil es denen nur ums Geldverdienen geht. Aber bei einem Festival ist es ja auch nicht die Industrie, die Preise vergibt, sondern eine Jury.
artechock: Die klassische Frage: Wie arbeiten Sie eigentlich zusammen?
Jean-Pierre Dardenne: Wir machen alles gemeinsam. Bis auf zwei Dinge. Wir trennen uns einmal, nachdem wir uns über die Grundstruktur des Drehbuchs geeinigt haben, schreibt mein Bruder das erste Drehbuch. Ab und zu telefonieren wir, klären bestimmte Fragen, wenn etwas nicht aufgeht, was wir vorhatten. Wenn die erste Version fertig ist, geht es im Ping-Pong-Verfahren weiter, bis wir zu drehen beginnen.
Beim Drehen tauschen wir jeden Tag die Plätze. Es gibt immer einen, der nahe bei den Schauspielern ist, und einen, der weiter hinten am Monitor das Kamerabild überprüft. So einfach ist das. Ein gemeinsamer Rhythmus, für Außenstehende ein bisschen chaotisch vielleicht, aber im Großen, Ganzen funktioniert es.
artechock: Aber es kann doch gar nicht sein, dass Sie sich immer einig sind? Bei der Montage hat ja schon ein Regisseur oft Probleme, sich für eine Variante zu entscheiden…
Luc Dardenne: Das stimmt. Aber wenn wir uns bei etwas nicht einig sind, dann liegt es daran, dass wir nicht genau wissen, was wir wollen. Wir probieren dann etwas so lange, bis wir überzeugt sind. Es gibt keine Rivalität, keine Konkurrenz um Ideen. Das funktioniert, wir machen das schließlich seit 30 Jahren.
Jean-Pierre Dardenne: Wir haben eine gemeinsame Intuition. Sonst könnten wir nicht zusammen arbeiten.