»Es geht ausschließlich um Schönheit!« |
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Mia Hansen-Løve am 13. Februar 2016 auf der Berlinale. | ||
(Foto: Paul Katzenberger via Wikimedia Commons) |
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
Die Französin Mia Hansen-Løve gehört zweifellos zu den interessantesten Regisseurinnen der Gegenwart. Erst 41, hat sie in diesem Jahr bereits ihren achten Spielfilm fertiggestellt: An einem schönen Morgen erzählt von einer jungen Frau, die zwischen verschiedenen Herausforderungen und Gefühlszuständen hin- und hergerissen ist.
Vergangene Woche
eröffnete Un beau matin die diesjährige Ausgabe des Festivals »Around the World in 14 Films« in Berlin. Dort haben wir jetzt mit Mia Hansen-Løve gesprochen.
artechock: Sie erzählen in Ihren Filmen, so scheint mir, immer persönliche Geschichten. Aber inwieweit ist die Geschichte von Un beau matin eine besonders persönliche Geschichte?
Mia Hansen-Løve: Alle meine Filme sind persönlich. Insofern ist es für mich schwer, hier einen Unterschied zu machen. Sie sind deswegen aber nicht alle notwendig autobiographisch. Obwohl man mich sehr oft so definiert...
artechock: Keine Sorge, definieren möchte ich Sie damit keineswegs. Genauso wenig möchte ich Sie psychoanalysieren...
Hansen-Løve: Genau! Das ist schön zu hören. Aber sie sind alle durch Erfahrungen aus meinem Leben inspiriert – auf die eine oder auf die andere Weise: manchmal sind es Erfahrungen aus meiner Vergangenheit. Manchmal aus der Gegenwart. Manchmal handelt es sich aber gar nicht um mein eigenes Leben, sondern einfach nur um Menschen, die ich gekannt habe oder die mir sehr viel bedeutet haben. Diesen Film könnte man als den Film von mir bezeichnen, der am frontalsten, direktesten autobiographisch ist. In der Weise, dass er teilweise durch die Krankheit meines Vaters und durch mein Verhältnis zu meinem Vater inspiriert ist. Insofern ist es sehr leicht,
artechock: Das ist es, was ich gespürt hatte, als ich den Film gesehen habe. Weil ich auch wusste, dass zum Beispiel Eden sehr viel mit der Geschichte Ihres Bruders zu tun hatte. Darum habe ich danach gefragt. Nun macht es ja einen Film nicht besser oder schlechter, wenn er autobiographisch ist. Das ist klar!
Aber jeder Filmemacher hat einen ganz verschiedenen Zugang zum Autobiographischen und dazu, wie persönliche Erlebnisse in einem Film einfließen. Es könnte ja besonders schwierig sein, sich ganz direkt mit unangenehmen persönlichen Erlebnissen auseinanderzusetzen.
Wie machen Sie das? Wie bereiten Sie sich vor, wenn Sie schreiben? Wenn Sie reale Personen oder Erlebnisse als Vorbilder haben? Versuchen Sie sich, dann zu distanzieren? Versuchen Sie, andere weniger direkte Perspektiven einzunehmen?
Hansen-Løve: Ich denke, die Distanz kommt durch das Schreiben selbst. In dem Moment, wo ich eine Geschichte auf dem Schreibtisch habe, und anfange zu schreiben, wird es eine fiktionale Geschichte. Ganz egal, wie persönlich nahe meinem eigenen Leben Figuren und Geschehnisse sind. Es wird eine Fiktion in dem Moment, in dem ich ein Papier nehme und die erste Szene schreibe. Die Distanz kommt durch den Schreibprozess. Dann stelle ich mir den
Film vor, dann denke ich plötzlich in Kameraeinstellungen und in Bildern. Ich denke an Schauspieler. Und wenn ich beginne, an Schauspieler zu denken, kommt noch mehr Distanz dazu. Vielleicht waren die Figuren zuerst ein Teil meines Ichs – aber dann werden sie jemand anderes. Ich sehe jemand anderen, wenn ich eine Szene schreibe. Ich sehe nicht mehr mich selbst. Das gerade ist es, was ich besonders genieße.
Mein Film Bergman Island war eine Meditation über genau den Prozess, über die Frage, über die wir jetzt gerade reden...
artechock: ...an genau den Film habe ich natürlich auch gedacht...
Hansen-Løve: Das, was mir am Filmemachen so großen Spaß macht, ist exakt dieser Prozess: Man kann mit einem ganz intimen Material beginnen, aber am Ende wird es pure Fiktion. Auch wenn es voller Fakten aus dem eigenen Leben ist, und man versucht, so ehrlich und aufrichtig wie möglich zu sein.
Es ist noch immer eine Rekreation, eine Neuschöpfung. Wenn man im Schreibprozess ist, kann man alles machen: Man kann Wirklichkeit bauen.
Wirklichkeit ist nichts. Wirklichkeit ist wie Wasser. Man kann sie nicht festhalten. Es sei denn, man erfindet sie neu. Und das bedeutet, dass man eine Distanz schaffen muss. Dass man wählen muss, in welcher Reihenfolge man die Dinge erzählt. Das ist alles eine Erfindung und am Ende hat es überhaupt nichts mehr mit der Realität zu tun, die unsere Alltagswirklichkeit ist: die ist nämlich chaotisch und gleichzeitig und unsichtbar. Sie ist überall und nirgends.
Das ist es aber gerade,
was ich daran mag, ins Kino zu gehen: am Ende hält man es für Wirklichkeit. Kino ist auch eine Form von Sicherheit. Ich würde mir wünschen, die Wirklichkeit wäre etwas, das man so festhalten kann – innerhalb von zwei Stunden eines Films: Dies ist also die Wirklichkeit. Dies ist mein Leben.
Nun ja: mein Leben hat lange vorher angefangen und es geht danach wieder weiter. Und zu meinem Leben gehören viele Dinge, die nicht in diesem Film sind. Aber es ist eine sehr schöne Form von
Selbstbestätigung und Selbstversicherung, sich sagen zu können: die Essenz ist da. Diese Augenblicke sind eingefangen in einem Film. Das ist natürlich eine Illusion. Aber ich denke ich mache genau deswegen Filme: Weil ich diese Illusion kreieren möchte, für mich – und hoffentlich für das Publikum ebenso.
artechock: Darum gehen wir, glaube ich, alle ins Kino: weil wir immer wieder diese zwei Stunden guter und schöner Illusion wollen.
Haben Sie einen ähnlichen Spaß und Aufregung, wenn Sie dann einen Film drehen und wenn Sie im Schneideraum sitzen, oder macht Ihnen der Schreibprozess am meisten Spaß?
Hansen-Løve: Ich glaube, der Spaß liegt gerade in der Vielfalt dieser verschiedenen Schritte und Stadien, die am Ende zu einem Film führen. Ich denke, der größte Spaß ist die Abwechslung und das Zusammenspiel dieser verschiedenen Schritte.
Ich liebe es, die Einsamkeit und die Schwierigkeiten des Schreibens zu verlassen – aber es ist natürlich auch eine Phase, die ich sehr genieße: Denn niemand drängt mich; was immer ich will,
kann ich schreiben. Niemand sagt mir: das kannst du doch nicht machen! Das ist zu teuer! Du musst diesen und jenen Menschen um Erlaubnis fragen.
Es ist der eine einzige Moment in dieser ganzen Arbeit, in der man wirklich frei ist. Ich liebe diese Phase! Aber es ist auch der schmerzhafteste Moment. Denn man muss ganz allein Lösungen finden.
Wenn man dann dreht, ist man weniger frei. Aber auf der anderen Seite ist man in ein Team eingebunden und bekommt Hilfe dabei, Lösung für Probleme
zu finden.
Und im Schneideraum ist es wieder etwas ganz anderes. Man ist zu zweit. Es ist ein Duell.
Also: Das, was ich beim Filmemachen besonders einzigartig finde, ist, dass man von der einen Art zu arbeiten zu einer ganz anderen kommt. Das ist einzigartig.
artechock: Die Montage all Ihrer Filme wirkt besonders fluide und frei. Drehen Sie besonders viel Material? Schreiben Sie alle Dialoge so auf, wie Sie dann im Film gesprochen werden? Oder gibt es am Set Raum für Improvisation?
Ich habe mich letzte Woche lange mit Albert Serra unterhalten. Er hat mir erzählt, dass er etwa 540 Stunden Filmmaterial für seinen Film Pacifiction gedreht hat.
Und im Drehbuch stehen keine Dialoge. Er verlangt von seinen Schauspielern – egal ob sie professionelle Schauspieler sind oder Laien –, dass sie fortwährend absolut improvisieren. Auch die Dialoge. Sie müssen reden und reden und weiterspielen, notfalls stundenlang, bis er »Cut« sagt. Das ist eine sehr interessante Methode – ich vermute, Sie arbeiten anders. Ist Ihre Arbeitsweise das Gegenteil, oder können Sie damit etwas anfangen?
Hansen-Løve: Manche Leute würden über meine Filme sagen, dass sie sehr realistisch sind. Vielleicht heißt das nicht wirklich viel, aber es sagt, auf welcher Seite ich stehe, was diese Filme wollen... Vielleicht weil meine Filme der Wirklichkeit schon so nahe sind, versuche ich genau deswegen nicht, dem noch was hinzuzufügen... und alle improvisieren... und alles ist sehr locker... Wissen Sie...
Ich mag es, wenn meine Filme sehr
präzise sind. Ich möchte, dass jedes Wort Gewicht hat. Ich wähle im Drehbuch dieses Wort und nicht jenes. Und ich möchte, dass genau dieses Wort auch von den Schauspielern benutzt wird.
Ich suche nach einer Art Dichte. Und das erklärt, warum meine Filme so ziemlich das Gegenteil sind von der Methode von Albert Serra, den Sie erwähnt haben.
Aber dann kann man innerhalb von diesem Rahmen hier und da einige Momente haben, in denen Improvisation Sinn macht. Besonders, wenn es um Kinder
geht. Ich denke nicht, dass man mit Kindern ganz präzise drehen kann. Ich glaube nicht, dass man mit ihnen auf die gleiche Weise arbeiten kann, wie mit Erwachsenen. Kinder brauchen Freiheit, um vor der Kamera wahrhaftig zu sein. Und ich versuche immer Szenen, in denen Kinder vorkommen, auf eine Weise zu schreiben, in der Kinder in der Lage sind, zu improvisieren, in der sie nicht viele Dialogsätze auswendig lernen müssen. Mir machen die Unordnung und das Chaos, das die Anwesenheit von
Kindern an den Set bringt, sehr viel Spaß. Ich genieße das.
In dem Sinne sind meine Filme sehr kontrolliert: ich verlange von den Schauspielern, dass sie ihre Dialoge lernen. Und ich weiß am Morgen genau, was ich am Set machen will. Ich filme nicht 10 Stunden mit drei Kameras, um am Schluss fünf Minuten im Schneideraum zu haben. Mir gefällt die Idee, wirklich genau auszusuchen, was ich mache.
Aber innerhalb dessen gibt es andere Wege, um Freiheit innerhalb eines kontrollierten Set
zu finden.
artechock: Das Schwierige ist ja immer, wie man Emotionen schafft und vermittelt. Eine der Stärken ihrer Filme ist, dass das immer sehr gut funktioniert, und es funktioniert in An einem schönen Morgen. Dass man hier gleichermaßen von sehr verschiedenen Dingen berührt ist. Das und die Wirkung beim Publikum ist, glaube ich, etwas, was man nicht planen und absolut kontrollieren kann. Oder würden Sie sagen, das kann man alles sehr gut planen? In welcher Weise?
Hansen-Løve: Die Sache ist ja die, dass Emotionen sehr subjektiv sind. Wir sind nicht alle von den gleichen Dingen auf die gleiche Weise berührt und bewegt. Einige Filme produzieren eine sehr unmittelbare Emotion, die aber nicht lange anhält. Andere Filme tun genau das scheinbar nicht; aber plötzlich ist man hinterher oder nach einer bestimmten Weile doch von ihnen erstaunlich berührt. Man fühlt manchmal eine sehr tiefe Emotion, die aber
nicht notwendig durch die offensichtlich gefühlvollen Szenen eines Films ausgelöst wird. Insofern gibt es, glaube ich, eine Unendlichkeit von Gefühlen, die Filme auslösen können – und manchmal sind sie sehr oberflächlich, und dann wieder sehr tief. Aber es sind nicht notwendig diejenigen, die man fühlt, während man den Film sieht, und die einen zu Tränen rühren, auch die tiefsten Gefühle.
Darum konzentriere ich mich eigentlich gar nicht darauf, bestimmte Gefühle
auszulösen.
Natürlich drehe ich meine Filme mit meinen eigenen Gefühlen, und versuche ihnen treu zu sein, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und meine ganz eigenen Gefühle durch den Film zu vermitteln. Das ist schwer genug: dass man die Gefühle, die man während des Schreibprozesses hatte, nicht während des Drehs verliert. Denn es gibt beim Dreh so viel Lärm um einen herum, während man einen Film macht – Technik, Leute – das ist schwierig, bei sich selbst zu bleiben, sich
wieder in sich selbst zu versenken und in die Quelle der Gefühle, die einen lange Zeit zu diesem Film motiviert haben. Ich würde aber sagen, dass darauf meine ganze Aufmerksamkeit abzielt.
Aber es geht nicht darum, genau diese Gefühle auch zum Publikum zu bringen. Das ist deren Sache. Das hängt von den Empfindungen und der Sensibilität des Publikums ab. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht kontrollieren kann. Ich sehe meine Filme nicht als Medien, um dem Publikum etwas Bestimmtes
darzubringen.
artechock: Welche Art von Publikum haben Sie eigentlich im Sinn?
Hansen-Løve: Ganz ehrlich: Ich habe kein Publikum im Kopf. Alles was ich dazu sagen kann, ist: Ich respektiere die Intelligenz der Leute vollkommen. Ich habe nie auf die Ratschläge all dieser Leute gehört, die einem raten, man müsse diese oder jene Publikumstypen im Auge haben, und die Art, wie man eine Geschichte erzählt, an diese Typen anpassen.
Für mich bedeutet der Respekt vor dem Publikum, dass ich erstmal davon ausgehe, dass sie
alles verstehen können. Dass sie so sensibel sind wie ich selbst. Dass sie alles verstehen. Ich bin mir bewusst, dass das manche Leute missverstehen und mir unterstellen, eine Haltung zu haben, die elitär ist, »herablassend« [Hansen-Løve benutzt hier das deutsche Wort]. Als ob ich sie missachtete. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Ich denke, dass sehr kommerzielle Filme – und nicht nur kommerzielle Filme, auch manche Autorenfilme – die total explikativ sind und die
alles erklären und auserzählen und nichts offen lassen, die dem Publikum dauernd mit allen möglichen Mitteln nahelegen, was sie denken und vor allem fühlen sollen, dass solche Filme die eigentlich herablassenden und publikumsverachtenden sind.
Ich hasse solche Filme als Teil des Publikums – denn in den meisten Fällen bin ich ja ein Teil des Publikums, bin ich Kinogänger. Ich finde, man behandelt mich da wie einen Trottel. Als ob man mir das Leben erklären müsste!
artechock: Aber natürlich gibt es einen schmalen Grat zwischen dieser offenen Manipulation, die Sie gerade beschrieben haben, und den kleinen Hilfestellungen, die ein Film bieten kann, um einen in die richtige Haltung zu bringen, um den Film schätzen zu können, die das Publikum für einen Film öffnen können...
Hansen-Løve: Ich denke, ob das Publikum Zugang zu einem Film findet, das hat ganz viel mit seinem Rhythmus zu tun. Ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, dass meine Filme nicht langweilig sind. Ich mache mir sehr viel Gedanken darüber, dass meine Filme die notwendige Länge nicht überschreiten.
Stil und Form sollte sich selbst nicht in den Vordergrund drängen. Der Stil sollte transparent sein. Er sollte nicht zum Inhalt werden. Er
sollte nicht so zu sehen sein, dass die Zuschauer glauben, das müssten Sie jetzt beachten. Ich versuche, keine Bilder und Kameraeinstellungen zu machen, die zu lang sind, und die zu eindrucksvoll sind. Ich rufe eher »Cut!« oder mache einen Schnitt im Schneideraum, damit die Geschichte weitergeht, auch wenn ich eine Einstellung sehr schön finde.
Ich kümmere mich immer eher um den Rhythmus, als um die »Sophistication« und den anspruchsvollen Charakter eines Bildes. Der Kameramann
und ich haben sehr viele anspruchsvolle und schöne Aufnahmen gemacht, aber nie auf eine Weise, dass die Leute das sehen müssen.
Klarheit und Transparenz des Stils sind immer das gewesen, nach dem ich gesucht habe. Und das hat zu tun mit meinem Respekt vor dem Publikum.
Ich will ihnen ein möglichst direkten Zugang zu dem Film geben. Aber ich will die Leute nicht »beeindrucken«.
artechock: Also: Es geht nicht nur um Schönheit. Aber wie wichtig ist Schönheit? Denn es kann ja eine Schönheit in den Kameraeinstellungen genauso liegen, wie in dem, was die Schauspieler hinzufügen. Aber auch im Rhythmus...
Hansen-Løve: Ich denke, es geht ausschließlich um Schönheit! Aber es geht um die Schönheit des Lebens. Schönheit ist nicht immer das, was man im ersten Moment als »Schönheit« erkennt. Ich fühle mich der Schönheit näher, wo ich Leichtigkeit fühle und Präzision in der Klarheit. Mehr, als in Kameraeinstellungen, bei denen die Leute »wow!« rufen in dem Moment, wo sie sie sehen.
Am Ende geht es um Schönheit, aber ich möchte, dass die Leute,
wenn sie meinen Film sehen, mehr über die Schönheit des Lebens nachdenken, als über die Schönheit des Kinos. Wenn sie über die Schönheit des Lebens nachdenken, dann glaube ich, denken sie auch mehr über die Schönheit des Kinos nach, als wenn sie aus dem Film herauskommen und die Ästhetik bewundern.
artechock: Welche Art von Realismus ist also der Realismus, der Sie interessiert?
Hansen-Løve: Für mich ist Realismus immer ein Weg, um das Unsichtbare, das Unfassbare zu erreichen. Das ist mein Realismus. Ich würde sagen, meine Filme sind realistisch. Aber die Realität ist nur ein Mittel, um Spiritualität auszudrücken. Mich interessiert Realität nur als ein Mittel zum Zugang zur Spiritualität. Aber ich denke, es ist das einzige Mittel. Ich denke, die Unsichtbarkeit ist in den Objekten des Alltagslebens. Und das
ist es, warum ich an das Kino glaube.
Oder zumindest ist dies der Weg, wie ich das Kino gebrauche: Indem ich der Realität näher komme, komme ich der Spiritualität näher. Sorry, wenn das jetzt sehr abstrakt oder prätentiös klingt. Aber das ist es einfach, wie ich darüber denke. Vielleicht ist das naiv, aber diese Naivität treibt mich an, wenn ich Filme mache.
artechock: Das ist genau der Grund, warum ich nach Realismus gefragt habe: Sie haben erklärt, dass es nicht um die Schönheit einer Kameraeinstellung oder der reinen Form geht. Und daraufhin habe ich gedacht, dass Sie, sagen wir in der Mitte zwischen den Extremen Apichatpong Weerasethakul auf der einen Seite und Christopher Nolan auf der anderen Seite, stehen. Für eine Art »mittleren Realismus«. Ihre Filme sind weder sehr langsam und in sehr langen Einstellungen erzählt, noch sind sie sehr sehr schnell geschnitten und kreuzen verschiedenste Erzählfäden übereinander – um das mal zuzuspitzen.
Aber würde es Sie denn eigentlich in irgendeiner Weise interessieren, mal einen Historienfilm zu machen, oder Science-Fiction? Also etwas, das an der Oberfläche überhaupt nicht »realistisch« ist?
Hansen-Løve: Nun, tatsächlich arbeite ich gerade an einem Historienfilm. Allerdings finde ich, ein Historienfilm kann zugleich sehr realistisch sein. Und das versuche ich.
artechock: Eden war natürlich schon eine Art Historienfilm.
Hansen-Løve: Exakt! Ich hatte eigentlich immer im Kopf, dass mich das irgendwann interessieren würde. Aber ich musste mich dafür bereit fühlen. Ich finde es extrem schwer. Erst recht, weil ich mich eben dafür interessiere, Wirklichkeit zu erreichen. Und das ist natürlich viel schwieriger, wenn ich diese Wirklichkeit nie selbst erfahren habe.
artechock: Aber auch die Wirklichkeit eines Historienfilms ist immer noch die Wirklichkeit der Emotionen. Und es gibt ja eine große Kluft zwischen den Gefühlen – zum Beispiel – der Zeit der Romantik und der Gegenwart. Die Menschen damals hatten ganz andere Vorstellungen von Freundschaft, von Liebe... Das ist weit weg von unseren Vorstellungen. Und das ist sicher viel schwieriger zu erfassen, als Möbel oder Kostüme korrekt nachzustellen.
Hansen-Løve: Vermutlich! Obwohl ich schon glaube, dass alles miteinander verbunden ist. Die Ästhetik einer Zeit erzählt ihnen sehr viel darüber, wie die Leute gefühlt haben.
Insofern würde ich sagen, dass alles schwierig ist. Wie ich Ihnen zuvor gesagt habe, ist Realität für mich nur ein Weg zur Spiritualität. Aber sie ist trotzdem da. Auch weil meine Filme immer so persönlich sind, habe ich das Gefühl, dass ich wissen muss, wovon ich
spreche. Das ist bei einem Historienfilm genau das Gleiche: ich glaube, ich muss die Figuren genauso gut kennen, wie ich mich selber kenne. Ich muss ganz genau wissen, wovon ich erzähle. Insofern ist das jetzt sehr sehr interessant und aufregend. Es ist ganz anders. Aber am Ende glaube ich, wird es der gleiche Prozess sein wie bisher.
artechock: Zum Abschluss noch eine Frage nach Ihren Hauptdarstellerinnen: Sie wählen immer wieder andere und sehr sehr verschiedene Darstellerinnen, zumindest scheint mir der Stil von Isabelle Huppert, von Vicky Krieps und nun von Léa Seydoux sehr sehr verschieden zu sein: Sowohl der Stil ihres Spiels, wie auch, so vermute ich jedenfalls, ihre persönliche Arbeitsweise am Set.
Wie wählen Sie Ihre Schauspielerinnen? Und warum wählen Sie immer wieder so verschiedene?
Hansen-Løve: Ich weiß nicht, ob sie so verschieden sind. Natürlich sind sie verschiedene Typen, verschiedene Frauen, aber sie haben auch einige Gemeinsamkeiten.
Sie sind alle sehr smart. Ich denke, das ist etwas, das man bei ihnen auch sehen kann. Sie haben noch eine Sache gemeinsam: Sie sind gleichzeitig stark und fragil im gleichen Moment. Zumindest können sie beides sein. Sie können auch alle autoritär sein, sie haben eine Autorität an
sich, eine Stärke, eine Bestimmtheit. Das sieht man in allem, an der Art wie sie gehen, wie sie sich bewegen, wie sie blicken.
Aber im gleichen Moment haben sie auch eine Fragilität, in der Durchlässigkeit, eine Verwundbarkeit, die man findet, wenn man etwas genauer hinschaut.
Zu Léa Seydoux: Da ist eine Traurigkeit, die ich sehe, die ich schon an ihr gesehen habe, bevor ich mit ihr gearbeitet habe. Eine Traurigkeit, die sehr essentiell zu ihr gehört. Dies ist kein Fake, das
ist kein Schauspiel. Ich möchte damit nicht sagen, dass sie traurig ist, aber sie trägt eine Traurigkeit in sich, zu der sie einen ganz direkten Zugang hat, und die mich schon immer bewegt hat, seit ich sie auf der Leinwand sah. Und das ist etwas, das mich besonders angezogen hat, als ich sie gefragt habe, ob sie diese Rolle spielen möchte.
artechock: Eine Melancholie...
Hansen-Løve: Eine Melancholie, die sie ganz besonders macht. Und ich glaube, darin liegt der Grund, warum sie nicht so populär ist.
artechock: Ist sie das nicht?
Hansen-Løve: Sie ist berühmt. Sie wird bewundert. Aber sie ist als Schauspielerin nicht so populär wie zum Beispiel Virginie Efira es ist. Aber sie könnte das! Nur ist sie zurückhaltend. Sie versucht nicht, das Publikum zu verführen. Es ist etwas an ihr, das flieht. Und das hat zu tun mit der Melancholie oder Traurigkeit in ihr.
Und das ist etwas, was sie mit Isabel Huppert und Vicky Krieps gemeinsam hat. Das sind Schauspielerinnen,
die nicht alles, was sie haben, dem Publikum geben. Es ist nicht alles im Schaufenster. Sie sind zurückhaltend.
Das gilt vielleicht für alle, mit denen ich arbeite: Ich mag Schauspieler, die etwas mehr haben. Etwas, das sie uns nicht geben, das sie uns vorenthalten.
So wie ich versuche, Filme über das Leben zu machen, in denen das Leben größer ist, als die Filme, in denen das Leben sich uns auf irgendeine Weise entzieht. So mag ich auch Schauspieler, die sich uns auf irgendeine
Weise entziehen. Wenn nicht alles vorne im Schaufenster ist. Das gilt für die Filme, die ich mache, aber auch für die Schauspieler, mit denen ich arbeite.
Wissen Sie, manche Schauspielerinnen spielen immer so, als wären sie die Freundin des Publikums. Sie wollen dem Publikum das Gefühl geben, als wären sie ihre Freunde. Sie freunden sich an...
artechock: Virginie Efira!
Hansen-Løve: Ja! Die Schauspielerinnen, mit denen ich arbeite, freunden sich nie mit dem Publikum an! [Lacht] Ich mag diesen Satz.