»Jeder achtet halt auf seinen Cholesterinspiegel« |
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»Kohle produziert neues Spießertum.« |
Obwohl er vor allem fürs Fernsehen arbeitet, gilt der 1952 in München geborene Dominik Graf seit über 25 Jahren als einer der besten deutschen Kino-Regisseure. Filmisch war er seiner Zeit oft voraus. Das zeigt einmal mehr der Mafia-Thriller Im Angesicht des Verbrechens, eine für ARD und Arte produzierte zehnteilige Serie. Eines der mutigsten Fernsehprojekte der letzten Jahre, das seine Premiere im Internationalen Forum des jungen Films während der diesjährigen Berlinale feierte. Der Film war ein Herzensanliegen für Graf wie auch für seinen Autor Rolf Basedow. Im Angesicht des Verbrechens steht für die spürbare Rückkehr von Genre-Stoffen ins Kino: für Sex und Crime, Thrill und Action, Humor und Drama – ein wahres Epos als eine Art Krieg und Frieden, angesiedelt im Berlin der Gegenwart. Mit Dominik Graf sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Im Angesicht des Verbrechens erlebte seine Premiere auf großer Leinwand. Jetzt ist das Werk als Zehnteiler im Fernsehen zu sehen. Ist das Kino für diese Produktion – konzentriert als ein langer Film an zwei Tagen – nicht der angemessene Ort?
Dominik Graf: Unbedingt. Man könnte ihn im Fernsehen vielleicht auch aufzeichnen und dann geschlossen hintereinander in einem Fluss angucken. So schauen heute ja fast alle die Serien. Früher, als das wahre deutsche Kino auch in Vorabend- und Abendserien stattfand, waren dort Szenen zu sehen, die im deutschen Kino undenkbar gewesen wären. Heute ist der Vorabend im deutschen Fernsehen zerstört. Die USA haben ja die Ehre der Fernsehserien weltweit gerettet, aber ich habe manchmal das Problem, dass diese Serien dramaturgisch zu hochfrisiert sind. Und ästhetisch zu schematisch-gestylt. Die Amis brillieren dauernd mit irrwitzigen Plot-Wendungen, bei denen es völlig egal ist, wer sie inszeniert. Die einzelnen Episoden sind sozusagen nur noch Serien-Erzählung, niemals mehr Film. Das finde ich schade. Film im Kino bedeutet ja vor allem, dass man für alles mehr Zeit hat – und am Ende als Zuschauer vielleicht gar keinen dramatischen Pay-Off dafür bekommt.
artechock: Die Produktion war nicht einfach. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Graf: Ich kann nach zwei Jahren ununterbrochener Arbeit daran nur noch mutmaßen, ob der Film o.k. ist. Ich bin zufrieden, dass wir es überhaupt hingekriegt haben, und das nicht nur angesichts der Umstände, dass die Produktionsfirma sich verkalkulierte, insolvent ging und die Sender massiv Geld nachschießen mussten. Der Drehbuchautor Rolf Basedow hat ein kleines Epos wie eine Miniversion von Tausendundeine Nacht geschrieben. Es gibt einen Hauptstamm, das ist die Geschichte von zwei Polizisten, dann verästelt sich dieser Strang. Die Episoden sind verschieden, trotzdem ist das Ganze hoffentlich straff genug und wird von bestimmten Leitmotiven zusammengehalten. Im Grunde geht es bei Basedow immer um das, was bei uns nach der Wende passiert ist. Er verdichtet die von ihm recherchierte Realität bei der Polizei oder im Milieu zu einzigartigen Storys. Das einzige, was ich mir vorgenommen hatte, war eine dynamische Kapiteleinteilung, um den Eindruck der Gleichzeitigkeit und der Vielfalt zu erhöhen.
artechock: Was machen Sie da stilistisch genau? Ist das ein Sampeln?
Graf: Über einen so langen Erzählzeitraum tauchen bestimmte Dinge immer wieder auf. Bestimmte Szenen sind wie Leitbilder. Aber mit fortschreitender Erzählung kann man jedes Mal in dem Bild etwas anderes sehen, das heißt, die Hauptthemen bleiben zehn Folgen lang, aber sie verwandeln sich. Ich glaube, dass die erste Folge sehr komplex ist, weil man das, was da erzählt wird, noch nicht vollständig durchblicken kann. Das ist bei Basedow immer so: erst mal eine Ellipse. Ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist.
artechock: Es ist erstaunlich, dass das Fernsehen so etwas überhaupt zulässt: ein zehnminütiges Verweilen an Nebenschauplätzen, ständige Untertitel…
Graf: Naja, kann schon sein, dass die 25 Prozent Untertitel von ein paar Fernsehfunktionären in den höheren Etagen als harte Prüfung ihrer Duldsamkeit angesehen werden. Aber der Film wird ja erst nach 21.45 Uhr gesendet, da kann man sich das vielleicht erlauben, und wir wollen dem Fernsehen auch mal danken, dass es sich das viele Russisch, die Untertitel und einiges andere in diesem Fall leistet. Man kann einige Menschen dafür gar nicht genug loben: Wolf-Dietrich Brücker und Frank Tönsmann vom WDR, Stephanie Heckner vom BR, Andreas Schreitmüller von Arte und Thomas Martin vom SWR – allein diese fünf waren wie eine Verschwörergruppe für das Projekt. Auch Jörn Klamroth von der gern beschimpften Degeto – im entscheidenden Moment waren die alle da und haben vor allem in der schlimmen Zeit, als das Ganze durch die Insolvenz auseinanderzufallen drohte, ihre Schrauben unermüdlich gedreht, damit es fertig gestellt wurde.
artechock: Es gab in den letzten Jahren immer wieder Debatten über das Fernsehen und die Quoten. Es scheint so, als würden die „Quoten-Päpste“ immer autoritärer regieren...
Graf: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat zwei verschiedene Gesichter: Es gibt Leute, die kämpfen an vorderster Front um das Bestmögliche – man glaubt gar nicht, wie ausdauernd und wie stark und mit was für einem Willen, das Richtige zu tun. Und dann gibt es jene, die vollkommene Apparatschiks sind. Ich glaube, in manchen Funktionären lebt beides nebeneinander, der Filmfan und der Apparatschik. Man muss das bessere Ich des Fernsehens herausfordern, immer wieder. Das deutsche Fernsehen war mal mit das Beste der Welt, so lange, bis Zyniker es auf Teufel komm raus Richtung Quotenstadel umzubauen versuchten. Diese Entwicklung muss revidiert werden, sonst schafft sich das Fernsehen selbst ab.
artechock: Im Zentrum von Im Angesicht des Verbrechens steht die aktuelle Berliner Unterwelt...
Graf: Es ist ein Polizeifilm und auch ein Gangsterfilm, in dem Kriminalität manchmal selbstmörderische Züge trägt. Basedow recherchiert immer sehr genau, lebendig. Ich kann da als Regisseur nur versuchen, dem hinterher zu inszenieren. Das Buch war voll und prall. Man hat das Gefühl, dass Rolf die Seele der Figuren studiert hat. Die Gangster sind manchmal sympathischer als die Polizisten, weil sie tollkühn, ausgeflippt sind.
artechock: Weil sie extrem, abenteuerlich leben…
Graf: Ja. Dazu brauche ich dann aber auch einen solchen Autor, dem es gelingt, diese alten Gangster-Mythen auf eine neue Welt und eine neue Gesellschaft zu übertragen und gleichzeitig die Tugenden des alten europäischen Thrillers hochzuhalten – der Raum erzählen kann, Wege und komplizierte Abhängigkeitsstrukturen, sowohl im Kleinen einzelner Szenen als auch im Ganzen.
artechock: Sie zeichnen Städte sehr genau und spezifisch, etwa in München – Geheimnisse einer Stadt. Gibt es auch die Geheimnisse von Berlin? Das Berlin, das Sie zeigen, ist ein Berlin der Neureichen: dicke Wagen, kleine Leute, die aber dauernd mit 500-Euro-Scheinen wedeln. Das ist der irre gewordene Kapitalismus.
Graf: Ja, und der Finanzsenator, der bei dem Gangster eingeladen ist, verdient – natürlich privat – noch ein bisschen mit. Oder der Typ, der in Folge 7 oben im Hotelzimmer im schwarz-rot-goldenen Bademantel auf die Prostituierte wartet, mit der er dann Opern hört und Tee trinkt – mit Blick auf den Potsdamer Platz. Das sind Gestalten des neuen Berlin. Bereicherung, Umbau, Protz. Und zwar mit der Absicht, dass man kaum noch etwas wiedererkennt. Diese Kohle, die in den Prenzlauer Berg gesteckt worden ist, produziert kein neues Leben, sondern ein neues Spießertum. Ich könnte über Berlin keinen Liebesfilm machen wie über München. Die Stadt ist in den letzten Jahren eine Touristenstadt geworden. Das ist nicht mehr die Stadt, die ich vor der Wende kannte, aber auch nicht mehr die aus den 1990er-Jahren, als noch wesentlich mehr Ruinen und Brachen der Stadt etwas Freizügiges, Zeitloses gaben. Heute ist Berlin immer „wichtig, wichtig“, ein potemkinsches Dorf, und man wünscht sich, dass all die frischen Hausanstriche möglichst schnell wieder verblassen, damit die schönere Wahrheit und Geschichte darunter zum Vorschein kommt.
artechock: Wo würden Sie sich selbst als Regisseur verorten? Im Genrekino?
Graf: Ja, klar. Ich hab doch immer am liebsten Polizeithriller inszeniert, es macht mir einfach am meisten Spaß. Inzwischen komme ich mir fast so vor, als versuchte ich dabei, alte Filme neu zu machen. So halte ich die Genre-Flagge hoch. Das ist meine Schwäche und meine Passion. Im Kino ist das bei uns natürlich schwierig. Die Milieu- und Polizei-Filme, die wir im Fernsehen gemacht haben – mit Rolf Basedow, mit dem ich sieben Filme realisierte, und die mit Günter Schütter –, sind Drehbücher gewesen, von denen wir stets fürchteten, dass man sie außerhalb des Fernsehens gar nicht mehr machen kann. Hotte im Paradies lag mal bei der Filmförderung und wurde abgelehnt. Er sollte dann, als er fertig war, eine Verleihförderung bekommen – sie wurde zweimal abgelehnt. Genrefilme, Milieu-Filme dieser Art, sind bei uns im Kino nicht mehr zu machen. Sie haben angeblich kein Publikum. Eine Stadt wird erpresst von Rolf Basedow war ein unglaublicher Stoff, den ich gerne fürs Kino gemacht hätte. No way. Nicht mal mitteldeutsche Fernsehförderung haben wir dafür bekommen. Letzten Endes geht es dann wie bei allen Filmen aber vor allem darum, dass man sie doch gemacht hat. So gesehen ist Im Angesicht des Verbrechens der „Überfilm“, der Langfilm, den wir immer schon machen wollten. Nichts desto trotz ist er ein Film, der nur vom Fernsehen zu realisieren war. Eben eine Miniserie.
artechock: An welches Kino denken Sie, wenn Sie von „Genre“ sprechen? An Filme der Gegenwart?
Graf: Um Gottes willen, nein. Die besten Polizeithriller-Zeiten waren für mich die ausgehenden 1970er-, beginnenden 1980er-Jahre, als das europäische Genre schon anfing zu zerbröseln. Davor war Jean-Pierre Melville – und der war groß. Was nach Melvilles Tod dann von Alain Corneau, José Giovanni und anderen kam, diese Härte und diese manchmal inszenatorische Leck-mich-am-Arsch-Haltung, die Präzision und Unordentlichkeit gleichermaßen, die fehlt mir im modernen Kriminalfilm. Das zeitgenössische Spannungskino ist von einer unglaublichen Aufgeräumtheit und Kühle. Ob man Michael Mann nimmt, Public Enemies oder zeitgenössische Chinesen: Es ist alles auserzählt und furchtbar gut gemacht – man findet gar nicht mehr die Lücken, wo man sagen kann: Oh, das war jetzt aber frech! Mir fehlen Lockerheit und Wurschtigkeit in der Inszenierung, auch Humor in den absurdesten Situationen. Im modernen Kriminalfilm fehlt eine Art Höllengelächter. Ausnahmen sind vielleicht ein paar Gangsterfilme von Miike Takeshi. Nein, das Genre nimmt sich zu ernst, ist zu gestylt, zu cool. Aber es passt zum Rest: Wir kennen unsere Schattenseiten gar nicht mehr. Wir hören auf zu rauchen, zu saufen, was lassen wir noch alles weg? Wo soll da noch Interessantes entstehen? Jeder achtet halt auf seinen Cholesterinspiegel.
artechock: Aus so einer Welt kann man kein Drama mehr erzählen, und schon gar keinen Genrestoff.
Graf: Naja, man kann andere Filme erzählen. Das habe ich ja auch versucht, in den Melodramen um die Jahrtausendwende – Bittere Unschuld, Deine besten Jahre, Kalter Frühling –, die alle in Villen und hübschen Häusern spielen. Auch Der Felsen war letzten Endes so etwas. Aber für Thriller bieten diese Leute nicht genug Widerstand, auch nicht so viel Interessantes. Man hat nicht den Eindruck, dass man auf unglaubliche Katarakte von Sünden stoßen würde, wenn man die Tür zum Upperclass-Deutschland einmal weit aufstoßen würde.
artechock: Wie sieht die Zukunft einer Gesellschaft aus, die nur auf ihren Cholesterinspiegel achtet?
Graf: Es ist eine tote Gesellschaft. Wir werden irgendwann aussterben – so wie das der Polizeichef in der Mitte von Im Angesicht des Verbrechens einmal sagt: »Wir sterben aus. Aber solange wir noch hier sind, können wir noch ein bisschen was tun.«
artechock: So präzise Ihr Film auch ist – eine Ebene bleibt ausgeblendet: die der Politik. Sie zeigen wirtschaftliche Macht, entlarven den Kapitalismus, aber Politik hinterlässt nur am Rande Spuren; mal ein Anruf von oben, mal ein Senator auf einer Mafia-Party. Woran liegt das?
Graf: Bei einem Film der „Morlock“-Serie mit Götz George damals, 1992, hat Basedow versucht, zu erzählen, wie der Osten nach der sogenannten Wende verscherbelt wurde. Bei Die Sieger habe ich das im Westen versucht, mit von der Mafia gekauften Politikern. Eine Ausnahme. Ich hatte immer das Gefühl, dass man Politthriller in Deutschland nicht machen kann. Früher waren die Schauspieler zu aufdringlich, um Politiker zu spielen, jetzt sind die Politiker viel zu kleinbürgerlich – auch wenn sie Aristokraten sind –, und ängstlich, als dass man ihnen antike Tragödien zutrauen würde. Das einzig mögliche Politdrama ist Möllemann, Hochmut und Fall sozusagen. Im Frankreich und im Italien der 1970er- und 1980er-Jahre gab es wirklich Korruptionsskandale, da stürzten Regierungen und wurden Leichen in den Fundamenten einbetoniert, Vatikan-Banker aufgehängt an Brücken gefunden. Solche barbarischen Zustände in der korrupten Politik gab und gibt es bei uns gar nicht. Was will man von unseren Verhältnissen erzählen? Intrigen mit hohem Body Count, mit Geheimbünden und Geheimdiensten? Das wäre lächerlich. Man könnte das Drama irgendeines Gewerkschaftsführers bei VW erzählen. Das Drama bestünde dann darin, dass so ein kleiner Mann irgendwelche Lustreisen bezahlt bekommt und sich dabei vielleicht wirklich in eine Hure zu verlieben glaubt, so dass er nicht mehr zurück will. Das wäre ein Gefühlsdrama. Aber das hat nichts mit großer Politik und riesigen Intrigen oder mit Leichenhaufen, Geheimbünden und Geheimdiensten zu tun. Von Bourne Identity keine Spur. Das ist schon alles sehr zivil geworden.
artechock: Ist das die Hauptschwierigkeit, auf die Genrekino in Deutschland stößt?
Graf: Nein. Das Genrekino war bei uns schon immer ein unterprivilegierter „bad boy“. Wir sind einerseits in der Realität kriminell nicht ganz auf Weltniveau. Obwohl: der RAF- Terrorismus... aber der darf wiederum nicht als Genre erzählt werden, sondern nur als Sozialmelodram. Der Banküberfall in Gladbeck 1988 war auch eine Ausnahme. Terrorismus meets Kleingangstertum. Ein großer, irritierender Moment, bei dem man das Gefühl hatte, dass der Staat von Gangstern vorgeführt wird. Es herrschte für ein paar Stunden so etwas wie Waffengleichheit. Heute gibt es Überwachungskameras an jedem Dach und Totschläger in der U-Bahn. Das wäre auch ein Thema. Aber Selbstjustiz – damit ist was anderes gemeint als Zivilcourage – ist in Deutschland ein absolut verpöntes Thema. Bei Der scharlachrote Engel bekam ich Ärger, weil man die Notwehr eines traumatisierten Vergewaltigungsopfers bereits als eine Form der Selbstjustiz empfand. Bei Wut (2005) von Zülü Aladag gab es verschämte Ausstrahlungstermine. Allerdings merkte man dabei, was in dem Thema drin ist. Ob in den Filmförderungen davon irgendwas angekommen, weiß ich nicht. Dort gibt es bei „heißeren“ Stoffen ja immer die Möglichkeit, sich hinter der vermeintlich „fehlenden Kommerzialität“ zu verstecken. Diese Argumentation könnte man längstens abschaffen. Ich glaube, dass die Filmfördergremien inzwischen längst wieder Spaß hätte an einer kulturellen Definition ihrer Zielrichtung.
artechock: Wäre es denn erlaubt oder überhaupt möglich, sich mehr Fantasie gegenüber den historischen Fakten herauszunehmen: Irgendwelche echten Polit-Schurken mit korrupten oder sexuellem Doppelleben? Oder eine Art Freimaurerloge oder eine große Verschwörung gegen die Republik? Das wären ja alles Genrestoffe.
Graf: Es gab und gibt Projekte. Aber der Irrealis, in dem so etwas dann spielt, der „Was wäre wenn?“-Aspekt, der gerade der Witz an so einer Sache ist, passt nicht zum Verständnis der deutschen Branche. Die Türen für solche Stoffe sind in Deutschland nicht offen. Man darf ellenlang über einen Vulkanausbruch in der Eifel erzählen, aber nicht von politischen Verschwörungen, die die Gegenwart fiktiv dramatisieren. Dazu ist die deutsche Filmlandschaft zu mutlos, zu trocken. Die Courage ist nicht da, politische Stoffe auszuprobieren, die im ersten Moment vielleicht »irreal« erscheinen, die aber auch wahnsinnig unterhaltsam sein könnten.
artechock: In Im Angesicht des Verbrechens wird viel von Ehre, manchmal auch von Rache gesprochen; ganz archaische Moralbegriffe spielen im Leben der Gangster, aber auch der Polizisten eine Rolle. Wo stehen Sie da?
Graf: Erstmal einmal freut es mich ungemein, wenn ich Szenen im Drehbuch lese, die so von Leidenschaft durchdrungen sind. Welche Emotion dahinter steht, Rache oder etwas anderes, ist zunächst egal. Dann macht es Riesenspaß, dies mit guten Schauspielern zu inszenieren. Ich glaube, dass ist es, worum es mir am meisten geht: Ich mache die Filme, die ich mache – und andere dann eben nicht –, weil ich mir davon sehr viel Freude verspreche. Manchmal wird es ein bisschen anstrengend, wie bei Im Angesicht des Verbrechens. Aber wenn ich dann im Schneideraum oder in der Mischung sitze, dann freue ich mich auch beim 25. Mal wieder daran, was da Tolles geschrieben wurde.
artechock: Sie sind also ein glücklicher Filmemacher?
Graf: Es gibt Momente, da ist man so unglaublich glücklich. Das sollte man lieber diskret behandeln. Dann gibt es natürlich die Momente, die so unglaublich anstrengend sind – manchmal lohnt sich ja die Anstrengung. Man weiß, dass es zu etwas Gutem führt, und insofern ist dann auch die Anstrengung interessant. Aber es gibt auch Anstrengungen, die einfach nur zäh und dumm sind und auf Denkbarrikaden der deutschen Branche beruhen. Ich bin in der Branche aufgewachsen. Ich weiß von meinen Eltern, wie stroh-blöd es beim deutschen Film zugehen kann. Das schreibe ich in meinen Texten, und diese Texte sind manchmal wie eine Selbsttherapie. Manche Filmkritiker haben eine große Sehnsucht danach, dass Regisseure „cool“ sind. Die möchten dann, dass Claude Sautet genauso cool ist wie seine Dialoge. Dabei war er ein ständig aufbrausender Tyrann. Ein Korinthenkacker. Cholerisch.
artechock: Ist es denn überhaupt nötig, sich – wie Sie das in Ihren Texten über das Kino tun – mit den Kleingeistern der deutschen Szene auseinander zu setzen?
Graf: Die „Kleinen“ sind in der Wirkung ja gar nicht so klein. Die Apparatschiks der Branche haben einen großen Einfluss auf den Niedergang des gesamten deutschen Kinos. Ich schreibe meine Artikel – das Wort »Texte« finde ich immer zu hochgestochen – aus einer großen Liebe zu alten Filmen heraus. Es handelt sich ja nicht um Parteireden. Dass diese Liebe gleichzeitig eine Verwunderung über die Defizite der Gegenwartsfilme bei mir auslöst, ist mir im Nachhinein manchmal etwas peinlich. Hat aber auch seinen Grund: denn die filmische Gegenwart attackiert ja alle übrigen Film-Zeiten. Allein diese Filmkanons, die seit dem 100. Geburtstag des Kinos im Jahr 1996 endgültig geschmackliche Klarheit darüber schaffen wollen, was bleibt und vor allem was nicht – diesem Trara muss man im Namen von Film, Fernsehen und dschungelhafter Vielfalt ganz heftig widersprechen. Die Ergebnisse des Regulierungswahns sieht und hört man deutlich, wenn man an den deutschen Filmschule zu Gast ist. Die zweite Attacke der Gegenwart auf die Art Filme, die ich liebe, ist technisch-industrieller Natur: die Digitalisierung, der HD-Schwachsinn, all das schafft zur Zeit eine Art ideal gereinigtes Filmbild an sich, einen Begriff vom Bild, der der anarchischen, der schmutzigen Seele des Films an sich völlig widerspricht. Wir leben in einem Land, das sich in einem aggressiven Normierungswahn befindet. Ich aber habe einen Beruf, der keine Normen und keine Schubladen verträgt. Ich möchte die Schönheiten und herrlichen Unberechenbarkeiten meines Berufs gegen die Eingriffe der Kultur-Regulierer gerne verteidigen.
Literaturhinweis: 2009 erschien das lesenswerte Buch, Dominik Graf »Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film« herausgegeben von Michael Althen. Alexander Verlag, Berlin 2009, 376 Seiten. Preis: 19,90 €