15.04.2010

»Jeder achtet halt auf seinen Chole­ste­rin­spiegel«

Szenenbild IM ANGESICHT DES VERBRECHENS
»Kohle produziert neues Spießertum.«

Dominik Graf über sein Mafia-Epos Im Angesicht des Verbrechens und die Liebe zum Genrefilm

Obwohl er vor allem fürs Fernsehen arbeitet, gilt der 1952 in München geborene Dominik Graf seit über 25 Jahren als einer der besten deutschen Kino-Regis­seure. Filmisch war er seiner Zeit oft voraus. Das zeigt einmal mehr der Mafia-Thriller Im Angesicht des Verbre­chens, eine für ARD und Arte produ­zierte zehn­tei­lige Serie. Eines der mutigsten Fern­seh­pro­jekte der letzten Jahre, das seine Premiere im Inter­na­tio­nalen Forum des jungen Films während der dies­jäh­rigen Berlinale feierte. Der Film war ein Herzens­an­liegen für Graf wie auch für seinen Autor Rolf Basedow. Im Angesicht des Verbre­chens steht für die spürbare Rückkehr von Genre-Stoffen ins Kino: für Sex und Crime, Thrill und Action, Humor und Drama – ein wahres Epos als eine Art Krieg und Frieden, ange­sie­delt im Berlin der Gegenwart. Mit Dominik Graf sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Im Angesicht des Verbre­chens erlebte seine Premiere auf großer Leinwand. Jetzt ist das Werk als Zehn­teiler im Fernsehen zu sehen. Ist das Kino für diese Produk­tion – konzen­triert als ein langer Film an zwei Tagen – nicht der ange­mes­sene Ort?

Dominik Graf: Unbedingt. Man könnte ihn im Fernsehen viel­leicht auch aufzeichnen und dann geschlossen hinter­ein­ander in einem Fluss angucken. So schauen heute ja fast alle die Serien. Früher, als das wahre deutsche Kino auch in Vorabend- und Abend­se­rien stattfand, waren dort Szenen zu sehen, die im deutschen Kino undenkbar gewesen wären. Heute ist der Vorabend im deutschen Fernsehen zerstört. Die USA haben ja die Ehre der Fern­seh­se­rien weltweit gerettet, aber ich habe manchmal das Problem, dass diese Serien drama­tur­gisch zu hoch­fri­siert sind. Und ästhe­tisch zu sche­ma­tisch-gestylt. Die Amis bril­lieren dauernd mit irrwit­zigen Plot-Wendungen, bei denen es völlig egal ist, wer sie insze­niert. Die einzelnen Episoden sind sozusagen nur noch Serien-Erzählung, niemals mehr Film. Das finde ich schade. Film im Kino bedeutet ja vor allem, dass man für alles mehr Zeit hat – und am Ende als Zuschauer viel­leicht gar keinen drama­ti­schen Pay-Off dafür bekommt.

artechock: Die Produk­tion war nicht einfach. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Graf: Ich kann nach zwei Jahren unun­ter­bro­chener Arbeit daran nur noch mutmaßen, ob der Film o.k. ist. Ich bin zufrieden, dass wir es überhaupt hinge­kriegt haben, und das nicht nur ange­sichts der Umstände, dass die Produk­ti­ons­firma sich verkal­ku­lierte, insolvent ging und die Sender massiv Geld nach­schießen mussten. Der Dreh­buch­autor Rolf Basedow hat ein kleines Epos wie eine Mini­ver­sion von Tausend­und­eine Nacht geschrieben. Es gibt einen Haupt­stamm, das ist die Geschichte von zwei Poli­zisten, dann verästelt sich dieser Strang. Die Episoden sind verschieden, trotzdem ist das Ganze hoffent­lich straff genug und wird von bestimmten Leit­mo­tiven zusam­men­ge­halten. Im Grunde geht es bei Basedow immer um das, was bei uns nach der Wende passiert ist. Er verdichtet die von ihm recher­chierte Realität bei der Polizei oder im Milieu zu einzig­ar­tigen Storys. Das einzige, was ich mir vorge­nommen hatte, war eine dyna­mi­sche Kapi­tel­ein­tei­lung, um den Eindruck der Gleich­zei­tig­keit und der Vielfalt zu erhöhen.

artechock: Was machen Sie da stilis­tisch genau? Ist das ein Sampeln?

Graf: Über einen so langen Erzähl­zeit­raum tauchen bestimmte Dinge immer wieder auf. Bestimmte Szenen sind wie Leit­bilder. Aber mit fort­schrei­tender Erzählung kann man jedes Mal in dem Bild etwas anderes sehen, das heißt, die Haupt­themen bleiben zehn Folgen lang, aber sie verwan­deln sich. Ich glaube, dass die erste Folge sehr komplex ist, weil man das, was da erzählt wird, noch nicht volls­tändig durch­bli­cken kann. Das ist bei Basedow immer so: erst mal eine Ellipse. Ich hoffe, dass es trotzdem inter­es­sant ist.

artechock: Es ist erstaun­lich, dass das Fernsehen so etwas überhaupt zulässt: ein zehn­minü­tiges Verweilen an Neben­schau­plätzen, ständige Unter­titel…

Graf: Naja, kann schon sein, dass die 25 Prozent Unter­titel von ein paar Fern­seh­funk­ti­onären in den höheren Etagen als harte Prüfung ihrer Duld­sam­keit angesehen werden. Aber der Film wird ja erst nach 21.45 Uhr gesendet, da kann man sich das viel­leicht erlauben, und wir wollen dem Fernsehen auch mal danken, dass es sich das viele Russisch, die Unter­titel und einiges andere in diesem Fall leistet. Man kann einige Menschen dafür gar nicht genug loben: Wolf-Dietrich Brücker und Frank Tönsmann vom WDR, Stephanie Heckner vom BR, Andreas Schreit­müller von Arte und Thomas Martin vom SWR – allein diese fünf waren wie eine Verschwö­rer­gruppe für das Projekt. Auch Jörn Klamroth von der gern beschimpften Degeto – im entschei­denden Moment waren die alle da und haben vor allem in der schlimmen Zeit, als das Ganze durch die Insolvenz ausein­an­der­zu­fallen drohte, ihre Schrauben uner­müd­lich gedreht, damit es fertig gestellt wurde.

artechock: Es gab in den letzten Jahren immer wieder Debatten über das Fernsehen und die Quoten. Es scheint so, als würden die „Quoten-Päpste“ immer auto­ri­tärer regieren...

Graf: Das öffent­lich-recht­liche Fernsehen hat zwei verschie­dene Gesichter: Es gibt Leute, die kämpfen an vorderster Front um das Best­mög­liche – man glaubt gar nicht, wie ausdau­ernd und wie stark und mit was für einem Willen, das Richtige zu tun. Und dann gibt es jene, die voll­kom­mene Appa­rat­schiks sind. Ich glaube, in manchen Funk­ti­onären lebt beides neben­ein­ander, der Filmfan und der Appa­rat­schik. Man muss das bessere Ich des Fern­se­hens heraus­for­dern, immer wieder. Das deutsche Fernsehen war mal mit das Beste der Welt, so lange, bis Zyniker es auf Teufel komm raus Richtung Quoten­stadel umzubauen versuchten. Diese Entwick­lung muss revidiert werden, sonst schafft sich das Fernsehen selbst ab.

artechock: Im Zentrum von Im Angesicht des Verbre­chens steht die aktuelle Berliner Unterwelt...

Graf: Es ist ein Poli­zei­film und auch ein Gangs­ter­film, in dem Krimi­na­lität manchmal selbst­mör­de­ri­sche Züge trägt. Basedow recher­chiert immer sehr genau, lebendig. Ich kann da als Regisseur nur versuchen, dem hinterher zu insze­nieren. Das Buch war voll und prall. Man hat das Gefühl, dass Rolf die Seele der Figuren studiert hat. Die Gangster sind manchmal sympa­thi­scher als die Poli­zisten, weil sie tollkühn, ausge­flippt sind.

artechock: Weil sie extrem, aben­teu­er­lich leben…

Graf: Ja. Dazu brauche ich dann aber auch einen solchen Autor, dem es gelingt, diese alten Gangster-Mythen auf eine neue Welt und eine neue Gesell­schaft zu über­tragen und gleich­zeitig die Tugenden des alten europäi­schen Thrillers hoch­zu­halten – der Raum erzählen kann, Wege und kompli­zierte Abhän­gig­keits­struk­turen, sowohl im Kleinen einzelner Szenen als auch im Ganzen.

artechock: Sie zeichnen Städte sehr genau und spezi­fisch, etwa in München – Geheim­nisse einer Stadt. Gibt es auch die Geheim­nisse von Berlin? Das Berlin, das Sie zeigen, ist ein Berlin der Neurei­chen: dicke Wagen, kleine Leute, die aber dauernd mit 500-Euro-Scheinen wedeln. Das ist der irre gewordene Kapi­ta­lismus.

Graf: Ja, und der Finanz­se­nator, der bei dem Gangster einge­laden ist, verdient – natürlich privat – noch ein bisschen mit. Oder der Typ, der in Folge 7 oben im Hotel­zimmer im schwarz-rot-goldenen Bade­mantel auf die Prosti­tu­ierte wartet, mit der er dann Opern hört und Tee trinkt – mit Blick auf den Potsdamer Platz. Das sind Gestalten des neuen Berlin. Berei­che­rung, Umbau, Protz. Und zwar mit der Absicht, dass man kaum noch etwas wieder­erkennt. Diese Kohle, die in den Prenz­lauer Berg gesteckt worden ist, produ­ziert kein neues Leben, sondern ein neues Spießertum. Ich könnte über Berlin keinen Liebes­film machen wie über München. Die Stadt ist in den letzten Jahren eine Touris­ten­stadt geworden. Das ist nicht mehr die Stadt, die ich vor der Wende kannte, aber auch nicht mehr die aus den 1990er-Jahren, als noch wesent­lich mehr Ruinen und Brachen der Stadt etwas Frei­zü­giges, Zeitloses gaben. Heute ist Berlin immer „wichtig, wichtig“, ein potem­kin­sches Dorf, und man wünscht sich, dass all die frischen Haus­an­striche möglichst schnell wieder verblassen, damit die schönere Wahrheit und Geschichte darunter zum Vorschein kommt.

artechock: Wo würden Sie sich selbst als Regisseur verorten? Im Genrekino?

Graf: Ja, klar. Ich hab doch immer am liebsten Poli­zei­thriller insze­niert, es macht mir einfach am meisten Spaß. Inzwi­schen komme ich mir fast so vor, als versuchte ich dabei, alte Filme neu zu machen. So halte ich die Genre-Flagge hoch. Das ist meine Schwäche und meine Passion. Im Kino ist das bei uns natürlich schwierig. Die Milieu- und Polizei-Filme, die wir im Fernsehen gemacht haben – mit Rolf Basedow, mit dem ich sieben Filme reali­sierte, und die mit Günter Schütter –, sind Dreh­bücher gewesen, von denen wir stets fürch­teten, dass man sie außerhalb des Fern­se­hens gar nicht mehr machen kann. Hotte im Paradies lag mal bei der Film­för­de­rung und wurde abgelehnt. Er sollte dann, als er fertig war, eine Verleih­för­de­rung bekommen – sie wurde zweimal abgelehnt. Genre­filme, Milieu-Filme dieser Art, sind bei uns im Kino nicht mehr zu machen. Sie haben angeblich kein Publikum. Eine Stadt wird erpresst von Rolf Basedow war ein unglaub­li­cher Stoff, den ich gerne fürs Kino gemacht hätte. No way. Nicht mal mittel­deut­sche Fern­seh­för­de­rung haben wir dafür bekommen. Letzten Endes geht es dann wie bei allen Filmen aber vor allem darum, dass man sie doch gemacht hat. So gesehen ist Im Angesicht des Verbre­chens der „Überfilm“, der Langfilm, den wir immer schon machen wollten. Nichts desto trotz ist er ein Film, der nur vom Fernsehen zu reali­sieren war. Eben eine Miniserie.

artechock: An welches Kino denken Sie, wenn Sie von „Genre“ sprechen? An Filme der Gegenwart?

Graf: Um Gottes willen, nein. Die besten Poli­zei­thriller-Zeiten waren für mich die ausge­henden 1970er-, begin­nenden 1980er-Jahre, als das europäi­sche Genre schon anfing zu zerbrö­seln. Davor war Jean-Pierre Melville – und der war groß. Was nach Melvilles Tod dann von Alain Corneau, José Giovanni und anderen kam, diese Härte und diese manchmal insze­na­to­ri­sche Leck-mich-am-Arsch-Haltung, die Präzision und Unor­dent­lich­keit glei­cher­maßen, die fehlt mir im modernen Krimi­nal­film. Das zeit­genös­si­sche Span­nungs­kino ist von einer unglaub­li­chen Aufgeräumt­heit und Kühle. Ob man Michael Mann nimmt, Public Enemies oder zeit­genös­si­sche Chinesen: Es ist alles auser­zählt und furchtbar gut gemacht – man findet gar nicht mehr die Lücken, wo man sagen kann: Oh, das war jetzt aber frech! Mir fehlen Locker­heit und Wursch­tig­keit in der Insze­nie­rung, auch Humor in den absur­desten Situa­tionen. Im modernen Krimi­nal­film fehlt eine Art Höllen­gelächter. Ausnahmen sind viel­leicht ein paar Gangs­ter­filme von Miike Takeshi. Nein, das Genre nimmt sich zu ernst, ist zu gestylt, zu cool. Aber es passt zum Rest: Wir kennen unsere Schat­ten­seiten gar nicht mehr. Wir hören auf zu rauchen, zu saufen, was lassen wir noch alles weg? Wo soll da noch Inter­es­santes entstehen? Jeder achtet halt auf seinen Choleste­rin­spiegel.

artechock: Aus so einer Welt kann man kein Drama mehr erzählen, und schon gar keinen Genre­stoff.

Graf: Naja, man kann andere Filme erzählen. Das habe ich ja auch versucht, in den Melo­dramen um die Jahr­tau­send­wende – Bittere Unschuld, Deine besten Jahre, Kalter Frühling –, die alle in Villen und hübschen Häusern spielen. Auch Der Felsen war letzten Endes so etwas. Aber für Thriller bieten diese Leute nicht genug Wider­stand, auch nicht so viel Inter­es­santes. Man hat nicht den Eindruck, dass man auf unglaub­liche Katarakte von Sünden stoßen würde, wenn man die Tür zum Upper­class-Deutsch­land einmal weit aufstoßen würde.

artechock: Wie sieht die Zukunft einer Gesell­schaft aus, die nur auf ihren Choleste­rin­spiegel achtet?

Graf: Es ist eine tote Gesell­schaft. Wir werden irgend­wann aussterben – so wie das der Poli­zei­chef in der Mitte von Im Angesicht des Verbre­chens einmal sagt: »Wir sterben aus. Aber solange wir noch hier sind, können wir noch ein bisschen was tun.«

artechock: So präzise Ihr Film auch ist – eine Ebene bleibt ausge­blendet: die der Politik. Sie zeigen wirt­schaft­liche Macht, entlarven den Kapi­ta­lismus, aber Politik hinter­lässt nur am Rande Spuren; mal ein Anruf von oben, mal ein Senator auf einer Mafia-Party. Woran liegt das?

Graf: Bei einem Film der „Morlock“-Serie mit Götz George damals, 1992, hat Basedow versucht, zu erzählen, wie der Osten nach der soge­nannten Wende verscher­belt wurde. Bei Die Sieger habe ich das im Westen versucht, mit von der Mafia gekauften Poli­ti­kern. Eine Ausnahme. Ich hatte immer das Gefühl, dass man Polit­thriller in Deutsch­land nicht machen kann. Früher waren die Schau­spieler zu aufdring­lich, um Politiker zu spielen, jetzt sind die Politiker viel zu klein­bür­ger­lich – auch wenn sie Aris­to­kraten sind –, und ängstlich, als dass man ihnen antike Tragödien zutrauen würde. Das einzig mögliche Polit­drama ist Möllemann, Hochmut und Fall sozusagen. Im Frank­reich und im Italien der 1970er- und 1980er-Jahre gab es wirklich Korrup­ti­ons­skan­dale, da stürzten Regie­rungen und wurden Leichen in den Funda­menten einbe­to­niert, Vatikan-Banker aufgehängt an Brücken gefunden. Solche barba­ri­schen Zustände in der korrupten Politik gab und gibt es bei uns gar nicht. Was will man von unseren Verhält­nissen erzählen? Intrigen mit hohem Body Count, mit Geheim­bünden und Geheim­diensten? Das wäre lächer­lich. Man könnte das Drama irgend­eines Gewerk­schafts­füh­rers bei VW erzählen. Das Drama bestünde dann darin, dass so ein kleiner Mann irgend­welche Lust­reisen bezahlt bekommt und sich dabei viel­leicht wirklich in eine Hure zu verlieben glaubt, so dass er nicht mehr zurück will. Das wäre ein Gefühls­drama. Aber das hat nichts mit großer Politik und riesigen Intrigen oder mit Leichen­haufen, Geheim­bünden und Geheim­diensten zu tun. Von Bourne Identity keine Spur. Das ist schon alles sehr zivil geworden.

artechock: Ist das die Haupt­schwie­rig­keit, auf die Genrekino in Deutsch­land stößt?

Graf: Nein. Das Genrekino war bei uns schon immer ein unter­pri­vi­le­gierter „bad boy“. Wir sind einer­seits in der Realität kriminell nicht ganz auf Welt­ni­veau. Obwohl: der RAF- Terro­rismus... aber der darf wiederum nicht als Genre erzählt werden, sondern nur als Sozi­al­me­lo­dram. Der Bankü­ber­fall in Gladbeck 1988 war auch eine Ausnahme. Terro­rismus meets Klein­gangs­tertum. Ein großer, irri­tie­render Moment, bei dem man das Gefühl hatte, dass der Staat von Gangstern vorge­führt wird. Es herrschte für ein paar Stunden so etwas wie Waffen­gleich­heit. Heute gibt es Über­wa­chungs­ka­meras an jedem Dach und Totschläger in der U-Bahn. Das wäre auch ein Thema. Aber Selbst­justiz – damit ist was anderes gemeint als Zivil­cou­rage – ist in Deutsch­land ein absolut verpöntes Thema. Bei Der schar­lach­rote Engel bekam ich Ärger, weil man die Notwehr eines trau­ma­ti­sierten Verge­wal­ti­gungs­op­fers bereits als eine Form der Selbst­justiz empfand. Bei Wut (2005) von Zülü Aladag gab es verschämte Ausstrah­lungs­ter­mine. Aller­dings merkte man dabei, was in dem Thema drin ist. Ob in den Film­för­de­rungen davon irgendwas ange­kommen, weiß ich nicht. Dort gibt es bei „heißeren“ Stoffen ja immer die Möglich­keit, sich hinter der vermeint­lich „fehlenden Kommer­zia­lität“ zu verste­cken. Diese Argu­men­ta­tion könnte man längstens abschaffen. Ich glaube, dass die Film­för­der­gre­mien inzwi­schen längst wieder Spaß hätte an einer kultu­rellen Defi­ni­tion ihrer Ziel­rich­tung.

artechock: Wäre es denn erlaubt oder überhaupt möglich, sich mehr Fantasie gegenüber den histo­ri­schen Fakten heraus­zu­nehmen: Irgend­welche echten Polit-Schurken mit korrupten oder sexuellem Doppel­leben? Oder eine Art Frei­mau­rer­loge oder eine große Verschwörung gegen die Republik? Das wären ja alles Genre­stoffe.

Graf: Es gab und gibt Projekte. Aber der Irrealis, in dem so etwas dann spielt, der „Was wäre wenn?“-Aspekt, der gerade der Witz an so einer Sache ist, passt nicht zum Vers­tändnis der deutschen Branche. Die Türen für solche Stoffe sind in Deutsch­land nicht offen. Man darf ellenlang über einen Vulkan­aus­bruch in der Eifel erzählen, aber nicht von poli­ti­schen Verschwörungen, die die Gegenwart fiktiv drama­ti­sieren. Dazu ist die deutsche Film­land­schaft zu mutlos, zu trocken. Die Courage ist nicht da, poli­ti­sche Stoffe auszu­pro­bieren, die im ersten Moment viel­leicht »irreal« erscheinen, die aber auch wahn­sinnig unter­haltsam sein könnten.

artechock: In Im Angesicht des Verbre­chens wird viel von Ehre, manchmal auch von Rache gespro­chen; ganz archai­sche Moral­be­griffe spielen im Leben der Gangster, aber auch der Poli­zisten eine Rolle. Wo stehen Sie da?

Graf: Erstmal einmal freut es mich ungemein, wenn ich Szenen im Drehbuch lese, die so von Leiden­schaft durch­drungen sind. Welche Emotion dahinter steht, Rache oder etwas anderes, ist zunächst egal. Dann macht es Riesen­spaß, dies mit guten Schau­spie­lern zu insze­nieren. Ich glaube, dass ist es, worum es mir am meisten geht: Ich mache die Filme, die ich mache – und andere dann eben nicht –, weil ich mir davon sehr viel Freude verspreche. Manchmal wird es ein bisschen anstren­gend, wie bei Im Angesicht des Verbre­chens. Aber wenn ich dann im Schnei­de­raum oder in der Mischung sitze, dann freue ich mich auch beim 25. Mal wieder daran, was da Tolles geschrieben wurde.

artechock: Sie sind also ein glück­li­cher Filme­ma­cher?

Graf: Es gibt Momente, da ist man so unglaub­lich glücklich. Das sollte man lieber diskret behandeln. Dann gibt es natürlich die Momente, die so unglaub­lich anstren­gend sind – manchmal lohnt sich ja die Anstren­gung. Man weiß, dass es zu etwas Gutem führt, und insofern ist dann auch die Anstren­gung inter­es­sant. Aber es gibt auch Anstren­gungen, die einfach nur zäh und dumm sind und auf Denk­bar­ri­kaden der deutschen Branche beruhen. Ich bin in der Branche aufge­wachsen. Ich weiß von meinen Eltern, wie stroh-blöd es beim deutschen Film zugehen kann. Das schreibe ich in meinen Texten, und diese Texte sind manchmal wie eine Selbst­the­rapie. Manche Film­kri­tiker haben eine große Sehnsucht danach, dass Regis­seure „cool“ sind. Die möchten dann, dass Claude Sautet genauso cool ist wie seine Dialoge. Dabei war er ein ständig aufbrau­sender Tyrann. Ein Korin­then­ka­cker. Chole­risch.

artechock: Ist es denn überhaupt nötig, sich – wie Sie das in Ihren Texten über das Kino tun – mit den Klein­geis­tern der deutschen Szene ausein­ander zu setzen?

Graf: Die „Kleinen“ sind in der Wirkung ja gar nicht so klein. Die Appa­rat­schiks der Branche haben einen großen Einfluss auf den Nieder­gang des gesamten deutschen Kinos. Ich schreibe meine Artikel – das Wort »Texte« finde ich immer zu hoch­ge­sto­chen – aus einer großen Liebe zu alten Filmen heraus. Es handelt sich ja nicht um Partei­reden. Dass diese Liebe gleich­zeitig eine Verwun­de­rung über die Defizite der Gegen­warts­filme bei mir auslöst, ist mir im Nach­hinein manchmal etwas peinlich. Hat aber auch seinen Grund: denn die filmische Gegenwart atta­ckiert ja alle übrigen Film-Zeiten. Allein diese Film­ka­nons, die seit dem 100. Geburtstag des Kinos im Jahr 1996 endgültig geschmack­liche Klarheit darüber schaffen wollen, was bleibt und vor allem was nicht – diesem Trara muss man im Namen von Film, Fernsehen und dschun­gel­hafter Vielfalt ganz heftig wider­spre­chen. Die Ergeb­nisse des Regu­lie­rungs­wahns sieht und hört man deutlich, wenn man an den deutschen Film­schule zu Gast ist. Die zweite Attacke der Gegenwart auf die Art Filme, die ich liebe, ist technisch-indus­tri­eller Natur: die Digi­ta­li­sie­rung, der HD-Schwach­sinn, all das schafft zur Zeit eine Art ideal gerei­nigtes Filmbild an sich, einen Begriff vom Bild, der der anar­chi­schen, der schmut­zigen Seele des Films an sich völlig wider­spricht. Wir leben in einem Land, das sich in einem aggres­siven Normie­rungs­wahn befindet. Ich aber habe einen Beruf, der keine Normen und keine Schub­laden verträgt. Ich möchte die Schön­heiten und herr­li­chen Unbe­re­chen­bar­keiten meines Berufs gegen die Eingriffe der Kultur-Regu­lierer gerne vertei­digen.

Lite­ra­tur­hin­weis: 2009 erschien das lesens­werte Buch, Dominik Graf »Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film« heraus­ge­geben von Michael Althen. Alexander Verlag, Berlin 2009, 376 Seiten. Preis: 19,90 €