17.11.2005

»Ist da Leben drin?«

Jean-Pierre und Luc Dardenne
Jean-Pierre und Luc Dardenne

Die Brüder Dardenne über Zen-Kino, Humanismus und gemeinsame Arbeitsrhythmen

Nach dem zwei­ma­ligen Gewinn der Goldenen Palme von Cannes – 1999 für Rosetta und 2005 für L’enfant – gehören die wallo­ni­schen Brüder Jean-Pierre (geb. 1951) und Luc Dardenne (geb. 1954) zu den erfolg­reichsten Gegen­warts­re­gis­seuren. In den 70er Jahren begannen die Brüder, die bisher immer zusammen gear­beitet haben, mit sozial stark enga­gierten Doku­men­tar­filmen, die im Umkreis der seiner­zeit aufkom­menden Video­be­we­gung entstanden. Ihre Portraits normaler Arbeiter, freier Radio­sender, der Schick­sale von Emigranten oder des anti­fa­schis­ti­schen Wider­stands in Belgien wurden berühmt. 1975 gründeten sie in Lüttich ihre Firma „Dérives“, die mehr als 60 Doku­men­tar­filme produ­zierte. 1987 drehten sie ihren ersten Spielfilm, Falsch nach dem Thea­ter­s­tück von René Kalisky.

Die Dardennes bekennen sich dezidiert zur „Ablehnung des Ästhe­ti­zismus“. Sie arbeiten meist mit unbe­kannten Darstel­lern oder Laien, mit Hand­ka­mera, in doku­men­ta­ri­schem Stil – weswegen ihre Filme nicht nur dem briti­schen „Free Cinema“, sondern auch jenen der dänischen Dogma-Bewegung ähneln, ohne sich an deren strenges Regelwerk zu halten. Mag alles auch spontan wirken, ist doch vieles genau geplant, ähnlich wie bei den Filmen Robert Bressons liegt dem Anschein des Natu­ra­lismus Künst­lich­keit zugrunde. Und viel Geduld: Bis zu 60 Mal werden einzelne Szenen gedreht.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Ihr Film entdeckt das Mobil­te­lefon als wich­tigstes Hand­werks­zeug des Klein­kri­mi­nellen. Wie hat das Handy die Welt der Klein­kri­mi­nellen verändert – und wie hat es das Kino verändert? Diese Geschichte hätten sie früher zumindest ganz anders erzählen müssen…

Jean-Pierre Dardenne: Ich denke das kam aus der Beob­ach­tung dieser Leute. Ist Ihnen schon aufge­fallen, wie wer auf der Straße immer die neuesten Handys hat, und fort­wäh­rend tele­fo­niert? Je ärmer, um so bedeu­tender ist das Handy. Wie Sie selbst sagen, macht es die Arbeit schneller, beschleu­nigt die Kommu­ni­ka­tion. In diesem Fall die Drogen­deals. Ich kenne übrigens einen, der konnte durch sein Handy seine Unschuld beweisen.

Luc Dardenne: Als Filme­ma­cher gibt einem mehr Möglich­keiten. Es gibt den Charak­teren mehr Mobilität und Bewe­gungs­frei­heit. Sonst hätten wir immer irgendwie erzählen müssen, wie unsere Haupt­figur eine Tele­fon­zelle findet. Und auf dem Land gibt es kaum Tele­fon­zellen.

artechock: Woher kennen Sie solche Typen wie Bruno? Warum sind die Ihnen so vertraut, ihre Nöte, ihr Alltag, ihr soziales Milieu?

Jean-Pierre Dardenne: Das Wich­tigste ist doch: Sie sind doch Menschen wie alle anderen auch. Sie teilen zum größten Teil die gemein­samen mensch­li­chen Dinge: Sie essen, trinken, lieben, schlafen. Sie haben Gefühle, sie haben Angst – wie wir. Sie sind für uns keine sozialen »Fälle«, keine Kari­ka­turen, keine Objekte, sondern Indi­vi­duen.

Als solche inter­es­sieren sie uns als Regis­seure. Was passiert, ist dass man Gefühle für Bruno entwi­ckelt, und dass jedes mensch­liche Wesen an seinem Abenteuer Anteil nehmen kann. und wenn man sich mit offenen Augen umschaut, wird man solche Leute überall treffen. Als wir jung waren, haben sie uns faszi­niert, weil sie so viel freier schienen, als wir es sind.

Zudem haben wir früher als Doku­men­tar­filmer sehr viele Leute portrai­tiert, die ein bisschen wie Bruno sind, die am Abgrund stehen – auch wenn ihre Situation nicht mehr ganz die gleiche ist, kann man sich dadurch sehr viel vorstellen.

artechock: Wenn wir Bruno sehen, dann sehen wir eine Lebens­weise, die viele Kino­gänger nicht kennen. Was ist das Lebens­ge­fühl, was ist die Haltung, die dieses Leben prägt und dominiert? Ist das Angst? Ist es Aggres­sion? Man kann auch an die Leute erinnern, die im Zentrum der derzei­tigen Unruhen in Frank­reich, oder der Ereig­nisse in New Orleans stehen…

Luc Dardenne: Müdigkeit. Das ist ein sehr sehr ermü­dendes Leben. Ich glaube denen, die in Frank­reich revol­tieren, geht es um anderes, als Bruno. Bruno ist einer, der nicht in die Gesell­schaft zurück möchte. Er hat bereits akzep­tiert, dass er kein Teil mehr von ihr ist. Darum würde er auch nicht gegen irgend­etwas protes­tieren, sich nicht mit Poli­zisten prügeln. Er würde auch kein Benzin kaufen, um Autos anzu­zünden. Viel­leicht einmal, um etwas Spaß zu haben. Aber er will nichts von der Gesell­schaft.

Er lebt draußen. Er macht seine Geschäfte draußen. Er landet im Inneren der Margi­na­lität. Er ist ein kleiner Gangster. Aber er hat es akzep­tiert, draußen zu sein. Und es macht ihm Spaß, auf eine gewisse Weise, zu sein, wo er ist. Aber es ist natürlich doppel­bö­diger: Er sagt, er will keine Arbeit, weil er weiß: Das Geld wird ihm wegge­nommen, um seine Schulden abzu­zahlen. Aber natürlich sagt er das viel­leicht auch nur, weil er weiß, dass er sowieso keine Arbeit bekommt.

Er ist auch ziemlich frei – ein bisschen wie ein Frei­beuter, ein Schmuggler. Er hat Geld, er kann machen, was er will – das stimmt, und ist zugleich eine große Illusion. Er ist wie einer, der im Unter­grund lebt. Das ist eine Person, die man, selbst, wenn man verdammt, was sie tut, doch auch gleich­zeitig faszi­nie­rend findet.

artechock: Wie würden Sie Ihre Haltung als Filme­ma­cher ihrem Gegen­stand, ihrer Geschichte, ihren Figuren gegenüber beschreiben? Man hat ihr Kino moralisch genannt, es ist natürlich auch politisch. Ist Ihre Haltung huma­nis­tisch?

Jean-Pierre Dardenne: Sie ist cine­as­tisch, ganz einfach!

Luc Dardenne: [lacht] Ich verstehe, dass man Etiketten braucht, aber…

artechock: Mir geht es nicht um Etiketten. Mir geht es darum, Ihre Haltung kennen­zu­lernen. Was treibt Sie an? Sie defi­nieren Sie sich?

Jean-Pierre Dardenne: Ich definiere gar nicht. Weil ich auf den Spuren mensch­li­cher Wesen gehe, die sich schnell allen Defi­ni­tionen verschließen. Und die Angst haben, definiert zu werden. Das ist irra­tional, aber so ist es. Mein Bruder hat da einen ganz anderen Blick­winkel. Aber meiner Meinung nach versuchen wir, mensch­liche Geschichten zu erzählen. Von Menschen, die am Rand der Gesell­schaft leben, und die man in der Regel nicht sieht – außer, wenn sie einmal kurz laut ihre Stimme erheben. Und plötzlich gibt es Panik. Wir versuchen, für sie Bilder zu finden, und sie in unseren Geschichten zum Leben zu bringen. Aber so, dass Menschen, die nicht am Rand der Gesell­schaft leben, Anteil nehmen können, sie als ganze Menschen erkennen. Wir versuchen, so zu erzählen, dass der Zuschauer auch das versteht, was man nicht filmen kann. Das ist die innere Spur.

Wir tun das mit Gesten, Haltungen, Bildern, Objekten – aber kaum über den Dialog. Es gibt nicht viel Dialoge bei uns. Wir geben den Figuren auch Zeit, nichts zu tun.

Wir versuchen, dem Zuschauer Zeit zu geben, selbst eine Haltung einzu­nehmen, und während des Films seinen Platz zu finden. Voila, das sage ich! [Zu seinem Bruder gewand] Und Du?

Luc Dardenne: [Lacht] In Japan fand man uns sehr buddhis­tisch und sehr Zen. Man hat uns gefragt: »Woher kennen Sie den Zen-Buddhismus so gut?« Wir haben keine Ahnung davon. Seitdem nennen wir uns Zen-Cineasten. [Lacht]

Ich möchte sagen: Was wir versuchen, zu machen, ist das Leben zu finden. Wir fragen uns immer – wenn wir schreiben, wenn wir drehen -: Ist da Leben drin? Das ist es, was mich wirklich inter­es­siert. Mehr als Charak­tere und Figuren, möchte ich Personen filmen, Personen, die exis­tieren, die wirklich da sind, und die leben. Deren Lebens­willen man spürt. In Japan hat man uns auch auf die dortige hohe Selbst­mord­rate unter Jugend­li­chen ange­spro­chen, und erstaunt gesagt: Ihre Figuren wollen leben. Ja, das versuchen wir. Bruno hat einen starken Lebens­willen. Er verändert sich, aber es sind die Umstände, die ihn verändern. Der Lebens­wille bleibt gleich. Ich glaube, das ist es immer wieder, was wir versuchen – auch Rosetta, auch Olivier in Le fils sind so. Das Leben muss in ihnen pulsieren.

artechock: Sie haben 2005 schon zum zweiten Mal in Cannes gewonnen. Cannes ist nicht nur das wich­tigste, sondern auch das glamourö­seste Film­fes­tival. Ihre Filme stehen dagegen eher für Anti-Glamour. Glauben Sie, dass es in Europa eine heimliche Sehnsucht nach solchem Anti-Glamour gibt? Oder dienen Sie da eher als Feigen­blatt einer Industrie, die sich ganz anders ausrichtet?

Luc Dardenne: Wir sind ihr gutes Gewissen. Oder das schlechte Gewissen. Es kann schon sein. Auch für die Öffent­lich­keit. Wir machen keine Filme, die in jedem Land Millionen ins Kino locken. Wir haben trotzdem unser Publikum. Die Industrie hasst uns, das ist schon klar, will wir nicht das Kino machen, dass die haben wollen. Weil es denen nur ums Geld­ver­dienen geht. Aber bei einem Festival ist es ja auch nicht die Industrie, die Preise vergibt, sondern eine Jury.

artechock: Die klas­si­sche Frage: Wie arbeiten Sie eigent­lich zusammen?

Jean-Pierre Dardenne: Wir machen alles gemeinsam. Bis auf zwei Dinge. Wir trennen uns einmal, nachdem wir uns über die Grund­struktur des Drehbuchs geeinigt haben, schreibt mein Bruder das erste Drehbuch. Ab und zu tele­fo­nieren wir, klären bestimmte Fragen, wenn etwas nicht aufgeht, was wir vorhatten. Wenn die erste Version fertig ist, geht es im Ping-Pong-Verfahren weiter, bis wir zu drehen beginnen.

Beim Drehen tauschen wir jeden Tag die Plätze. Es gibt immer einen, der nahe bei den Schau­spie­lern ist, und einen, der weiter hinten am Monitor das Kame­ra­bild überprüft. So einfach ist das. Ein gemein­samer Rhythmus, für Außen­ste­hende ein bisschen chaotisch viel­leicht, aber im Großen, Ganzen funk­tio­niert es.

artechock: Aber es kann doch gar nicht sein, dass Sie sich immer einig sind? Bei der Montage hat ja schon ein Regisseur oft Probleme, sich für eine Variante zu entscheiden…

Luc Dardenne: Das stimmt. Aber wenn wir uns bei etwas nicht einig sind, dann liegt es daran, dass wir nicht genau wissen, was wir wollen. Wir probieren dann etwas so lange, bis wir überzeugt sind. Es gibt keine Rivalität, keine Konkur­renz um Ideen. Das funk­tio­niert, wir machen das schließ­lich seit 30 Jahren.

Jean-Pierre Dardenne: Wir haben eine gemein­same Intuition. Sonst könnten wir nicht zusammen arbeiten.