Frankreich/D 2022 · 114 min. · FSK: ab 12 Regie: Mia Hansen-Løve Drehbuch: Mia Hansen-Løve Kamera: Denis Lenoir Darsteller: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins u.a. |
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Der Weg eines Reifeprozesses, auch der Filmemacherin selbst... | ||
(Foto: Weltkino) |
Ein unbeschwert wirkender Streifzug durch ein Paris, wie man es aus so vielen Filmen oder aus der Wirklichkeit kennt, im Quartier Latin oder einem ähnlichen traditionellen bürgerlichen Viertel, in einen begrünten, idyllisch wirkenden Hinterhof hinein, mit Kopfsteinpflaster, dann ein altes gepflegtes Treppenhaus: Sandra (Léa Seydoux) schaut bei ihrem alten Vater Georg (Pascal Greggory) vorbei, der immer weniger allein zurechtkommt, bringt ihm etwas zum Essen mit. Doch vorher muss er ihr die Tür aufmachen. Sandra dirigiert mit Worten, wo der Schlüssel zu finden ist, er stecke im Schloss in der Tür, wie immer, und die Tür befinde sich direkt vor ihm. Sandra weiß um die ganze Tragweite, die sich mit diesem Scheitern an den banalen Kleinigkeiten des Alltags ankündigt. Ihr Vater leidet an den ersten Symptomen des Benson-Syndroms, einer neurodegenerativen Erkrankung, bei der die Augen zwar noch sehen, doch das Gehirn die gelieferten Daten nicht mehr verarbeiten und zuordnen kann. Der Beginn einer Demenz, die erforderlich macht, für ihren Vater einen Platz in einem Pflegeheim zu suchen.
Der Fokus der Darstellung liegt den ganzen Film über auf Sandra. Sie ist Mitte dreißig, alleinerziehende Mutter einer achtjährigen Tochter und muss nicht nur in Extremsituationen Handgriffe in Worte übersetzen; sie selbst arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin. Ihr mühsam austarierter Alltag wird durch die Krankheit ihres Vaters nicht einfacher. Zudem beginnt sie in dieser schweren Phase mit Clément (Melvil Poupaud), einem Bekannten von früher, eine Liebesbeziehung. Dass Clément verheiratet ist, verkompliziert die Dinge für Sandra noch mehr. Das Wechselspiel der Gefühle, in das Sandra gerät, wird nicht in großen melodramatischen Gesten und Szenen ausagiert. Das ist vor allem auch den Darsteller*innen zu verdanken, die von der Regisseurin zu einem ganz und gar natürlich wirkenden Spiel gebracht werden. Léa Seydoux vermag sehr überzeugend unglamouröse Alltagsnähe mit großer Intensität des Ausdrucks zu verbinden. Melvil Poupaud scheint seine Jungenhaftigkeit endgültig abgelegt zu haben und zeigt sich auf dem Weg zu einem Charakterdarsteller von Format. Und Pascal Greggory gelingt die Darstellung dessen, dem sein Leben durch die Demenz abhandenkommt, auf anrührend aufrichtige Art und ohne jeden falschen Ton.
Was an diesem Film besonders berührt, ist die vollkommen unprätentiöse Art und Weise, mit der hier die schweren Themen eines Lebensendes und einer parallel erwachenden Liebe verhandelt werden. Es entsteht in den auf 35mm-Analog-Material gedrehten Bildern des Kameramannes Denis Lenoir (Hansen-Løve hat mit ihm bereits bei drei früheren Filmen zusammengearbeitet) eine unglaublich betörende Leichtigkeit, die dem Ernst des Gezeigten eine Selbstverständlichkeit und eigene Eleganz verleiht.
Das geht ohne jegliche Bagatellisierung oder Verklärung, aber auch ohne Dramatisierung und pathetische Überhöhung: diese Mittellage hat etwas ungemein Tröstliches, lässt einen aber dennoch die große Traurigkeit spüren, die hier das Abschiednehmen von einem nahen Menschen noch bei Lebzeiten mit sich bringt. So gibt es immer wieder besonders ergreifende Momente. Etwa wenn es darum geht, die Bibliothek des Vaters aufzulösen, die vielen Bücher, die von seiner Lehr- und Forschungstätigkeit als Spezialist für deutsche Literatur und Philosophie zeugen. Schon durch die beginnende Krankheit sind sie alle für ihn komplett sinnlos geworden. Für Sandra steckt in ihnen sein ganzes Leben, und es freut sie, dass viele der Bücher bei Schülern und Studenten ihres Vaters eine Aufnahme finden. Als wäre damit etwas von ihm aufgehoben. Oder auch der Moment, als der Vater die einst so geliebte Schubert-Sonate D 959 nicht mehr hören mag. Sandra will sie ihm auf der CD im Heim vorspielen, doch als der langsame und abgründig traurige zweite Satz erklingt, bittet der Vater sie, die Musik abzustellen. Und es bleibt die kleine Unbestimmtheit, ob er die Traurigkeit dieser Musik nicht mehr erträgt oder ob sie ihm einfach nichts mehr sagt. Es bleibt Sandra (und den Zuschauer*innen) vorbehalten, diese Sonate als Schmerz und Trost gleichermaßen zu empfinden, wenn sie später noch mal zu hören ist, ohne den Vater.
Wie viele der früheren Filme von Mia Hansen-Løve (Der Vater meiner Kinder, Eden, Alles was kommt) beruht auch An einem schönen Morgen auf persönlichen Erlebnissen. Hier geht es nun um ihren
Vater, Ole Hansen-Løve, dessen Schicksal dem der Figur Georgs im Film entspricht. Doch stellt die Regisseurin diese autobiographischen Bezüge nicht aus, sie eröffnet kein autofiktionales Vexierspiel mit ihnen.
Am Ende des Films wird aus den Notizen des Vaters zitiert, die Sandra in die Hände fallen: »An einem schönen Morgen…«, mit diesen Worten, die zum Titel des Films geworden sind, hat er die Lebenserinnerungen begonnen, die er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr
weiterführen konnte. Auch das kann vollkommen innerhalb des Rahmens der vom Film erzählten Figuren verstanden werden. Das Wissen um das persönliche Betroffensein der Regisseurin selbst mag vielleicht manchem eine zusätzliche Authentizitätsgarantie geben: doch eine solche hat dieser Film nicht nötig, da ihm die Mittel der alltagsnahen Fiktion genügen, um ein umso ergreifenderes Werk zu schaffen.
An einem schönen Morgen geht Sandra eine Pariser Durchgangsstraße entlang, die großzügig in Frühlingslicht getaucht ist; eine urbane Ecke, die in einem angenehmen ruhigeren Quartier zu liegen scheint, weit weg vom Trubel der französischen Hauptstadt. Eine Kameratotale folgt aus vorsichtiger respektvoller Entfernung dem sorglosen Gang einer Frau, die von Anfang an im Gesicht einen melancholischen Zug hat, einen von Sorgen getränkten, ernsten Ausdruck, der nicht nur diesen, sondern auch jeden anderen Tag überschattet.
Aber die Sonne scheint dazu, prachtvolle Schönheit erinnert uns daran, dass nichts ausschließlich und endgültig ist... Selbst im tragischen Kontext eines Lebens, das zu Ende gehen könnte.
Sandra tritt durch eine Pforte, steigt eine Treppe hinauf und steht vor einer Tür, die sie schon unzählige Male geöffnet hat, die sich ihr aber nun widersetzt. Auf der anderen Seite der Tür steht ihr Vater, ein nervöses Wrack, das den Schlüssel nicht finden kann... und der auch Schwierigkeiten zu haben scheint, die Stimme, die von der anderen Seite zu ihm spricht, überhaupt zu erkennen.
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Eine junge Witwe, die ein achtjähriges Mädchen allein erzieht. Eine junge Frau, die eine verbotene Romanze mit einem verheirateten Mann hat. Eine Tochter, deren Vater aufgrund einer unheilbaren Krankheit allmählich verfällt.
Jede dieser Geschichten birgt ein Universum in sich, ein Universum an Möglichkeiten, die jeweilige Ausgangsposition weiterzuerzählen.
Das große Verdienst von Mia Hansen-Løve besteht darin, dass es der Regisseurin gelingt, diese verschiedenen möglichen isolierten Filme nebeneinander existieren zu lassen, und jeden dieser Aspekte voll zu entfalten.
Vor allem die Montage ist es, die es hervorragend versteht, dem Film einen konstanten Rhythmus zu geben, und mit enormer Geschwindigkeit, ohne an Tiefe zu verlieren, den von Beginn an gesetzten Ton melancholischer Leichtigkeit zu halten und eine Erzählweise des Gegensätzlichen zu etablieren, in der jede Szene zu vorherigen einen Kontrapunkt setzt. (Das übrigens trennt Hansen-Løve scharf von Eric Rohmer, der oft in ihrem Zusammenhang genannt wird, und von dessen plätscherndem Erzählen).
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Mia Hansen-Løve wurde vorübergehend von mir nicht mehr bewundert. Nach dem (eher) überbewerteten Bergman Island und dem völlig irren Maya schien sie ihren Kurs verloren zu haben. Doch nun gelingt ihr die Rückkehr zu ihren Ursprüngen, der Introspektion der Gefühle und des emotionalen Verständnisses für kollektive Empfindungen.
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Es ist so, als würde auch die Form des Films der Lebenssituation von Sandra entsprechen, ihrem augenblicklichen Lebensgefühl, dass ihr Leben sie überrollt. Denn sie führt ein Leben voller Verpflichtungen, prall gefüllt mit unzähligen mehr oder weniger alltäglichen Sorgen, die zu groß sind, um sich nur auf eine davon zu konzentrieren.
Hansen-Løves Film ist eine Momentaufnahme gerade dieses Zustands: In dem die Zeit einfach nicht mehr ausreicht, um alles zu berücksichtigen, und die vielen Verpflichtungen rapide an Bedeutung verlieren, weil sie mit einem ganzen Leben um die Wette laufen?
Sandras Bindungen gehen verloren. Am Ende scheint die Frage für Sandra zu lauten: Was bleibt? Was bleibt von ihr? Was bleibt für sie? Inmitten all dessen?
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Der Vater verfällt, stirbt. Mit ihm eine Lebensform. Der Vater war Professor für Philosophie, die Tochter ist Übersetzerin. Der Vater hat in seinem Bücherregal unglaublich viel deutsche Literatur, die später noch ein bisschen inhaltlich aufgefächert wird: unter anderem Kafka, Canetti, Thomas Mann, Goethe. Prächtige Ausgaben.
»Was machen wir nun mit den Büchern?« ist eine Frage, die symbolisch ist, emotional: »Seine Bücher, das ist sein ganzes Leben.« Wird man das in 50 Jahren
noch über dann alte Menschen sagen?
Es geht um Auflösung der Bürgerlichkeit. Die Bibliothek als das neue Thema von Filmen. Vor dem Untergang kommt das Ende des Bürgertums.
»Kafkas Verwandlung« – daran fühlt der Vater einmal sein eigenes Schicksal erinnernd.
Es geht um Alte, es geht um Mitleid mit dem Alter, es geht um das Sterben, um tödliche Krankheiten. Die 98-jährige Urgroßmutter ist total fit im Kopf und sie sagt hier, dass sie »nicht so angeguckt werden« möchte auf der Straße. Sie geht nach der Maniküre und Pediküre zum Friseur, und sie sagt: »Pity – forget it!«
Man soll kein Mitleid haben. Bloß kein Mitleid.
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Es gibt auch sonst ein bisschen Namedropping: Ziemlich früh, als Melvil Poupaud auftaucht, verweist er auf Annemarie Schwarzenbach – man kann wissen, dass ihre Biographie das Sujet von Mia Hansen-Løves nächstem Film ist.
Die Auftritte von Léa Seydoux, Melvil Poupaud und von Pascal Greggory sind großartig.
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An einem schönen Morgen entspricht der Art von Filmen, die in letzter Zeit häufiger entstanden: Die das alltägliche, bürgerliche und vergleichsweise immer noch wohl gepolsterte Mittelstands-Leben in den Wohlfahrtsstaaten Westeuropas zeigen, und beispielhaft vorführen, wie dessen Sicherheiten erodieren, und schließlich zerfallen.
Hier ist dieser Blick auf die Härten des Lebens und sein Ende jedoch weniger hart, als etwa in Ozons Alles ist gutgegangen, alles ist organischer; die Situationen fließen sachlich und flüssig, obwohl es nicht an der Schwerpunktsetzung mangelt.
Hansen-Løve erforscht dabei das Filigrane, das Gewicht des Geschehens liegt eher im Unsichtbaren und Unausgesprochenen.
Von der Form her ist das eine Ballade, die mit Musik und Liedern den Film in Kapitel formt. Die Editorin Marion Monnier, eine regelmäßige Mitarbeiterin von Hansen-Løve, die auch für Assayas Personal Shopper verantwortlich war, versteht es hervorragend, in ihrer Montage den Rhythmus zu halten und eine Erzählidee umzusetzen, in der sie eine gegensätzliche Situation mit der anderen auflöst.
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Es gibt keine Botschaften in diesem Film. Hansen-Løve hat nicht die Absicht, eine Lehre über Beziehungen zu bieten, aber ihr Drehbuch geht in die Tiefe, wenn es versucht zu zeigen, wie Sandra sich selbst wiederfindet.
Was man erlebt, ist ein Reifeprozess, der auch einer der Filmemacherin ist; es ist die Erfahrung, die aus der Einsicht wächst, dass das Leiden und die Trauer und die Endlichkeit nebensächlich sein können und sollten. Denn parallel zu allen Enttäuschungen gibt es
eine ganze Reihe von unmittelbaren Schönheiten, die nicht ignoriert werden müssen. Man ist nicht weniger unglücklich oder glücklich, wenn man sich die Tränen abwischt und seine Arbeit macht.