»Ich hatte den Wunsch, meine eigene Stadt zu finden« |
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Die Augen von Amélie... |
Ganz Frankreich kannte dieses Jahr im Kino nur eine amour fou – Le fabuleux destin d’Amélie Poulain. In Paris standen die Menschen stundenlang an, nur um in diesen Film zu kommen – und wer ihn ab dieser Woche in Deutschland als Die
fabelhafte Welt der Amélie zu sehen bekommt, wird die Franzosen sofort verstehen.
In Berlin sprach Nadine Lange mit dem Regisseur.
artechock: Die fabelhafte Welt der Amélie ist überreich an witzigen und fantasievollen Details. Woher nehmen Sie all diese Einfälle?
Jean-Pierre Jeunet: Alles in Amélie ist wahr. Zum Beispiel der selbstmörderische Goldfisch, der immer aus seinem Glas hüpft – so einen hatte ich selber. Oder der Junge, der auf dem Schulhof erst alle Murmeln gewinnt und sie dann verliert, weil seine Jackentasche unter dem Gewicht zerreißt – das ist mir auch selbst passiert. Die Geschichte von dem Gartenzwerg, der auf Weltreise geht, hat mir jemand erzählt. Ich sammle ständig solche Sachen.
artechock: Wie wird aus einer solchen Kuriositätensammlung ein Film?
Jeunet: Ich wollte daraus schon lange mal etwas machen, aber ich wusste nicht wie. Bis mir eines Tages plötzlich der Charakter dieser jungen Frau, Amélie Poulain, einfiel. Danach war es einfach, ein Drehbuch zu schreiben.
artechock: Sie hatten zunächst Emily Watson als Amélie vorgesehen. Wie kam es, dass die junge Audrey Tautou die Rolle übernahm?
Jeunet: Während ich das Drehbuch schrieb hatte ich tatsächlich Emily Watson in Breaking the Waves vor Augen. Als ich fertig war, rief ich sie an, wir trafen uns und machten einige Proben. Allerdings verlor Watson viel von ihrer Wirkung, als sie Französisch sprach. Deshalb habe ich das Skript umgeschrieben und sie in London aufwachsen lassen. Doch dann sagte mir Emily Watson, dass sie aus persönlichen Gründen absagen müsse. Ich war sehr enttäuscht. Danach machte ich ein Casting in Frankreich, bei dem ich mir nur zwei Frauen ansah. Die erste war Audrey Tautou. Ich hatte sie, während ich mit dem Auto unterwegs war, auf einem Plakat des Films Vénus beauté (institut) erspäht. Ihre großen dunklen Augen fand ich interessant. Und es stellte sich heraus, dass man ihr nicht lange zu erklären braucht, worum es geht. Ihr Timing ist so präzise wie das eines Sportlers, so exakt wie das des französischen Fußballstars Zinedine Zidane, wenn er abspringt, um den Ball mit dem Kopf zu treffen.
artechock: Amélie ist Ihr erster Film, der nicht komplett im Studio gedreht wurde. Haben die Außenaufnahmen sie eingeschüchtert?
Jeunet: Es war ein Albtraum. Plötzlich standen Leute im Bild und weigerten sich weiterzugehen. Man ist ständig abhängig vom Wetter. Ich habe versucht, mein eigenes Paris zu erschaffen – genau wie im Studio. Wir haben alles verändert: ließen Autos verschwinden, hängten Poster ab. Auch digital haben wir später noch viel manipuliert.
artechock: Paris sieht aus wie eine alte Postkarte.
Jeunet: Ich war vorher für Alien: Resurrection zwanzig Monate in Los Angeles. Da gibt es einen schönen Himmel, Palmen und Meer – aber es ist keine Stadt. Ich hatte den Wunsch, meine eigene Stadt zu finden – meine Traumstadt. Als ich mit 20 Jahren zum ersten Mal nach Paris kam, war die Stadt ein Traum. Die wollte ich wieder auferstehen lassen – mit Akkordeons, Cafés und all diesen Dingen. Ich habe mich selber viel umgesehen, um geeignete Drehorte zu finden. Als ich den Bahnhof sah, dachte ich: Oh wie schön, wer hat den für mich gebaut?
artechock: Verglichen mit ihren bisherigen Filmen ist AMÉLIE unglaublich optimistisch und fröhlich. Woran liegt das?
Jeunet: Eben daran, dass ich drei düstere Filme gemacht hatte. Zudem enstanden Delicatessen und Die Stadt der verlorenen Kinder in Zusammenarbeit mit Marc Caro.Wenn man zu zweit vorgeht, kann man persönliche Dinge nicht in dem gleichen Maße verwenden. Man bewegt sich in einem gemeinschaftlichen Universum. Marc Caro mag zum Beispiel keine Liebesgeschichten. Also hielt ich sie aus unseren Filmen heraus. Nach Die Stadt der verlorenen Kinder wollten und mussten wir daher getrennt voneinander arbeiten. Ich glaube nicht, dass wir noch einmal einen Film zusammen machen werden.
artechock: Das Fernsehen spielt in Amélie eine sehr positive Rolle. Das überrascht ein wenig,denn üblicherweise sehen Filmemacher im Fernsehen eher einen Gegner. Betrachten sie das Medium generell so freundlich?
Jeunet: Ich bin der König des Zappings und so finde ich jeden Tag das eine oder andere Interessante. Ich hatte einige schöne Sachen in meiner Kollektion, die ich für Amélie verwenden wollte. Zum Beispiel das Pferd, das neben den Tour-de-France-Rennfahrern herläuft. Sowas ist einfach wunderschön. Insgesamt ist das Fernsehen natürlich ein großer Mist.
artechock: Die Kindheit ist in ihren Filmen immer eine harte und einsame Zeit. Teilen Sie diese Erfahrung?
Jeunet: Ja. Bis ich mit elf Jahren einen Bruder bekam war ich ein sehr einsames Kind. Mir war aber nie langweilig, weil ich mir viel ausgedacht habe. Es gibt ein Foto von mir, auf dem ich vier oder fünf Jahre alt bin und völlig in mir selbst versunken mit Autos und Zügen spiele. Ich bin damals in meine Fantasie geflüchtet. Als ich etwa acht war, habe ich mir auch schon Filme ausgedacht. In einem kleinen Puppentheater habe ich sie meinen Eltern vorgeführt, die sogar Eintritt bezahlt haben.
artechock: Und später haben Sie dann für Ihren kleinen Bruder gespielt?
Jeunet: Ja. Er hatte es gut. Ich habe mir sogar olympische Spiele in der Wohnung für ihn ausgedacht. Und heute mache ich Ähnliches für meine Freundin: Ich verstecke ein Geschenk im Haus und leite sie mit Pfeilen und Hinweisen dorthin. Sie muss zum Beispiel den Kühlschrank öffnen, in dem eine Artischocke mit einem Zettelchen liegt. Dann muss sie den Fernseher anmachen und da sage ich dann wie es weitergeht.
artechock: Sind Sie verärgert, dass Amélie nicht bei den Filmfestspielen von Cannes lief?
Jeunet: Es war ein großer Skandal in Frankreich. Als wir den Film einreichten, war er noch nicht völlig fertig, aber eigentlich schon abgeschlossen. Dann hieß es, dass der Film nicht interessant sei. Wir waren sehr enttäuscht und sagten uns: Okay, vergessen wir es. Aber dann startete der Film in den Kinos und wurde ein riesiger Erfolg. Die ganze Presse in Cannes regte sich wahnsinnig auf, dass er dort abgewiesen worden war.
artechock: Ist der Erfolg eine Kompensation dafür?
Jeunet: Ja. Es ist absolut verblüffend: Es wurde zu einem sozialen Ereignis, über den Film zureden, ihn zu erklären. Präsident Chirac hat Amélie sogar im Elysee-Palast gezeigt und mich während der Vorführung dauernd angestoßen: »Brilliant, Ihr Film, brilliant«.
artechock: Für Alien: Resurrection haben Sie erstmals in Hollywood gearbeitet. Hat es sich gelohnt?
Jeunet: Die amerikanischen Produzenten gehen davon aus, dass die Zuschauer dumm sind. Deshalb muss alles leicht verständlich sein. Um das zu testen, machen sie Probevorführungen und lassen Dinge ändern, die nicht allen klar sind. Ich habe in den USA gelernt, stark zu sein und für meinen Film zu kämpfen. Bei Amélie war das allerdings gar nicht nötig: Ich hatte den Final Cut, genügend Geld und Zeit. Es war sehr komfortabel.
artechock: Haben Sie erneut Angebote aus Hollywood bekommen?
Jeunet: Ja, besonders jetzt, wo sie Amélie gesehen haben. Miramax hat ihn gekauft und man ist dort sehr aufgeregt. Nach zwei erfolgreichen Screenings in New York und New Jersey erwarten sie gute Einspielergebnisse. Mal sehen, was für Vorschläge mir aus den USA unterbreitet werden. Ich möchte keinen dummen Actionfilm machen. Außerdem brauche ich jetzt ein bisschen Zeit. Ich muss mich in ein neues Thema verlieben.