L'enfant

Belgien/F 2005 · 95 min. · FSK: ab 12
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch: ,
Kamera: Alain Marcoen
Darsteller: Jérémie Rénier, Déborah François, Jérémie Segard, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione u.a.
Sonja, Jimmy und Bruno

Das Kind im Vater

Schuld und Sühne in den Banlieu. Ein Vater, der sein Kind verkauft. Geldgier, aber auch irre­ge­lei­tete Liebe sind die Gründe, warum Bruno den bisher schwersten Fehler seines an Fehlern schon reichen, dabei noch jungen Lebens begeht. Quasi im Vorüber­gehen verscha­chert er seinen gerade erst geborenen Sohn Jimmy an eine profes­sio­nelle Kinder­händ­ler­bande. Für den Klein­kri­mi­nellen, der sich mit Drogen­deals und Gele­gen­heits­diebstählen mehr schlecht als recht über Wasser hält, sind die 5000 Euro, die ihm das Baby einbringt nicht mehr, als endlich einmal ein gutes Geschäft.

L’enfant, mit dem die belgi­schen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne im Mai zum zweiten Mal – nach 1999 mit Rosetta – bei den Film­fest­spielen von Cannes die Goldene Palme gewannen, ist ein ebenso emotional zwin­gendes, wie in seinem »cinema verité«-Stil beste­chendes, nur scheinbar »kleines«, Drama.

Das »Kind« in diesem Fall ist aller­dings nicht nur Jimmy. Mindes­tens ebenso meint der Titel den Vater Bruno, die eigent­liche Haupt­figur des Films. Die Kamera der Dardennes bleibt ihm – wie einst auch Rosetta oder dem Sohn in Le fils – dicht auf den Fersen. Sie beob­achtet seinen Alltag, portrai­tiert die wüste Indus­trie­land­schaft, in der er lebt, zeigt seine zögernde, hilflose Zärt­lich­keit für Sonia, Jimmys Mutter, die er aufrichtig liebt. Geht es um irgend­etwas anderes, kann diese Zärt­lich­keit aller­dings schnell in rüdesten Egoismus umschlagen. Während Bruno, der die gemein­same Wohnung in der Zwischen­zeit für ein wenig Geld ohne Rücksicht auf Freundin und Kind unter­ver­mietet hat, nun wirklich auf der Straße lebt, ein junger Obdach­loser ist, der kaum mehr besitzt, als das, was er auf dem Leib trägt, gelingt es Sonia, eine Fürsor­ge­woh­nung zu bekommen. Im Portrait Sonias zeigt L’enfant Hoffnung, zeigt wie manche Mütter mit der neuen Verant­wor­tung wachsen können.

Bruno dagegen ist und bleibt ein Loser par excel­lence. In der doku­men­ta­ri­schen Uner­bitt­lich­keit, in der der Film zeigt, wie alles, was er anpackt, zum Scheitern verur­teilt hat, liegt beinahe etwas Sadis­ti­sches – man weiß schon vorher, das alles, was hier schief gehen kann auch schief gehen wird. Erst in den letzten Minuten, als Bruno ganz am Boden ist, nur noch Verzweif­lung von ihm übrig bleibt, da verändert er sich, übernimmt Verant­wor­tung für seine Mitmen­schen und damit auch für sich. Man kann das als Hoff­nungs­zei­chen nehmen und das letzte Bild, das Sonia beim Besuch im Gefängnis zeigt, als Happy End. Doch ande­rer­seits hat sich Bruno auch erst verändert, als ihm eigent­lich nichts anderes mehr übrig blieb.

Die Insze­nie­rung dieser Geschichte ist jederzeit spannend, aufwüh­lend und virtuos. Die emotio­nale Wirkung auf den Betrachter entsteht aus der physi­schen Konfron­ta­tion mit Bruno und seinem Umfeld. So unver­s­tänd­lich und moralisch unhaltbar sein Handeln auf den Großteil des Publikums wirken mag, verdammen die Regis­seure ihn nie. Er weiß es nicht besser – aller­dings entschul­digt ihn das auch nicht. Die mora­li­sche Kritik, die die Regis­seure an ihrer Figur üben, geschieht indirekt: Unge­schnör­kelt, hart und direkt zeigen sie die Folgen seines Handelns.

Im Interesse für soziale Outcasts, in der Offenheit, in der sie diese zeigen, ebenso in ihrem unter depres­siven Moment­auf­nahmen versteckten Opti­mismus, erweisen sich die Dardennes als Erben der Tradition des sozial enga­gierten Films der 60er und 70er. Sie betonen, dass das Leben weiter­geht, weigern sich zugleich Bruno nur als passives Opfer zu sehen. Er ist aktiv, ist Täter – im Guten wie Schlechten. Das ist hoch­in­tensiv, nur ganz am Ende ein bisschen zu pathe­tisch, zu mora­li­sie­rend in dem Drang den Zuschauern etwas nahe­zu­bringen, was sie womöglich nicht sehen wollen – aber (jeden­falls nach Ansicht der Regis­seure) sehen sollen. Womit sie auch recht haben: Es geht sie jeden­falls an.

Indirekt halten die Brüder auch uns Zuschauern den Spiegel vor: So anders als Bruno, das merken wir mit Erschre­cken immer deut­li­cher, sind wir gar nicht. In Reinform ist Bruno das Geschöpf einer Gesell­schaft, in der alles (s)einen Preis hat – und wenn der stimmt, ist auch ein Baby nur ein Warengut. Reiche Leute, die ein Kind wollen, kaufen sich eben eines, und Arme, wie Bruno, verkaufen, was sie gerade noch haben. Und manchmal gleich ihre Seele dazu.

Ästhetik der Konfrontation

Eine junge Frau, mit schrei­endem Baby im Arm, steigt eine enge Treppe hoch, sperrt eine Tür auf, findet diese aber durch die innen vorgehängte Kette blockiert: Ein Typ und eine Frau, halbnackt, bescheiden ihr kurz und knapp, Bruno habe ihnen die Wohnung für ein paar Tage vermietet, die Tür wird zuge­schlagen. Die junge Frau klopft und tritt gegen die Tür, schreit laut, verlangt, daß man ihr das Aufla­de­gerät für ihr Handy heraus­gibt, die Tür geht nochmal kurz auf, das Aufla­de­gerät wird heraus­ge­worfen.

Schroffe Wirk­lich­keit Ein abrupter Einstieg, der bereits einen direkten Eindruck von der Ästhetik der unver­mit­telten Konfron­ta­tion gibt, der die belgi­schen Dardenne-Brüder auch in ihrem neuen Film L’enfant folgen. Dem Zuschauer wird nicht viel erklärt, er bekommt nur etwas zu sehen: mit Hand­ka­mera, nah dran am Geschehen, in wenigen Schnitten, heftig und impulsiv agierende Personen, rauhe, schroffe Wirk­lich­keit am sozialen Rand der Gesell­schaft.

Die Situation, mit der der Film beginnt, muss man sich so zurecht­legen: Sonja, die junge Frau, kommt aus dem Kran­ken­haus, wo sie ihr Kind auf die Welt gebracht hat, und will in ihre Wohnung. Bruno, ihr Freund, der Vater des Kindes, hat diese jedoch für die Zeit der Entbin­dung weiter­ver­mietet.

Als Zuschauer hat man nun gar nicht viel Muße, sich über diesen Bruno zu entrüsten oder die junge Mutter zu bedauern, die nun erstmal dazu verur­teilt ist, mit ihrem Säugling auf der Straße herum­zu­ziehen, denn die Szenen folgen mit einer enormen physi­schen Dichte aufein­ander, die alle Aufmerk­sam­keit an sich bindet.

Sonja begibt sich nun auf die Suche nach Bruno. Wir sehen sie beim Über­queren einer Ausfall­straße, eine dieser unge­schnit­tenen Einstel­lungen, die so lange dauert, wie es tatsäch­lich notwendig ist zu warten, um auf dieser stark befah­renen Straße auf die andere Seite zu kommen. An einem Ort zwischen der Straße und dem Kanal, den wir später als Versteck Brunos kennen lernen werden und wo sie ihn nun vermutet, trifft sie ihn jedoch nicht an. Darauf sehen wir sie, wie sie mitge­nommen wird von einem Bekannten auf dem Moped, in die Nähe eines Bistrots, wo Bruno gerade zwischen an einer roten Ampel wartenden Autos von den Fahrern Kleingeld erbettelt. Für Sonja und das Kind, das er noch gar nicht gesehen hat (er hat sie also nach der Nieder­kunft gar nicht im Kran­ken­haus besucht), hat er vorerst nicht viel Aufmerk­sam­keit übrig, er ist damit befaßt, das Opfer eines nächsten Dieb­stahls zu beob­achten und dessen Bewe­gungen an einen Komplizen über Handy weiter­zu­geben.

Ein großer Junge Damit haben wir ihn also vor uns, Bruno, und werden ihn für den Rest des Films nicht mehr aus den Augen verlieren. Ein unbe­küm­mert wirkender Bursche, ein großer Junge (das titel­ge­bende Kind des Films, wie die Dardenne-Brüder selbst sagen), der alles als nie aufhö­rendes Spiel versteht, insbe­son­dere seine Deals und Gaune­reien. »Arbeiten, das ist was für die Arschlöcher« und »Ich komm immer an Geld, das wär Blödsinn, welches zurück­zu­legen«, das sind seine Maximen. Seine Gesten und Hand­griffe scheinen mühelos inein­an­der­zu­greifen, er hantiert mit Handy, Ziga­retten, Geld­scheinen, Diebesgut und Hehler­ware, die er mit seinen minder­jäh­rigen Komplizen beschafft und weiter­ver­kauft. Auch für Sonja und das Kind hat er dann vor allem groß­spu­rige und naive Gesten übrig: den Kauf der gleichen Motor­r­ad­jacke wie er sie hat für Sonja, das Ausleihen eines Sport­wa­gens für eine gemein­same Spritz­tour und den Kauf eines Kinder­wa­gens, für den das wich­tigste Auswahl­kri­te­rium ist, daß sein Aufsatz auf die schmale Rückbank des Sport­wa­gens paßt.

Und irgendwie läßt sich das alles ganz gut an: Ausge­lassen und fröhlich balgt er immer wieder mit Sonja herum; nach einer Nacht im Obdach­lo­sen­heim, wobei Bruno, der ruhe- und rastlose, das gemietete Nacht­lager im Schlaf­saal nach einem Handy­anruf seiner Hehlerin gar nicht nutzt, können sie auch wieder in Sonjas Wohnung. Zu den Dingen, mit denen Bruno und Sonja nun permanent hantieren, gehört eben auch der Kinder­wagen, mit dem Kind darin. Und einmal, während Sonja in der langen Schlange am einzigen geöff­neten Schalter des Sozi­al­amtes wartet, geht Bruno derweil spazieren, mit dem Kind im Kinder­wagen. Erst mal unbe­küm­mert Leute anschnorren mit Kinder­wagen ist das womöglich lohnender, um sich das nötige Kleingeld für ein frisches Päckchen Ziga­retten zu besorgen, und dann meldet sich auch schon wieder das Handy.

Die böse Wendung der Dinge
Und nun nimmt ein Geschehen seinen Gang, das einer von selbst ablau­fenden Mechanik zu folgen scheint. Der Anruf der Hehlerin, die auf scheinbar unbe­deu­tende Gesprächs­teile einige Szenen zuvor Bezug nimmt und jetzt mit Bruno einen beson­deren Deal perfekt macht. Man muss alles allein aus den knappen Erwi­de­rungen Brunos am Telefon erschließen und vor allem aus den folgenden, rein äußerlich geschil­derten Aktionen, nein, nicht einmal Aktionen, sondern einfach Bewe­gungen, Gänge durch die Straßen der Stadt, eine Busfahrt in ein anderes Viertel, das Betreten eines Wohn­blocks, der nicht funk­tio­nie­rende Lift, das Heraus­nehmen des Kindes aus dem Kinder­wagen, das Betreten einer leeren Wohnung, eines Zimmers darin, in dem Bruno das Kind auf seine Jacke bettet, der Rückzug Brunos in ein Neben­zimmer, das Schließen der Tür, ein Telefonat, beklem­mende Minuten des Wartens, Geräusche auf dem Flur, wieder zurück in das erste Zimmer, anstatt des Kindes liegt hier nun ein Bündel Geld­scheine. Ja, Bruno hat das Kind verkauft.

Diese gespens­tisch lako­ni­sche Sequenz veran­schau­licht noch einmal aufs konse­quen­teste die filmische Vorge­hens­weise der Dardenne-Brüder, sich auf eine neutrale Außen­per­spek­tive zu beschränken und nichts mit über­ge­ord­neten Begriffen zu erklären. Der sich ergebende Hand­lungs­zu­sam­men­hang folgt dabei einer scheinbar zwanglos, sich aber äußerst zwingend fügenden Logik. Es geht hier nicht um soge­nannte Sach­zwänge, sondern um eine brutale Gewalt der Zusam­men­hänge von Hand­lungen in genau bestimmten Lebens­kon­texten, auch wenn die handelnden Figuren meinen, ihr Spiel (oder was sie für ein solches halten) souverän im Griff zu haben.

Auf dem Rück­wegmit dem leeren Kinder­wagen nun, der von außen natürlich nicht anders ausschaut als vorher­scheint bei Bruno noch alles beim Alten zu sein, vor allem, als er zu Sonja entschul­di­gend sagt, daß er gedacht hätte, man könnte ja jederzeit noch ein Kind machen. Diese Aussage, naiv und zynisch zugleich in ihrer Arglo­sig­keit und Klarsicht bei der unwill­kür­li­chen Benennung der ökono­mi­schen Zusam­men­hänge von Produk­tion und Repro­duk­tion, entgeis­tert Sonja so sehr, daß sie ohnmächtig umfällt.

Damit beginnt der zweite, in seiner Drama­turgie nicht minder eng gefügte Teil des Films, in dem sich nun alles gegen Bruno zu wenden scheint. Der Versuch, den Verkauf rück­gängig zu machen, führt Bruno in die Abhän­gig­keit von Gangstern, die gewohnt sind, eine Nummer größer als er zu agieren; Sonja will nichts mehr von ihm wissen; sogar die kleinen Deals mit seinem Komplizen Steve wollen nicht mehr recht von der Hand gehen und scheitern in einer eindring­li­chen Szenen­folge auf banal-jämmer­liche Art. Brunos Gängen durch die Straßen haftet nun eine düstere Vergeb­lich­keit an. Vorbei die Unbe­küm­mert­heit, mit der er die Umstände spie­le­risch zu beherr­schen schien.

Eine Geschichte der Erlösung Daß sich in diesem Gang der Dinge aber der eigent­liche Weg zu Brunos Errettung aus der Verstri­ckung seines Lebens auftut, das kommt erst am Ende im Gefängnis heraus. Mit diesem Ende stellen die Dardenne-Brüder dann auch ihren Film bewußt in eine promi­nente Tradi­ti­ons­linie des neueren Kinos: L’enfant erweist sich nämlich als jüngste Variante der »Schuld und Sühne«-Adap­tionen, wie sie mit Robert Bressons Pick­po­cket (1959), Paul Schraders American Gigolo (1980) und Light Sleeper (1992) sowie Aki Kauris­mäkis Rikos ja rangaistus (Crime and Punish­ment, 1983) vorliegen. Alle diese Filme münden in die emble­ma­ti­sche Schluß­szene, in der die Heldin (bei den Dardenne-Brüdern heißt sie tatsäch­lich genauso wie im Dosto­je­w­skij-Roman Sonja) den Helden im Gefängnis besucht. In L’enfant kommt es hier zur Entbin­dung der ange­stauten, unter­drückten Emotion, zur Lösung des Affekt­staus, den die strikt einge­hal­tene Außen­per­spek­tive der Darstel­lung auf geradezu schmerz­hafte Weise abbildete.

Letztlich handelt es sich bei L’enfant also um ein strin­gentes »morality tale«, dessen »plot« von der Besserung seines in die Irre gegan­genen Helden erzählt. Die tran­szen­den­talen bis reli­giösen Impli­ka­tionen, die in diesem Stoff liegen, werden in L’enfant restlos aufge­sogen von der physi­schen Dichte der schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen und der Kame­ra­ar­beit und Montage. Man hat es hier gewis­ser­maßen mit einem reinen action-Film zu tun, bei dem sich das Mora­li­sche konse­quent als Resul­tante aus dem Mate­ri­ellen ergibt. Und genau das bezeichnet die Stärke und ungeheure Wucht dieses Films: Er degra­diert die physische Realität, die er mit größter Inten­sität zeigt, nicht zum Material der Veran­schau­li­chung von Thesen. Es beharrt alles auf seinem Eigensinn als wider­s­tän­diger Wirk­lich­keit, einschließ­lich der Figuren mit ihrem Starrsinn.

Was der Film vorrangig also nicht ist: ein von sozi­al­kri­ti­schem Enga­ge­ment getra­genes Dokudrama, das Anklage erheben möchte gegen die Auswir­kungen neoli­be­raler Zurüs­tungen für eine angeblich bessere Zukunft. Man kann den Film natürlich als Illus­tra­tion für entspre­chende Tendenzen heran­ziehen, denn die Dardenne-Brüder nehmen wie in ihren bishe­rigen Filmen auch diese von der Politik miter­zeugte soziale Realität äußerst ernst und greifen die damit verbun­denen Themen auf; sie nehmen diese Verhält­nisse so ernst, daß sie sie zum Ausgangs­punkt von ergrei­fenden und nichts beschö­ni­genden oder verklä­renden Dramen machen. Und sie schaffen es mit ihrer filmi­schen Ästhetik dabei vor allem, den von den Verhält­nissen erzeugten Wirk­lich­keits­zu­sam­men­hang als bis in Wahr­neh­mung und Psycho­logie der Figuren hinein­wir­kenden Entfrem­dungs­zu­sam­men­hang formal nach­zu­bilden und gleich­zeitig zu durch­dringen. Das ist tatsäch­lich viel mehr als soziale Anklage. Das geht an die Grund­lagen unseres konven­tio­nellen Wirk­lich­keits­ver­s­tänd­nisses und versucht uns, neu sehen zu lehren.