22.06.2011

Der Film als Hypothese, die Frage: »was-wäre-wenn«

Zwei Mencshen im Bett
Silberner Bär für Schlafkrankheit
(Foto: Farrbfilmverleih)

Ein ausführliches Gespräch mit dem Filmemacher Ulrich Köhler über das Kino als behavioristische Anstalt, das Filmen der Mittelschicht, unser Afrika-Bild und eskapistisches Kino

Der heute in Berlin lebende Filme­ma­cher Ulrich Köhler wurde 1969 in Marburg geboren. In Frank­reich und Hamburg studierte er zunächst Philo­so­phie, dann Visuelle Kommu­ni­ka­tion. Mit seinem Spielfilm-Debüt Bungalow (das 2002 im Inter­na­tio­nalen Forum der Berlinale Premiere hatte) und dann Montag kommen die Fenster (Forum 2006) gewann er jeweils den Hessi­schen Filmpreis, sowie große inter­na­tio­nale Aner­ken­nung. Köhler gilt als einer der zentralen Vertreter der losen Gruppe der »Berliner Schule«. Mit seinem dritten Spielfilm Schlaf­krank­heit nahm Köhler am Wett­be­werb der Berlinale 2011 teil und gewann den Silbernen Bär für »Beste Regie«. Jetzt kommt dieser Film, der von einem deutschen Entwick­lungs­helfer in Afrika erzählt, ins Kino. Ein ausführ­li­ches Gespräch – unplugged...

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Verstehst du, warum manche Leute mit Schlaf­krank­heit auf der Berlinale Schwie­rig­keiten hatten?

Ulrich Köhler: Zunächst einmal bin ich tatsäch­lich jemand, der versucht, möglichst wenig Kritiken zu lesen. Weil ich das Gefühl habe, dass das mich nicht unbedingt weiter­bringt. Es fällt mir wirklich schwer, über mich selbst zu lesen. Ich stehe nicht gerne im Mittel­punkt. Ich fühle mich immer unwohl, wenn ich über mich selbst lese. Auch Positives, nicht nur Negatives.

Was die Rezeption von Schlaf­krank­heit auf der Berlinale angeht, war ich im Vergleich zu meinen anderen Filmen, die dort auch liefen, schon ein bisschen über­rascht. Das Forum und das Panorama sind natürlich geschüz­tere Räume. die erste Reaktion war damals insgesamt viel positiver. Jetzt war sie ambi­va­lenter.

Ich beziehe das vor allem auf die Erwar­tungen, die mit einem Wett­be­werbs­bei­trag verbunden sind. Die sind mit einer bestimmten Art von Autoren­film nicht immer kompa­tibel. Konkret auf den Film bezogen, könnte ich mir vorstellen, dass Filme über westliche Ausländer, Expats, in Afrika inzwi­schen fast ein eigenes Genre sind. Da gibt es gewisse Erwar­tungen an Land­schafts­kitsch, an Mysti­zismus. Die wollte ich ganz bewusst enttäu­schen, oder zumindest rela­ti­vieren, indem ich mit ihnen spielte.

artechock: Schlaf­krank­heit ist stark auto­bio­gra­phisch geprägt...

Köhler: Durch meine Kindheit in Zaïre – die heutige Demo­kra­ti­sche Republik Kongo – und dadurch, dass ich meine Eltern später in den 90er-Jahren in Kamerun und im Sudan besucht habe, kenne ich einige afri­ka­ni­sche Länder ganz gut. Ich wollte eine für meine Begriffe realis­ti­sche Beschrei­bung des Lebens der Ex-Pats, das sind west­li­chen Ausländer, in Afrika vornehmen. Aber der Film erzählt nicht die Geschichte meiner Eltern, sie sind heute noch glücklich verhei­ratet.

Ich bin natürlich Vorwürfen von Menschen begegnet, die den Film aus poli­ti­scher Korrekt­heit als proble­ma­tisch empfinden. Weil er die verbrei­tete Korrup­tion anspricht, und keine rundum positive afri­ka­ni­sche Figur zeigt – genau­so­wenig wie eine rundum positive europäi­sche. Mir sind zum Beispiel auch die Poli­zisten zu Anfang des Films sympa­thisch. Für mich ist das eine Szene, die erzählt, dass mein Prot­ago­nist einen spie­le­ri­schen Umgang damit hat und die Poli­zisten versteht. Mir selbst geht es nicht anders: Ich weiß, was so eine Straßen­sperre für einen Poli­zisten bedeutet: Es bedeutet, dass er am Abend seine Familie ernähren kann, und eine Summe X an seinen Vorge­setzten abdrücken muss, der ihm diese Straßen­sperre anver­traut hat. Denn der Staat bezahlt seine Beamten nicht so, dass sie davon leben können. Das kann ich im Rahmen eines Spiel­films viel­leicht nicht in seiner ganzen Komple­xität darstellen – aber es auszu­sparen wäre für mich nicht infrage gekommen, weil es dort Teil des Alltags ist.

Straßen­sperren begegnet man in Kamerun mehrmals täglich. Das ist einfach so.

artechock: Jetzt hast Du schon im Rund­um­schlag eine Menge Themen ange­spro­chen, die wir vertiefen sollten. Bevor wir zur Entste­hungs­ge­schichte dieses Films zurück­kehren eine andere Frage: Es gibt in allen drei Spiel­filmen von Dir unter anderem eine Gemein­sam­keit: Den Bezug zu Nord­hessen.

Köhler: Nicht Nord­hessen, das ist Mittel­hessen...

artechock: Marburg!

Köhler: In Marburg geboren, aber dann in Limburg und Diez zum Teil aufge­wachsen.

artechock: Bungalow war zwischen Gießen und Marburg ange­sie­delt, Montag kommen die Fenster spielt in Kassel. In Schlaf­krank­heit zieht die Familie des Entwick­lungs­hel­fers nach Wetzlar zurück...

Köhler: Wetzlar ist für mich ein einer­seits aufge­la­dener Ort – der Werther spielt ja dort – ande­rer­seits eine Klein­stadt, in der ich nicht gerne leben würde. Ich kann mir zwar vorstellen auf dem Land zu leben, aber dann richtig. Oder eben in der Großstadt. Ich finde, dass Klein­s­tädte weder die Vorteile des Land­le­bens, noch die der Stadt haben.

artechock: Woher kommt dieser konti­nu­ier­liche regionale Bezug?

Köhler: Das hat schon auto­bio­gra­phi­sche Ursachen. Weniger Förder­gründe. Es gibt im Hinblick auf das Aussehen der Motive große Unter­schiede zwischen den Bundes­län­dern. Das hat seine Gründe in unter­schied­li­chen Wohl­stands­ni­veaus. Hessen ist weniger wohl­ha­bend als der Süden.. Es reprä­sen­tiert für mich bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Durch­schnitt. Wenn man die Frank­furter Region ausnimmt, findet man viel Mittelmaß.

artechock: Viel­leicht ist so eine mittlere Klein­stadt auch sehr reprä­sen­tativ für Deutsch­land...

Köhler: Dadurch, dass ich in Frank­reich studiert habe, ist es mir bewusster geworden, wie stark die föderale Struktur Deutsch­lands das Land geprägt hat. Deutsch­land ist durch die Provinz geprägt. Auch wenn sich Berlin für Kultur­schaf­fende immer mehr zum zentralen Ort entwi­ckelt.

artechock: In Schlaf­krank­heit beschreibst Du recht genau afri­ka­ni­sche Gesell­schafts­ver­hält­nisse. Deine anderen Filme waren eher Kammer­spiele: In Bungalow kommt am Rand die Bundes­wehr vor, in Montag kommen die Fenster zeigst Du ein Hotel – aber im Zentrum stehen wenige Figuren, die in Bewegung sind. Liegt das daran, dass Dich die deutsche Gesell­schaft nicht inter­es­siert, oder woran liegt es?

Köhler: Ich glaube, dass man Gesell­schaft auf mehreren Ebenen darstellen kann. Im Mikro­kosmos bildet sich immer der Makro­kosmos ab. Das ist auch der Ansatz von Schlaf­krank­heit. Zwar werden dort poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Themen expli­ziter ange­spro­chen, aber letztlich glaube ich, dass Filme­ma­chen nur über das Konkrete funk­tio­niert. Meine Strategie ist über das Konkrete das Allge­meine zu erzählen. Natürlich hoffe ich, dass meine Filme nicht als rein priva­tis­ti­sche, subjek­tive Erfah­rungs­be­richte wahr­ge­nommen werden. Sondern dass sie schon etwas abbilden, das allge­meiner Natur ist.

Alle meine Filme handeln von der Mittel­schicht. Und die Mittel­schicht ist immer noch das, was Deutsch­land am stärksten prägt, auch wenn es ohne Frage immer mehr Menschen gibt, die in sehr armen Verhält­nissen leben.

Man kann das in den letzten Wahlen auch an den Stimm­ge­winnen der GRÜNEN sehen – die haben sehr viel damit zu tun, dass nach wie vor das Leben des größeren Teils der Gesell­schaft nicht nur von ökono­mi­schen Zwängen bestimmt ist.

artechock: Ich sehe deine Filme bestimmt nicht als priva­tis­tisch an. Aber „das Konkrete“ gegen „das Gesell­schaft­liche“ ins Feld zu führen, scheint mir umgekehrt auch unpräzise zu sein, weil ja die gesell­schaft­li­chen Verhält­nisse nicht minder konkret sind.

Macht und Geld sind sehr konkret. Man kann sie nur nicht so leicht zeigen. Aber das ist doch gerade die Heraus­for­de­rung. Und in Schlaf­krank­heit meisterst du sie sehr gut. In diesem Fall ist das auch sehr leicht, denn es gehört ja zum konkreten Alltag, der Entwick­lungs­helfer im Zentrum, dass sie mit Reprä­sen­tanten von Insti­tu­tionen reden, mit Funk­ti­onären und Poli­zisten, dass sie an Sitzungen teil­nehmen, dass es in kompli­zierten Verhand­lungen um Geld und Deals geht...

Köhler: Genau. Aber generell ist es sehr schwer, abstrak­tere Arbeits­pro­zesse oder ökono­mi­sche Vorgänge darzu­stellen. Einer der wenigen Filme, denen das gelungen ist, ist Christian Petzolds Yella. Da werden die ökono­mi­schen Bedin­gungen der Gesell­schaft auf eine explizite und trotzdem konkrete Weise abge­bildet.

Wenn man sich aber das Gros des Film­schaf­fens anguckt, stellt man fest, dass es nicht die Stärke von Film ist, Prozesse abzu­bilden, die man besser in Texten darstellen kann.

artechock: Nicht die Stärke des deutschen Nach­kriegs­films zumindest. Im Weimarer Kino schon. So bilden etwa die Mabuse-Filme von Fritz Lang extrem präzis gesell­schaft­liche Prozesse ab. Auf einer meta­pho­ri­schen und symbo­li­schen Ebene. Außerdem kann sich Macht und Geld und Aggres­sion auch an Gegen­s­tänden, an Objekten zeigen. Ganz sinnlich. Ich mag immer diese dicken Autos, diese Body­guards, diese graublaue Welt aus Stahl, Glas, Metall und Beton, aus dunklen Anzügen und Mobil­te­le­fonen.

Köhler: Ich glaube, je komplexer die Prozesse sind, die man im Film erzählt, desto mehr muss man verein­fa­chen. Das, was Du erzählst, habe ich eigent­lich mehr im Doku­men­ta­ri­schen gefunden. Am inter­es­san­testen bei Frederick Wiseman, dem es wirklich gelingt, ohne zu perso­na­li­sieren, Insti­tu­tionen zu porträ­tieren und ohne propa­gan­dis­ti­sche Absichten gesell­schaft­liche Phänomene zu betrachten. Während der Vorbe­rei­tung zu Schlaf­krank­heit habe ich parallel darüber nach­ge­dacht, einen Film über den Parla­men­ta­rismus zu drehen. Dazu habe ich viel Zeit im deutschen Bundestag verbracht, einen Unter­su­chungs­aus­schuss beob­achtet. Aber ich habe sehr schnell gemerkt – ohne dass ich zu einem abschließenden Urteil gekommen wäre – dass das ein Thema ist, dass ich mir besser doku­men­ta­risch vorstellen kann. Weil ich das Gefühl habe, die Fiktio­na­li­sie­rung würde die Dinge unan­ge­messen verein­fa­chen und ihre Komple­xität zerstören.

Ich habe da noch keine filmische Lösung gefunden, obwohl mich das Thema sehr inter­es­siert – ich bin jemand, der sich extrem, fast schon junkie­haft mit Tages­po­litik beschäf­tigt. In Romanform gibt es dagegen sehr gelungene Beispiele: Wolfgang Koeppens Das Treibhaus begeis­tert mich. Das finde ich sehr gelungen. Im Film habe ich das so noch nicht gesehen.

artechock: Kannst Du Dir vorstellen, auch einmal Doku­men­tar­filme zu machen?

Köhler: Ich habe bei den Recher­chen zu diesem Film in Äthiopien und im Kongo am Anfang eine Kame­ra­frau mitge­nommen. Denn ich hatte so ein bisschen die Hoffnung, dass mir etwas ähnliches gelingen könnte, was Kiaros­tami bei den Recher­chen zu ABC Afrika gelungen ist: Nämlich schon im Recher­che­ma­te­rial meinen Film zu finden.

Ich habe aber sehr schnell begriffen, dass ich mich extrem unwohl fühle in dem Moment, in dem ich Menschen beobachte und dabei filme. Ich bin zwar ein großer Bewun­derer der Doku­men­tar­filme von Raymond Depardon, Frederick Wiseman und Chantal Akerman. Aber ich selbst habe sehr schnell das Gefühl, jemanden auszu­beuten, wenn ich eine Kamera auf ihn richte. Das ist wohl eine Charak­ter­frage. Ich bevorzuge es eindeutig einen Vertrag mit einem Schau­spieler zu haben, dessen Beruf es ist, sich vor eine Kamera zu stellen.

Ich will es nicht für alle Zeiten ausschließen, einen Doku­men­tar­film zu drehen. Aber ich kann mir, wenn überhaupt, nur vorstellen, über Menschen einen Doku­men­tar­film zu machen, mit denen ich auf einer Ebene kommu­ni­zieren kann, Ich könnte mir niemals vorstellen, einen Film zum Beispiel über Arbeits­lose in Frankfurt/Oder zu machen.

Einen Film über den Poli­tik­be­trieb könnte ich mir schon viel eher vorstellen.

artechock: Also ohne ökono­mi­sche Über­le­gen­heits­ver­hält­nisse. Aber gegenüber Bundes­tags­ab­ge­ord­neten oder Wirt­schafts­bossen wärest du eher in einer unter­le­genen Position. Die lassen sich auch nicht so leicht ausbeuten...

Köhler: Genau. Die Frage ist nur, ob man da etwas Inter­es­santes hinbe­kommt. Ich fürchte, die Situa­tionen, die einen wirklich inter­es­sieren, kann man nicht filmen. Oder man ist gar nicht dabei. Das finde ich zum Beispiel das Geniale an dem Doku­men­tar­film von Harun Farocki, der das Vorbild für die Verhand­lungs­szenen in Yella ist: Wie es der wirklich schafft, Menschen bei der Arbeit zu zeigen, ohne sie vorzu­führen. Und trotzdem beschreibt er sehr genau die Situation. Ich finde das höchst spannend. Aber ich glaube, dass ich da von meiner Persön­lich­keits­struktur her größere Schwie­rig­keiten habe. Also, um das abzu­schließen: In Afrika habe ich bei den Recher­che­ar­beiten irgend­wann die Kamera wegge­lassen, und mich damit sehr viel wohler gefühlt.

artechock: Führst du für deine Filme in der Regel Inter­views? Oder wie recher­chierst du überhaupt?

Köhler: Das ist der erste Film, bei dem ich recher­chiert habe. Das hat mir auch geholfen. Gleich­zeitig glaube ich, dass der größte Teil dessen, was den fertigen Film ausmacht, auf persön­li­cher Erfahrung basiert. Letztlich sind bei diesen Recher­chen Freund­schaften entstanden.

Für mich ist Recherche eine zwie­späl­tige Sache. Ich glaube, dass ich mich von vorn­herein für etwas persön­lich inter­es­sieren muss, um daraus einen Film entwi­ckeln zu können. Ich fände es sehr künstlich, mir über Recher­chen ein Thema zu erar­beiten. Das ist mir fremd. Durch Recher­chen kann man vertiefen, oder verbrei­tern, aber kein Thema finden. Das gehört nicht zu meinem Bild von meiner Arbeit, und ist nicht das, was mich inter­es­siert. Viel­leicht führt Recherche eher zum Doku­men­ta­ri­schen als zum Spielfilm.

Parallel zu den Recher­chen im Bundestag habe ich Das Goldene Notizbuch von Doris Lessing gelesen, einer Autorin, die ich eigent­lich nie lesen wollte. Aber es ist ein ganz tolles Buch. Sie schreibt sehr viel über das Verhältnis von Fiktion und „Wahrheit“, wie sie es nennt. Das hat mich auch sehr beschäf­tigt. Sie fragt sich, ob das Fiktio­na­li­sieren ein Selbst­schutz sei – ob sie fiktio­na­li­siert, gerade weil sie sehr persön­lich schreibt.

Das Verhältnis von Fiktion und Wirk­lich­keit ist auf jeden Fall sehr komplex.

artechock: Warum wolltest Du Doris Lessing nie lesen?

Köhler: Weil ich gewisse Vorur­teile gegenüber femi­nis­ti­scher Literatur hatte, die habe ich aber schon während der Arbeit an Montag kommen die Fenster stark abgebaut, als ich Ingeborg Bachmann, Natalie Ginzburg und Marlene Haushofer entdeckt habe.

artechock: Also nicht, weil sie eine Weiße in Afrika ist, die sich ja auch gele­gent­lich zu einer Art „Mutter Afrikas“ und seiner kleinen Schwarzen Kinder stili­siert hat?

Köhler: Nein, das ist bei Lessing auch nicht so unan­ge­nehm, wie bei Henning Mankell beispiels­weise. Sich in Afrikaner hinein­zu­ver­setzen sollten wir afri­ka­ni­schen Autoren über­lassen. Ich finde, dass Lessing ihre authen­ti­sche Erfahrung beschreibt. Zumindest im „Goldenen Notizbuch“ schreibt sie aus ihrer eigenen Perspek­tive und markiert sie auch. Spätere Werke mögen da proble­ma­ti­scher sein.

Ein anderer Einfluss auf mich war natürlich der Filme­ma­cher Jean Rouch. Der hat mich sehr begeis­tert. An seinem Werk lässt sich der Übergang zwischen einer kolo­nia­lis­ti­schen Sicht­weise und einem moder­neren Blick auf Afrika sehr genau ablesen. Und er selbst hat diesen Übergang und seine Perspek­tive immer mit zum Thema gemacht.

artechock: Du bist in Marburg geboren, aber wann nach Afrika gekommen?

Köhler: Mit fünf Jahren. Dann haben wir dort vier Jahre gelebt. Das war noch richtig klas­si­sche Entwick­lungs­hilfe wie man sie sich seit Albert Schweitzer vorstellt: Der weiße Arzt im Busch­kran­ken­haus, der dort Gutes tut, täglich zwanzig Opera­tionen durch­führt und das Schlimmste verhin­dert.

Ich habe die prägende Zeit meiner Kindheit dort verbracht: In Zaïre, dem heutigen Kongo in einem kleinen Dorf namens Vanga an einem großen Fluss, dem Kwilu.

Das war wirklich eine Kindheit, wie ich sie meinen Kindern wünschen würde, falls ich Kinder kriege: Ein sehr freies Leben in der Natur mit vielen einhei­mi­schen Freunden. Mein Bruder und ich haben perfekt die lokale Sprache Kikongo gespro­chen. Das Inter­es­sante ist, dass wir nach der Rückkehr nach Deutsch­land diese Sprache innerhalb von drei Monaten komplett verlernt haben. Dabei haben wir in Afrika sogar unter­ein­ander Kikongo gespro­chen, und unsere Eltern hatten Angst, dass unser Deutsch darunter leiden würde.

Aber das war ein Verdrän­gungs­pro­zess, der sofort einge­setzt hat, als wir wieder hier waren. Ich kann nur speku­lieren, was die Gründe waren: Es lag bestimmt zum Teil an einem schlechten Gewissen. Auch als Neun­jäh­riger habe ich begriffen, in was für einem Wohlstand wir in Europa leben – vergli­chen mit den Menschen dort. Ich erinnere mich an Briefe von afri­ka­ni­schen Freunden, die einfach nur Unter­hosen oder ein paar Turn­schuhe geschickt haben wollten. Das war eine Situation, mit der ich als Kind nicht richtig klar­ge­kommen bin – und viel­leicht ist das bis heute so. Dann spielte natürlich eine Rolle: Ein Neun­jäh­riger will in der Schule keine Sonder­rolle spielen. Ich wollte nicht »der Afrikaner« sein, sondern so sein, wie alle anderen.

Das war ein sehr schwerer Anpas­sungs­pro­zess: Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich als Kind in Deutsch­land so richtig ange­kommen war. Mein erstes Grund­schul­jahr in Deutsch­land war zugleich überhaupt mein erstes Jahr an einer öffent­li­chen Schule. Denn in Afrika hatte uns unsere Mutter unter­richtet. Wir hatten maximal eine Stunde Unter­richt am Tag. Und plötzlich saß ich von halb acht bis um eins mit 30 Klas­sen­ka­me­raden in der Schule.

An meinem ersten Schultag hatte sich der einzige Türke in der Klasse neben mich gesetzt, weil ich ja „der Afrikaner“ war, und er „der Türke“. Dann mussten wir alle einen Aufsatz schreiben über »mein schönstes Feri­en­er­lebnis«, und da habe ich – vermut­lich weil ich die spek­ta­kulärsten Geschichten zu erzählen hatte – eine „1“ bekommen. Er hat sich wegge­setzt, weil er nicht neben einem „Streber“ sitzen wollte. Das war mein Einstieg.

Dann kam noch hinzu, dass meine Eltern uns nicht dem Fernsehen aussetzen wollten – daher konnte ich ganz viele Schul­hof­ge­spräche nicht mitführen.

Wenn ich Kinder habe, werde ich denen in jedem Fall erlauben, fern­zu­sehen, denn ich kann bis heute nicht gut mit dem Medium umgehen. Ich habe eine Tendenz zur Sucht – da ist die Versu­chung groß, fünf Stunden lang Tour-de-France anzu­gu­cken. Ich war auch eine Weile Phoenix-süchtig.

artechock: Würdest Du sagen: Schlaf­krank­heit erzählt die Geschichte Deiner Eltern?

Köhler: Meine Eltern sind 1990 wieder nach Afrika zurück­ge­kehrt, und haben in Kamerun in genau dem Kran­ken­haus gear­beitet, in dem ich gedreht habe. Insofern haben meine Eltern etwa die Hälfte ihres Berufs­le­bens in verschie­denen Ländern Afrikas verbracht: Im Kongo, Kamerun und im Sudan. Mein Vater war auch in Ruanda für Cap Anamur – während der Massaker.

Natürlich beschreibt der Film eine Lebens­welt, die ich über meine Eltern mitbe­kommen habe. Aber letzt­end­lich ist der Film eine Fiktion. Im Prinzip mache ich immer das Gleiche, wenn ich einen Film entwickle: ich spiele einen was-wäre-wenn-Gedanken durch, eine Hypothese.

Die Grund­frage war für mich: Warum wollten meine Eltern wieder zurück nach Afrika? Was hat sie daran faszi­niert? Ich bin niemand, der gerne unter ständiger Beob­ach­tung steht. Ein Weißer in Afrika steht aufgrund seiner Hautfarbe, aufgrund seiner ökono­mi­schen Situation, aufgrund des Gelän­de­wa­gens, mit dem er durch die Gegend fährt, ständig im Zentrum, und wird immer anders behandelt, als alle anderen. Ich habe mich gefragt: Wie halten meine Eltern das aus?

In dem Zusam­men­hang kam ich auf den Gedanken: Was wäre geschehen, wenn meine Eltern sich getrennt hätten? Wenn mein Vater oder meine Mutter alleine dort geblieben wären? Wie hätte das die Bedin­gungen ihres Lebens verändert? Ich glaube, es spielt eine große Rolle, dass meine Eltern zu zweit waren. Sie lebten durch diese familiäre Situation in einem geschützten Raum, in dem ihre europäi­sche Herkunft fort­wirkte. Ebbo, die Haupt­figur meines Films, verlässt hingegen diesen geschützten Raum, und verliert sich selbst. Das war das Gedan­ken­spiel, das ich in meinem Film durch­spielen wollte.

artechock: Warum sind Deine Eltern überhaupt nach nur vier Jahren zurück nach Deutsch­land gegangen? Wegen Euch Kindern?

Köhler: Ja. Sie wollten uns eine Heimat geben. Sowohl sprach­lich, als auch kulturell. Sie hatten das Gefühl, dass es für unsere Entwick­lung wichtig war, einen Ort zu haben, mit dem wir uns iden­ti­fi­zieren, und an den wir zurück­kommen könnten – auch wenn wir viel­leicht später im Ausland leben.

Mein Vater hat dann eine kleine Praxis in Diez an der Lahn gehabt. Ich glaube, dass ihm diese Arbeit viel weniger Freunde gemacht hat, als seine Arbeit in Afrika, die er als viel befrie­di­gender empfunden hat – in Deutsch­land muss ein Allge­mein­me­di­ziner nicht nur Arzt sein, sondern auch Geschäfts­mann, der seinen Kunden­stamm pflegen muss, dafür auch mal eine Krank­schrei­bung aus Gefäl­lig­keit macht, und der wenig mit exis­ten­ti­ellen Nöten zu tun hat. Eher mit Wehweh­chen und sekun­dären psychi­schen Befind­lich­keiten. Dagegen waren gerade diese ersten vier Jahre in Afrika für ihn glaube ich die höchste beruf­liche Befrie­di­gung. Später hat sich das dann auch geändert. Mein Vater hat im Sudan im Auftrag eines deutschen Hilfs­werks das natio­nalen Lepra­pro­gramm betreut, und hat vor allem Super­vi­sion gemacht. Da war er eher eine Art Manager.

Das ist das, was den Großteil moderner Entwick­lungs­hilfe ausmacht. Das hat ihn, glaube ich, weniger befrie­digt, als die konkrete Arbeit mit den Patienten.

artechock: Warum geht man da überhaupt hin? Das ist glaube ich eine ganz wichtige Frage, auch für die Figuren deines Films? Denn Schlaf­krank­heit ist wie gesagt ein Film über Europäer in Afrika.

Geht es also beim Weg nach Afrika nach wie vor, wie bei Joseph Conrad, um die Sehnsucht nach dem Exis­ten­ti­ellen? Nach sinn­vol­leren, erfüll­teren, aber auch inten­si­veren Leben? im sinne von gefähr­li­cher, aufre­gender? Um Abenteuer?

Köhler: Das erste Motiv vieler Entwick­lungs­helfer vor allem in der Gene­ra­tion meiner Eltern war auf jeden Fall roman­ti­sche Sehnsucht nach exis­ten­ti­el­lerem, aben­teu­er­li­cherem Leben. Ich glaube aber, dass sich das sehr gewandelt hat, und habe versucht, das in gewisser Weise in den Film einzu­bauen.

Die Neben­figur Elia, der der Nach­folger von Ebbo wird, reprä­sen­tiert für mich eine moderne, prag­ma­ti­schere Gene­ra­tion, die die Arbeit des Entwick­lungs­helfer, im Prinzip als einen Job wie jeden anderen begreift, als Karrie­re­chance. Das hat sich sehr gewandelt. Das hat auch viel damit zu tun, wo man arbeitet.

In einer Großstadt wie Kampala oder Nairobi kann man ein sehr west­li­ches Leben führen, und seine Freizeit im „Inter­na­tional Club“ verbringen, und in einem sozial gleich­ge­stellten Milieu verkehren, auch von afri­ka­ni­scher Seite. Wenn man auf dem Land ist, wie meine Eltern die meiste Zeit, dann ist es natürlich ein sehr anderes Leben.

Und in einer Zeit, in der es auch unter Akade­mi­kern eine recht hohe Arbeits­lo­sig­keit gibt, ist Entwick­lungs­hilfe ein gut bezahlter Job, der eine große Autonomie besitzt. Auch bei meinen Eltern würde ich nicht sagen, dass sie diese Arbeit aus reinem Idea­lismus gewählt haben. Sie suchten beruf­liche Befrie­di­gung, und mochten die Land­schaft und das Klima.

artechock: Viel­leicht war dieses Deutsch­land auch für die Kinder der Nach­kriegs­zeit zu eng?

Köhler: Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass sich dieses erste Motiv, die Aben­teu­er­lust ziemlich schnell erschöpft. Das Leben der Europäer in Afrika kann ein sehr begrenztes Leben sein. Die kultu­relle und ökono­mi­sche Differenz macht gleich­be­rech­tigte Freund­schaften zur lokalen Bevöl­ke­rung sehr schwierig. Und es gibt viele Enttäu­schungen – auf beiden Seiten. Die meisten Bezie­hungen basieren auf Inter­essen. Und wenn diese Inter­essen nicht befrie­digt werden, oder nicht mehr bestehen, ist auch die Freund­schaft dahin. Das heißt: Die meisten Expats bewegen sich unter ihres­glei­chen. Auch meinen Eltern haben offen gespro­chen aus ihrer Zeit in Afrika sehr wenige afri­ka­ni­sche Freunde.

Einer davon kennt Deutsch­land sehr gut, hat in der DDR und in später der Bundes­re­pu­blik studiert, hängt also eher zwischen den Kulturen. Die meisten ihrer Freunde sind Entwick­lungs­helfer wie sie. Das bedeutet: Es ist ein sehr begrenzter Radius, in dem man sich bewegt. Es gibt nur sehr wenige Menschen, mit denen man privat verkehrt. Irgend­wann haben sich dann auch die Sehens­wür­dig­keiten des jewei­ligen Landes erschöpft. Und dann hat man nicht das kultu­relle Angebot, dass man hier hat – kein Kino, kein Theater.

Daher haben viel­leicht gerade jene, die wirklich mit Ausstei­ger­ge­danken nach Afrika gegangen sind, und zum Teil auch gar nicht zurück können, ein sehr sehr lang­wei­liges Leben. Es spielt sich zwischen drei verschie­denen Bars, der Lobby des Hilton und irgend­einem fran­zö­si­schen Restau­rant ab – Aben­teu­er­lust kann man damit nicht befrie­digen.

artechock: Was unter­scheidet eigent­lich aus einer Sicht Afrika von allen anderen Gegenden dieser Welt?

Köhler: Erstens mal reden wir immer von „Afrika“ – nicht von konkreten Ländern. Das ist schon sehr entschei­dend. Wir reden nie nur von „Asien“, sondern schon eher konkret von China, oder Japan, oder Korea, oder Indien oder Thailand... Wir begreifen sofort die großen Unter­schiede.

Wenn wir von Afrika reden, reden wir immer vom ganzen Kontinent. Der Unter­schied zwischen dem Sudan und Kamerun ist immens. Äthiopien hat gar nichts mit dem Rest von Afrika zu tun – die Schrift­sprache dort existiert zum Beispiel in etwa so lange wie in Nord­eu­ropa.

Wenn es um Afrika geht, verall­ge­mei­nern wir sehr. Dazu kommt, dass Afrika der Kontinent ist, der die größte ökono­mi­sche Differenz zu Europa aufweist, der am ärmsten ist.

Die europäi­sche Kolo­ni­al­ge­schichte in Afrika ist eine der Brutalsten und die schlimmsten Ereig­nisse liegen weniger weit zurück als die Massaker von Cortez in Amerika zum Beispiel. Die afri­ka­ni­schen Länder sind auch die Letzten, die ihre Unab­hän­gig­keit erkämpft haben. Ich habe den Eindruck, dass Afrika von uns Europäern immer als Sinnbild der Fremdheit gesehen wird. dagegen wollte ich mit meinem Film angehen – zumindest im ersten Teil. Im zweiten Teil spiele ich bewusst mit der Drama­turgie von Conrads Herz der Fins­ternis. Mir war wichtig, roman­ti­sche Klischees vom „fremden Kontinent“ zu brechen, und den Alltag zu erzählen.

artechock: Und bestimmt spielt auch Rassismus eine wichtige Rolle. Der ist nach meinem Eindruck gegenüber Afri­ka­nern gravie­render, als gegenüber Asiaten oder Indios in Latein­ame­rika...

Köhler: Ja, Menschen dunkler Hautfarbe sind viel­leicht dem stärksten Rassismus ausge­lie­fert. Die Erfahrung mußte der Darsteller von Alex leider auch auf der Berlinale machen, als er in der Lobby des Mariotts als Einziger seinen Ausweis vorzeigen sollte. – Deswegen war es mir wichtig, diese zweite Haupt­figur einzu­führen: Ein Franzose schwarze Hautfarbe – der aber noch nie in Afrika war. Diese Figur zeigt, dass die Differenz nichts mit der Hautfarbe zu tun hat, sondern mit der ökono­mi­schen und kultu­rellen Prägung eines Menschen. Ein schwarzer Europäer kann in Afrika genauso fremd oder noch fremder und verlo­rener sein, als ein Weißer.

artechock: Der Titel und die auf den ersten Blick ja merk­wür­dige Form von Zwei­tei­lung lässt an den Film Tropical Malady vom Thailänder Apichat­pong Weer­a­set­hakul denken...

Köhler: Ja, das ist auf jeden Fall eine Referenz, die ich gar nicht verleugnen will. Weer­a­set­hakul ist für mich der inter­es­san­teste zeit­genös­si­schen Filme­ma­cher – neben dem irani­schen Kino, neben dem Koreaner Hong Sang-soo, der für mich auf einer anderen Ebene sehr wichtig ist.

Weer­a­set­ha­kuls Filme haben mich sehr geprägt.

Wobei das Motiv der Verwand­lung, das bei ihm mehrfach vorkommt, in meinem Film auch biogra­phi­sche Hinter­gründe hat. Weil animis­ti­sche Erzäh­lungen in meiner Kindheit in Afrika eine große Rolle spielten: Es hieß von bestimmten Dorfäl­testen, dass sie sich in Nilpferde verwan­deln könnten.

Mein Vater hat uns Kinder seiner­zeit auch immer in einer Pirogge (einem Einbaum) mitge­nommen, um Nilpferde zu beob­achten, und hat die Gefahr die von diesen Tieren ausgeht, stark unter­schätzt, obwohl die Dorf­be­wohner ihn davor gewarnt hatten. Ein paar Jahre, nachdem wir Vanga verlassen hatten, ist eine ameri­ka­ni­sche Medi­zin­stu­dentin im Fluss von einem Nilpferd getötet worden und es gab im Dorf Gerüchte, dass der Leiter des Kran­ken­hauses sich aus Eifer­sucht in ein Nilpferd verwan­delt hätte, um diese Frau zu töten.

Diese Geschichten hatte ich tatsäch­lich zu schreiben begonnen, bevor ich Tropical Malady gesehen habe. Aber Weer­a­set­hakul hat natürlich einen enormen Einfluss auf mich, auch wenn der welt­an­schau­liche Hinter­grund ein völlig anderer ist. Ich habe westliche Philo­so­phie studiert, und bin viel ratio­na­lis­ti­scher geprägt, glaube nicht entfernt an Geister und renne als Sohn eines Schul­me­di­zi­ners auch nie zum Homöo­pa­then.

artechock: Dafür spielst du diesen Geis­ter­glauben ja, auch wenn du es nur ironisch meinen solltest, am Schluss des Films sehr stark durch...

Köhler: Ja. Ich weiß nicht, ob ich von Ironie sprechen würde. Für mich ist das einfach die Lösung für ein unlös­bares Problem: Wie kann Ebbo ein Teil Afrikas werden?

artechock: Kannst du nochmal erklären, was Du an Apichat­pong Weer­a­set­hakul so magst? Der scheint ja Dir dann der Wich­tigste zu sein...

Köhler: Es gibt schon noch andere Figuren des Weltkinos, die mich beein­dru­cken. Ich finde zum Beispiel den ersten Film von Lissandro Alonso großartig, das Werk von Lucrezia Martel. Weer­a­set­hakul ist im Gegensatz zu meinem anderen Helden des zeit­genös­si­schen Weltkinos, zu Abbas Kiaros­tami, ein Filme­ma­cher, über den es sehr schwer ist, zu reden oder zu schreiben. Weil man eine Kino­er­fah­rung macht, die so viel­seitig ist und so offen. Ich glaube, dass es ihm gelingt, bestimmte Erin­ne­rungen in mir zu wecken. Der Film, mit dem ich mich am meisten iden­ti­fi­ziere, ist Syndroms and a Century – was natürlich auch etwas mit dem Thema zu tun hat: Der Landarzt und der Stadtarzt. Ich finde da meine Kindheit wieder. Tief zurück­lie­gende Empfin­dungen – das hat fast eine thera­peu­ti­sche Dimension. Dieser Film evoziert in mir Gefühle und Stim­mungen, die ich einfach kenne, obwohl er in einem Land spielt, dass ich noch nie betreten habe.

Film­sprach­lich ist er ein Regisseur, der sehr sehr offen mit dem Medium umgeht und dem es gelingt, eine mystische Ebene aufzu­bauen, obwohl er sie immer wieder rela­ti­viert, ironi­siert und in Frage stellt. Ganz im Gegensatz beispiels­weise zum neuen Film von Terrence Malick, The Tree of Life, der mich gar nicht berührt. Film ist kein Reli­gi­ons­er­satz. Das stört mich auch teilweise Tarkowski, obwohl Andrej Rubljov einer meiner Lieb­lings­filme ist. Malick spielt für mich auf einer sehr eindi­men­sio­nalen Ebene mit der Sehnsucht nach mysti­scher Erfahrung. Auch mit Bildern, die mir, vorsichtig formu­liert, nicht sehr unge­wöhn­lich erscheinen.

Weer­a­set­hakul hingegen gelingt es eine mystische, viel­leicht vom Buddhismus geprägte Ebene, mit den Erfah­rungen des modernen Lebens zu verbinden. Weer­a­set­hakul ist Buddhist, er ist aber auch Sohn von Ärzten. Ich denke, wenn er krank ist, wirft er auch ab und zu ein Anti­bio­tikum ein. Das erscheint mir viel ehrlicher und weniger verklärt als bei Malick.

artechock: Ich finde das inter­es­sant und auch einleuch­tend, wenn du hier indirekt ausführst, dass es im Kino darum gehen sollte, Gefühle zu wecken und hervor­zu­rufen, und den ganzen Menschen anzu­spre­chen.

Wenn du hingegen Weer­a­set­hakul gegen Malick ausspielst, habe ich Einwände. Da würde ich dagegen halten, dass Malick in seinem neuen Film – und nicht nur in diesem – zwar ein paar wahn­sin­nige Klischees zeigt, dumme, mich ärgernde Klischees, in den ganzen – nennen wir sie mal: – esote­ri­schen Passagen.

Köhler: Auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob man das nicht ebenso über Weer­a­set­hakul sagen muss, und der Unter­schied nicht viel eher vor allem darin liegt, dass Malick aus unserer Kultur stammt, und in deren Kate­go­rien operiert. Wir durch­schauen da die Klischees, oder empfinden manches als Klischee, dem ein Angehö­riger anderer Kulturen viel­leicht noch mit Achtung entgegnet. Auf Weer­a­set­hakul blicken wir wiederum als Fremde, und finden die Klischees einfach inter­es­sant – da spielt uns viel­leicht aber nur der eigene Exotismus einen Streich.

Wenn ich an den letzten Film denke: Wir gestehen da allem Möglichen die Weihe des Fremden zu, und das alles angeblich eine tiefere Bedeutung habe, asiatisch ist – viel­leicht ist das aber der gleiche Scheiß, den Malick macht. Natürlich ist Weer­a­set­hakul auf der anderen Seite ein wunder­barer Filme­ma­cher – aber das ist doch Malick auch!

artechock: Auf den ganzen Ebene, auf der er diese Fami­li­en­ge­schichte erzählt. Wenn wir mal aner­kennen: Er ist ein Konser­va­tiver, und wir müssen wenn wir seine Filme mögen, deshalb noch lange nicht selber konser­vativ werden, wir müssen weder CDU wählen noch Heidegger lesen... Er erzählt von den 50er Jahren. Da begibt sich einer auf die Suche nach der verlo­renen Kindheit...

Köhler: Aber mit Bildern, die ich nicht als persön­lich empfinde. Ich kann einfach im Kino keine schau­kelnden Kinder mehr sehen. Ich musste bei dem Film auch daran denken, wie Jonas Mekas Familie erzählt. Da gibt es, natürlich mit sehr viel einfa­cheren Mitteln, große Analogien: Das Asso­zia­tive, das Impres­sio­nis­ti­sche, das Nicht-Szenische der Umgang mit Off-Text und Voice-Over, das Ausschnitt­hafte, der Umgang mit Musik. Und ich empfinde das als sehr viel ehrlicher als bei Malick, als authen­ti­scher – das ist natürlich jetzt ein Wort, das man proble­ma­ti­sieren kann.

Am meisten stört mich dieses Bild der Mutter, der Frau, als das unge­bro­chen Gute, als die Natur, der Ursprung der Mensch­heit. Viel­leicht hat Malick so unge­bro­chen positive Erin­ne­rungen an seine Mutter, und natürlich darf er mit diesem Bild arbeiten, aber Courbet hat das über 100 Jahre früher sehr viel besser hinge­kriegt, finde ich...

Oder das Verhältnis zum Tod: Ich habe gerade eine ziemlich prägende Erfahrung gemacht. Weil meine Groß­mutter gestorben ist, und ich zusammen mit meinem Vater die letzte Woche mit diesem ster­benden Menschen verbracht habe. Da gibt es auch ganz banale Momente. Und die zu fassen, gelingt Weer­a­set­hakul, ohne den Menschen zu bana­li­sieren und die Welt zu entzau­bern. Er zeigt beides: Die Nieren­wa­schung und die Geister.

Aber natürlich gibt es generell bei Filmen, die von Kulturen handeln, die wir nicht gut kennen, ein größeres Wohl­wollen. Gerade auch was die Beur­tei­lung von Schau­spiel betrifft. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich Thai verstehen würde. Natürlich ist man viel strenger, bei der Beur­tei­lung von Filmen in der eigenen Sprache. Wenn ich an einige kata­stro­phalen Dialoge von deutschen Filme denke, die im Ausland gefeiert werden, dann weiß ich das fremd­sprach­liche Filme sehr viel wohl­wol­lender ange­schaut werde als eigene.

In Deutsch­land will man auch nicht das Intel­lek­tu­elle... das zeigt sich am Umgang mit fran­zö­si­schen Filmen. Das sind sehr sinnliche Filme, sie machen Spaß, aber verlangen auch Bereit­schaft und Vorwissen. Und da gibt es dann nicht den Bonus, das man sagen kann: Die sind buddhis­tisch und ganz anders. Sondern die sollen sein, wie wir, und wenn sie es nicht sind, reagiert man eher gekränkt, und sagt: Die arro­ganten Franzosen.

artechock: Magst Du Regis­seure wie Desplechin?

Köhler: Desplechin mag ich gern. Aber mein Lieb­lings­film ist von 1995: Comment je me suis disputé...

artechock: Die letzten zwei?

Köhler: Roi et reine mochte ich. Da war ich gespalten. Generell hat er ein wahn­sin­niges Talent, sehr intel­lek­tu­elle, eigent­lich unspiel­bare Dialoge sehr lebendig zu insze­nieren, und gleich­zeitig mag ich, wie er mit der reinen Lehre des Autoren­films bricht und mit sehr trivialen Mustern spielt.

In der Zeit, in der ich ange­fangen habe, waren die prägenden Filme­ma­cher für mich Bruno Dumont und die Dardenne-Brüder. Und Marie Vermil­lard, deren Film Lila Lili 1999 im Inter­na­tio­nalen Forum der Berlinale lief. Ich werde den jetzt in der Revolver-Edition heraus­bringen.

artechock: Würdest du sagen, dass deine Vorstel­lung von Realismus diesen Regis­seuren sehr verwandt ist?

Köhler: Ich finde, film­sprach­lich ist es dann doch sehr unter­schied­lich: Die Art der Schau­spiel­in­sze­nie­rung, der Kame­rafüh­rung, da bin ich Dumont näher, als den Dardennes.

Paral­lelen zu beiden sehe ich in der Grund­hal­tung den Figuren gegenüber. Die würde ich so beschreiben: Wir erklären unsere Figuren nicht, sondern wir lernen sie durch ihre Hand­lungen und ihr Verhalten kennen. Das Kino ist eher ein beha­vio­ris­ti­sches Instru­ment. es kann innere Zustände nicht gut erfassen – außer bei Terrence Malick mit seinen Off-Dialogen – und ist darin der Prosa unter­legen.

Diese Grund­hal­tung teile ich. Der deutsche Fern­seh­film hingegen will die psychi­sche Verfas­sung seiner Figuren erklären. Sondern dass man eine Figur im Kino genauso kennen­lernen kann, wie man Menschen im Alltag kennen­lernt: Durch Beob­ach­tung. Kleidung, Sprache, Verhalten. Schon nach einer halben Minute haben wir ein sehr genaues Bild von einem Menschen, ohne dass wir über Zusatz-Infor­ma­tionen wie Herkunft, Kindheit, beruf­liche und private Situation verfügen. Insofern gibt es schon eine Verwandt­schaft. Ich kenne keine Defi­ni­tion von Realismus, die ich über­nehmen könnte. Für mich steht der Begriff dafür, dass ich mich als Autor auf Erfah­rungen und Lebens­welten beziehe, die ich persön­lich kenne Und mich nicht wie im Genre-Kino in einer Welt bewege, die ich nur in der Kunst existiert. Aber der Natu­ra­lismus, also mime­ti­sche Kunst inter­es­siert mich nicht.

artechock: Natu­ra­lismus wäre Abbild­rea­lismus...

Köhler: Genau. Daran glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass das Kino einen Raum schaffen kann, in dem man Erfah­rungen machen kann, die analog sind zu dem, was man aus seinem Alltag kennt, und die man nach­voll­ziehen kann. Aber das kann man mit ganz unter­schied­li­chen Mitteln erreichen. Das schafft auch Buñuel. Obwohl er alles andere als ein Realist ist, schafft er es in seinen besten Filmen, unsere Sehn­süchte und Perver­sionen zu wecken.

artechock: Ist es dir schon passiert, dass du solche Erfah­rungen auch in Filmen gemacht hast, die zwei­fellos im Prinzip völlig eska­pis­tisch gedacht sind? Das auch in Filmen, wie X-Men die Grenze zum Leben fließend wurde?

Köhler: Ja, ich mag ja so ein Kino. Wenn ich über die eska­pis­tischsten Filme nachdenke, die mich begeis­tert haben, dann waren das zum Beispiel Paul Verhoe­vens Starship Troopers oder Tarantino, den ich sehr bewundere, obwohl er so refe­ren­tiell ist, dass ich da nicht mehr von Eska­pismus reden würde...

artechock: Starship Troopers gilt nicht, denn das ist schon wieder so ein Held der Autoren­filmer. Den nennt sogar Rivette...

Köhler: Ja, genau. OK, ich nehme ein anderes Beispiel: Vom Winde verweht. Den wollte ich ähnlich wie die femi­nis­ti­schen Bücher meiner Mutter nie sehen. Aber es war eine starke emotio­nale Erfahrung, gerade in seiner melo­dra­ma­ti­schen Über­höhung. William Wyler ist auch ein gutes Beispiel. Und von Vincente Minelli habe ich gerade einen genialen Film gesehen: Some Came Running. Das ist einer der schönsten ameri­ka­ni­schen Film, den ich kenne.

artechock: Die allge­meine Lehre ist also, nachdem es mit Doris Lessing und mit Vom Winde verweht so ging, dass du dir mehr Sachen angucken musst, die du nie ansehen wolltest...

Köhler: Ja, ich finde sowieso, dass man als Künstler nicht nur Bestä­ti­gung suchen darf in Dingen, die einem nahe sind, sondern dass man sich auch mit Dingen beschäf­tigen sollte, die einem erstmal fremd scheinen.

In der Literatur habe ich das viel eher erlebt.

Aber die Frage war ja eigent­lich...

artechock: ...ob Kino auch eska­pis­tisch sein darf?

Köhler: Das auf jeden Fall. Ich lehne das nicht generell ab.

artechock: Es inter­es­siert dich nur als Filme­ma­cher nicht, vermute ich...

Köhler: Genau! Ich fühle mich da nicht wohl. Und ich finde so eine bestimmte Über­wäl­ti­gungs­stra­tegie frag­würdig... Bestimmte Filme­ma­cher sind mir fremd. zum Beispiel Orson Welles.

artechock: Aber magst du das als Zuschauer?

Köhler: Naja... diese wahn­sin­nige Begeis­te­rung für Citizen Kane teile ich nicht. Mein Lieb­lings­film von Welles ist A Touch of Evil. Ich liebe den film noir. Auch Siodmak... Also eska­pis­ti­sches Kino hat seine Berech­ti­gung. Aber ob ich je so etwas mache, kann ich nicht sagen. Ich habe aber das Gefühl, die Ausbeu­tung meiner Biogra­phie hat sich ein bisschen erschöpft. Ich kann mir schon vorstellen, in Richtung Genre zu gehen. Ob es mir dann wirklich gelingt, iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Kino zu machen, weiß ich nicht.

artechock: Iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Kino? Was meinst Du damit?

Köhler: Naja, den Iden­ti­fi­ka­ti­ons­be­griff muss man natürlich proble­ma­ti­sieren. Mit wem iden­ti­fi­ziert sich der Zuschauer? Was bedeutet das? Es gibt ohne Zweifel Filme, in denen der Zuschauer mehr Nähe zu den Prot­ago­nisten empfindet, als in meinen. Nicht nur im Main­stream auch bei Bresson gibt es Iden­ti­fi­ka­tion: Mouchette ist eine Figur, mit der man fühlt.

Aber gleich­zeitig ist Vom Winde verweht ein wunder­bares Beispiel für Eska­pismus ohne Iden­ti­fi­ka­tion. Denn die Haupt­figur ist eine alles andere als sympa­thi­sche Figur. Das ist das Faszi­nie­rende an dem Film.

Immer, wenn ich mit anderen Menschen über meine Dreh­bücher rede, und der Einwand kommt: Aber die Haupt­figur ist doch unsym­pa­thisch, dann komme ich mit Vom Winde verweht. Scarlett ist eine sehr komplexe und unsym­pa­thisch handelnde Figur. Aber sie ist eine der wich­tigsten Heldinnen der Kino­ge­schichte.

artechock: Würdest du denn sagen, dass alle deine drei Filme auto­bio­gra­phi­sche Filme waren?

Köhler: Sagen wir so: Es sind alles Filme über Lebens­welten, die ich kenne. So. So würde ich sagen. Das trifft es.

Warum ich Spiel­filme mache, und was mich immer wieder beim Schreiben inter­es­siert, ist der Gedanke des Films als Hypothese. Die Frage: »was-wäre-wenn«? Zum Beispiel bei Bungalow ganz banal: Ich stand vor der Entschei­dung, ob ich zur Bundes­wehr gehe, meinen Zivil­dienst mache, oder Total­ver­wei­gerer werde. Ich habe mich gefragt, was für mich die subver­sivste Haltung wäre. Was wäre gewesen, wenn ich zur Bundes­wehr gegangen wäre und sozusagen diesen links­li­be­ralen Konsens in meinem Umfeld aufge­geben hätte? Das sind Ansatz­punkte, aus denen ich Figuren entwickle, und Filme mache.

artechock: Du hast dann Zivil­dienst gemacht, nehme ich an?

Köhler: Ich habe meinen Zivil­dienst gemacht. [Lacht] Aber intel­lek­tuell und ideo­lo­gisch hätte ich Total­ver­wei­ge­rung als die konse­quen­teste Haltung empfunden.

artechock: Ich war bei der Bundes­wehr. Ich komme glaube ich aus einem ähnlichen Umfeld, aber mich haben die Leute genervt, die Zivil­dienst als billige Flucht genommen haben, um weiter zuhause zu wohnen, und keine Uniform tragen zu müssen. Und ich wollte nicht lügen: Ich bin kein Pazifist. Ich finde, manchmal muss man Waffen benutzen.

Köhler: Ich auch. Mein Vater ist zum Beispiel jemand, der schon sehr früh in seiner Kindheit gelernt hat, Waffen zu benutzen. Mein Großvater war General und alle meine Onkels waren bei der Bundes­wehr und ich habe auch schon als Kind mit großen Waffen im Park meiner Groß­mutter geschossen. Also ich bin jemand, dem eine gewisse Faszi­na­tion für Waffen nicht fremd ist.

Ich bin auch kein Radi­kal­pa­zi­fist, und glaube, ich würde mich in bestimmten Situa­tionen mit Gewalt zur Wehr setzen. Aber ich würde mir diese Situa­tionen gern selbst aussuchen. Und kann mir nicht vorstellen, dass ich das auf Befehl eines anderen tun würde.

artechock: Du hast vorhin erklärt, warum du glaubst, dass Mittel­schicht im deutschen Kino wichtig ist: Weil das deutsche Leben am stärksten von der Mittel­schicht geprägt ist. Dann hast du auch von der Erfahrung mit deinem Film bei der Berlinale gespro­chen: Vorwürfe aus der Ecke der Political Correct­ness. Das wollte ich verknüpfen.

Mittel­schicht kann etwas sehr Verschie­denes heißen: Mili­tantes Klein­bür­gertum mit konser­va­tiven Werten, wie links­li­be­rales Milieu, das grün wählt, am Prenz­lauer Berg wohnt – in dem wir wahr­schein­lich in irgend­einer Form alle leben...

Köhler: Und trotzdem für die FAZ schreiben...

artechock: Mir ist auch klar, dass du eher zu denen gehörst, die die Rede von der »Berliner Schule« verzichtbar finden, und am liebsten nicht im Zusam­men­hang mit ihren eigenen Filmen lesen. Ich kenne aber keinen besseren, um diese Gruppe zu beschreiben, zu der auch du gehörst, die sich in irgend­einer Form um die Alters­ge­nossen zweier Alters­ko­horten und um den Ort Berlin zentriert, um die Zeit­schrift revolver, um einen bestimmten Blick auf das Leben und Deutsch­land und um bestimmte Vorlieben im Kino oder gemein­same Abnei­gungen.

Köhler: Ich sehe da vor allem die Gefahr der Verall­ge­mei­ne­rung...

artechock: Natürlich! Diese Gefahr gibt es. Das ist immer so. Wo man Leute zusam­men­fasst, muss man verall­ge­mei­nern. Aber was soll man machen? So wie wir auch über Afrika gespro­chen haben...

Köhler: Maren Ades Kino ist doch zum Beispiel sehr viel mehr an Psycho­logie und sehr viel weniger an Film­sprache inter­es­siert, als die Filme von Thomas Arslan und Angela Schanelec. Ich weiß nicht wie man das unter einen Hut kriegt.

artechock: Das war nicht ich. Ich bin da aber auch nicht besonders dogma­tisch. Ich glaube sowieso nicht, dass man mit Begriffen besonders dogma­tisch umgehen sollte.

Köhler: Als Philosoph?

artechock: Ja eben. Begriffe sind Sprach­spiele. Eher der späte Witt­gen­stein, als der frühe – es geht nicht darum jeden in sein Kästchen zu ordnen. Sondern ich denke eher in Schnitt­mengen. Und ich hätte für die „Berliner Schule“ noch eher das Bild, dass es da ein imaginäres, viel­leicht von keinem konkreten Filme­ma­cher volls­tändig getrof­fenes Zentrum gibt, um das sich dann die anderen in konzen­tri­schen Kreisen anordnen. Manche sind nahe dran, manche ferner, andere haben kaum noch Berüh­rungs­punkte. Und da gehört Maren zu denen, die weiter weg sind. Da gibt es dann verschie­dene Felder...

Köhler: Ja. Mit Witt­gen­stein verstehe ich das.

artechock: Viel­leicht sollte man eine Zeichnung dazu machen...

Köhler: Mach' doch mal eine Mengen­leh­ren­zeich­nung – statt einem Bild aus dem Film einfach ein paar Kreise [Lacht].

artechock: Also: die »Berliner Schule« im einzelnen aufzu­drö­seln, wäre ein sehr inter­es­santes Vorhaben – wie gesagt bin ich eher für einen prag­ma­ti­schen Begriffs­ge­brauch. Aber jetzt wollte ich eher noch einmal auf den Begriff der Mittel­schicht zu sprechen kommen. Du hast selbst gesagt: »Mit west­deut­schem Blick«. Das wäre ja auch nichts Schlimmes. es geht hier nicht um Gut und Schlecht. Aber: Wenn es denn zutrifft, dass dein Blick ein west­deut­scher ist, ein Mittel­schicht­blick und noch manches mehr... – gibt es da nicht auch ein Bedürfnis aus solchen Perspek­tiven einmal heraus­zu­treten, univer­saler zu werden. Die limi­tieren ja auch. Auch um auf dich selber einen Blick von Außen zu werfen.

Köhler: Ich glaube, dass ich mich von meiner ästhe­ti­schen Grund­hal­tung her niemals in eine Fremd­per­spek­tive begeben könnte. Ich könnte mich natürlich entscheiden, mal einen Genrefilm zu machen. Wenn ich mich richtig an mein abge­bro­chenes Philo­so­phie­stu­dium erinnere, ist es Rorty, der sagt, dass wir unsere euro­zen­tri­sche Perspek­tive gar nicht verlassen können. Dass wir uns zu ihr eher bekennen müssen, anstatt sie zu negieren. Das trifft ziemlich genau meine Haltung zum Filme­ma­chen. Ich glaube, dass ich immer meinen Stand­punkt markieren muss, wenn ich ein Kunstwerk schaffe. Ich habe auch gar kein Bedürfnis, diese Perspek­tive zu verlassen.

Das heißt natürlich nicht, dass ich keine neue Wege gehen will. Das ist aber nicht so einfach, wenn man nicht Lars von Trier ist, dem es wirklich gelingt, seine filmische Grammatik immer wieder in Frage zu stellen und neue Methoden des Filme­ma­chens zu entdecken. Ich mag zwar wirklich nur wenige seiner Filme, aber dafür bewundere ich ihn – Für die meisten Künstler gilt: Sie können gar nicht aus ihrer Haut. Sie können gar keine anderen Filme machen, als die, die sie machen.

Aber es ist wichtig, sich infrage zu stellen und sich nicht auszu­ruhen auf seinem Bären-, Löwen- oder Leopar­den­fell. Nach Bungalow wollte ich mein Formen­re­per­toire erweitern. Ich empfinde Montag kommen die Fenster zwar als radi­ka­leren Film, mutigeren Film. Allein schon von der Erzähl­struktur her: Mit dem Perspek­tiv­wechsel, und dass es so einen explizit nicht realis­ti­schen Teil des Films gibt. Aber film­sprach­lich sind sich die Filme schon sehr ähnlich, Montag hat sogar weniger Schnitte als Bungalow, obwohl ich nicht so sehr in Plan­se­quenzen arbeiten und den Schau­spie­lern mehr Freiheit lassen wollte. Am Set konnte ich mir das dann gar nicht mehr vorstellen. Da sah ich keinen Sinn mehr darin, eine Szene, die ich gut in einer Einstel­lung erzählen kann, in zwei oder drei Einstel­lungen zu unter­teilen.

In Schlaf­krank­heit habe ich ja mein Reper­toire schon etwas erweitert: Er hat 170 Schnitte, fast doppelt soviel, wie der vorherige. Es gibt klas­si­sche Schuss-Gegen­schuss-Szenen, zum Beispiel bei Gesprächen am Tisch. Das ist für den Außen­ste­henden viel­leicht keine Revo­lu­tion. Aber für mich war das ein großer Schritt. Und natürlich will ich, wenn ich mir mein Leben vorstelle, immer neue Erfah­rungen machen.

Aber ich bewundere auch serielle Künstler: Hong Sang-soo macht jedes Jahr denselben Film.