Frankreich 2001 · 120 min. · FSK: ab 6 Regie: Jean-Pierre Jeunet Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant Kamera: Bruno Delbonnel Darsteller: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz, Rufus, Dominique Pinon, Yolande Moreau u.a. |
Das Glück nimmt nie den kürzesten Weg.
Da kann man über die Welt noch so viel wissen, kann in jeder Sekunde den Aufenthaltsort jeder einzelnen Fliege kennen – und trotzdem ist das Schicksal nicht berechenbar. Das spielt über Bande, erwischt dich immer von da, wo du nicht hinschaust und schmiedet Ereignisketten, die lang sind, aber nicht logisch.
Jean-Pierre Jeunet ist seit den hyperkomplexen Selbstmord-Apparaturen aus Delicatessen ausgewiesener Spezialist für verknotete Ursache-Wirkungs-Beziehungen – diesmal lenkt er die Bahn durch Kurven, Umleitungen, Nebengassen hin zur Liebe. Es wäre ganz und gar aussichtslos, von der Fülle des Films in wenigen Sätzen mehr als den Hauch einer Anhnung geben zu wollen, wäre geradezu frevlerisch, aus seinem genüsslichen Knäulen hunderter Story-Fädlein zwanghaft den Strang einer »Handlung« herauszuzerren. Nein, hier ist alles gleich wichtig, der weltreisende Gartenzwerg wie der Maler mit Glasknochenkrankheit, die hypochondrische Tabakwaren-Verkäuferin wie die perfide Rache am gemeinen Gemüsehändler, die Schnitzeljagd d’amour wie die Suche nach dem geheimnisvollen Passfotoautomaten-Mann.
Im Zentrum des Ganzen steht Amélie, deren Augen aussehen, als müssten sie immerzu staunen angesichts der Welt um sie herum: die wunderbare Audrey Tautou, bei der nicht nur der Vorname an die junge Hepburn erinnert. Zum ersten Mal ist ein Film von Jeunet im Hier und Heute angesiedelt – aber bei ihm wird auch Paris zur Comic-Welt voll bizarrer Physiognomien, ertappt irgendwo zwischen Erinnerung an die 50er Jahre und Traum von der Zukunft. Es ist ein Film, der überbordet vor Freude – Freude am Erzählen, am Kino und all seinen Möglichkeiten (von denen keine ungenutzt bleibt), Freude am Leben und der Liebe. Bei all seinem verschwenderischen Überschuss hat das doch nichts Erschlagendes, höchstens Überwältigendes – und kennt im rechten Moment die Stille, das Einfache: Einen so zärtlichen, behutsamen, wahren Filmkuss wie hier hat man seit Jahren nicht gesehen. Weshalb der geradeste Weg zu zwei Stunden Glück diesen Sommer ins Kino führt – zu »Amélie«.