Deutschland 2010 · 490 min. · FSK: - Regie: Dominik Graf Drehbuch: Rolf Basedow, Dominik Graf Kamera: Michael Wiesweg Darsteller: Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Misel Maticevic, Marie Bäumer u.a. |
||
Wahre Gangsterschaft: Perlen für die Schöne |
Die Stadt ist der Abgrund. Sie ist auch das Paradies. Himmel und Hölle treffen sich in Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens, so wie Kinoanspruch und Fernsehrealität. Ursprünglich als Achtteiler für WDR/arte produziert, läuft die Serie nun als Zehnteiler, zuerst auf arte ab dem 27. April. Man darf gespannt sein, wie die Zuschauer dies annehmen. Denn zweifellos gehört Im Angesicht des Verbrechens am Ende ins Kino. Dort, das zeigte sich bei der Premiere während der Berlinale, funktioniert die Serie blendend – ein Ereignis, dessen Intensität sich die Zuschauer nicht entziehen konnten, gerade weil hier die üblichen Maßstäbe auch zeitlich gesprengt werden, und man zweimal je knapp 5 Stunden im Kino saß. Das ist formal nur mit der bald 20 Jahre zurückliegenden Die zweite Heimat von Edgar Reitz vergleichbar, die einen ähnlichen Sog entwickelte. Im Kino drängt sich der Vergleich mit ganz Großem auf: Coppolas Der Pate liegt schon deswegen nahe, weil auch dies eine Mafia-Geschichte ist, Bertoluccis Novecento durch den epischen Ton, in dem hier erzählt wird, und die Ruhe, mit der sich Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow Zeit lassen für Ellipsen, für Exkurse, und ihren Geschichten Raum geben, in die Breite zu schweifen, sich von sich selbst zu entfernen.
Es sind gerade diese Exkurse, in denen sich Grafs Meisterschaft zeigt: Etwa das Treffen eines West-Berliner Altgangsters und eines ehemaligen Sowjet-Generals, dessen Untergebene gerade dabei sind, sich Berlin unter den Nagel reißen: Sie reden über die alten Zeiten, und plötzlich erinnert man sich wieder, dass der Westteil der Stadt schon in den 1920er-Jahren wegen der vielen russischen Emigranten »Charlottengrad« hieß, und daran, dass der Name Berlin ursprünglich vom russischen Wort für »Sumpf« abgeleitet ist. Denn Berlin war ein Sumpf, und Graf zeigt, dass das in gewisser Weise bis heute gilt.
In einer anderen, in sich geschlossenen Nebenepisode trifft der von Max Riemelt gespielte Held, ein junger Polizist namens Gorsky, der in einer Spezialeinheit die Russenmafia jagt, die ehemalige Freundin seines ermordeten Bruders, der selbst Mitglied der Mafia war. Sie lebt im deutschen Osten, ist dort verheiratet und will von der Vergangenheit nichts wissen, obwohl die sie noch komplett im Griff hat. Wie Graf und seine junge Darstellerin in einer einzigen Szene in wenigen Minuten deren ganzes Leben erzählen, ist einfach großartig. Ähnliches gilt für die Figur einer jungen Barfrau in einer Russendiskothek, die sich in einen Gangster verliebt hat, obwohl sie um die Gefahren des Milieus weiß – in wenigen, exzellent gespielten und inszenierten Szenen wird ihr Charakter ganz prägnant.
Nicht weniger meisterlich sind die Actionszenen. Man hat so etwas im deutschen Kino lange nicht mehr gesehen: Überfälle, Razzien, Schlägereien, Verfolgungsjagden. Das ist lustvoll und doch nie Selbstzweck. Aber Graf weiß, dass es im Kino eben am Ende nicht um Plots und den »human factor« geht, sondern nur um das, was man sieht, um visuellen Mehrwert und Verschwendung im ästhetischen Sinne. Jede Folge hat eine solche Szene, weshalb man fast annehmen könnte, dass der Regisseur kleine Reverenzen im Kopf hatte, von Heat oder Seven bis zu Wenn die Gondeln Trauer tragen – in solchen Momenten ist Grafs Filmemachen grandioses Bewegungskino. Zugleich ist das alles eher am europäischen Kino der 1970er-Jahre orientiert, an Rosi, Verneuil und anderen Franzosen, als an den coolen amerikanischen Polizeifilmen der Gegenwart. Ein Kino, das schrill ist, grob, manchmal vulgär und mitunter kolportagehaft – weil diese Elemente eben auch zum Epischen gehören und zur Kunst der Überschreitung.
Im Zentrum aber steht die Geschichte einer Familie, ihrer Schicksale und Verzweigungen. Verbrechen und Strafe gibt es dort, Krieg und Frieden, Polizisten und Gangster. Nicht unwichtig ist es, dass diese Familie deutsch, aber aus Lettland emigriert ist, also einen jüdischen Hintergrund hat und nicht nur verfolgt wurde, sondern gegen die Nazis auf Seiten der Russen stand – große Geschichte im Kleinen, auch dafür ist „Im Angesicht des Verbrechens“ ein Musterbeispiel. Der Film handelt am Ende in vielen seiner Figuren davon, wie ein Einzelner sich und seine Freiheit behaupten kann in einer Welt, die für Freiheit wenig Sinn hat, wobei der Platz des Einzelnen vor allem über seine Herkunft und die Gruppenzugehörigkeit definiert ist. Durch diese Familie wird ein Stück aus dem Untergrund der Stadt Berlin und ihrer Gegenwart erzählt, das wahr ist und treffend und doch noch nie thematisiert wurde. Bewundernswert, wie wuchtig und dicht das alles gestaltet ist: Grafs Kunst erinnert an Robert Altmans Short Cuts, mit Dutzenden von Cliffhangern, zwischendurch arbeitet er mit Splitscreens und versteht es jederzeit, den Überblick zu behalten. Ein Meisterwerk des Kriminalfilms.