Der Film als Hypothese, die Frage: »was-wäre-wenn« |
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Silberner Bär für Schlafkrankheit | ||
(Foto: Farrbfilmverleih) |
Der heute in Berlin lebende Filmemacher Ulrich Köhler wurde 1969 in Marburg geboren. In Frankreich und Hamburg studierte er zunächst Philosophie, dann Visuelle Kommunikation. Mit seinem Spielfilm-Debüt Bungalow (das 2002 im Internationalen Forum der Berlinale Premiere hatte) und dann Montag kommen die Fenster (Forum 2006) gewann er jeweils den Hessischen Filmpreis, sowie große internationale Anerkennung. Köhler gilt als einer der zentralen Vertreter der losen Gruppe der »Berliner Schule«. Mit seinem dritten Spielfilm Schlafkrankheit nahm Köhler am Wettbewerb der Berlinale 2011 teil und gewann den Silbernen Bär für »Beste Regie«. Jetzt kommt dieser Film, der von einem deutschen Entwicklungshelfer in Afrika erzählt, ins Kino. Ein ausführliches Gespräch – unplugged...
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Verstehst du, warum manche Leute mit Schlafkrankheit auf der Berlinale Schwierigkeiten hatten?
Ulrich Köhler: Zunächst einmal bin ich tatsächlich jemand, der versucht, möglichst wenig Kritiken zu lesen. Weil ich das Gefühl habe, dass das mich nicht unbedingt weiterbringt. Es fällt mir wirklich schwer, über mich selbst zu lesen. Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Ich fühle mich immer unwohl, wenn ich über mich selbst lese. Auch Positives, nicht nur Negatives.
Was die Rezeption von Schlafkrankheit auf der Berlinale angeht, war ich im Vergleich zu meinen anderen Filmen, die dort auch liefen, schon ein bisschen überrascht. Das Forum und das Panorama sind natürlich geschüztere Räume. die erste Reaktion war damals insgesamt viel positiver. Jetzt war sie ambivalenter.
Ich beziehe das vor allem auf die Erwartungen, die mit einem Wettbewerbsbeitrag verbunden sind. Die sind mit einer bestimmten Art von Autorenfilm nicht immer kompatibel. Konkret auf den Film bezogen, könnte ich mir vorstellen, dass Filme über westliche Ausländer, Expats, in Afrika inzwischen fast ein eigenes Genre sind. Da gibt es gewisse Erwartungen an Landschaftskitsch, an Mystizismus. Die wollte ich ganz bewusst enttäuschen, oder zumindest relativieren, indem ich mit ihnen spielte.
artechock: Schlafkrankheit ist stark autobiographisch geprägt...
Köhler: Durch meine Kindheit in Zaïre – die heutige Demokratische Republik Kongo – und dadurch, dass ich meine Eltern später in den 90er-Jahren in Kamerun und im Sudan besucht habe, kenne ich einige afrikanische Länder ganz gut. Ich wollte eine für meine Begriffe realistische Beschreibung des Lebens der Ex-Pats, das sind westlichen Ausländer, in Afrika vornehmen. Aber der Film erzählt nicht die Geschichte meiner Eltern, sie sind heute noch glücklich verheiratet.
Ich bin natürlich Vorwürfen von Menschen begegnet, die den Film aus politischer Korrektheit als problematisch empfinden. Weil er die verbreitete Korruption anspricht, und keine rundum positive afrikanische Figur zeigt – genausowenig wie eine rundum positive europäische. Mir sind zum Beispiel auch die Polizisten zu Anfang des Films sympathisch. Für mich ist das eine Szene, die erzählt, dass mein Protagonist einen spielerischen Umgang damit hat und die Polizisten versteht. Mir selbst geht es nicht anders: Ich weiß, was so eine Straßensperre für einen Polizisten bedeutet: Es bedeutet, dass er am Abend seine Familie ernähren kann, und eine Summe X an seinen Vorgesetzten abdrücken muss, der ihm diese Straßensperre anvertraut hat. Denn der Staat bezahlt seine Beamten nicht so, dass sie davon leben können. Das kann ich im Rahmen eines Spielfilms vielleicht nicht in seiner ganzen Komplexität darstellen – aber es auszusparen wäre für mich nicht infrage gekommen, weil es dort Teil des Alltags ist.
Straßensperren begegnet man in Kamerun mehrmals täglich. Das ist einfach so.
artechock: Jetzt hast Du schon im Rundumschlag eine Menge Themen angesprochen, die wir vertiefen sollten. Bevor wir zur Entstehungsgeschichte dieses Films zurückkehren eine andere Frage: Es gibt in allen drei Spielfilmen von Dir unter anderem eine Gemeinsamkeit: Den Bezug zu Nordhessen.
Köhler: Nicht Nordhessen, das ist Mittelhessen...
artechock: Marburg!
Köhler: In Marburg geboren, aber dann in Limburg und Diez zum Teil aufgewachsen.
artechock: Bungalow war zwischen Gießen und Marburg angesiedelt, Montag kommen die Fenster spielt in Kassel. In Schlafkrankheit zieht die Familie des Entwicklungshelfers nach Wetzlar zurück...
Köhler: Wetzlar ist für mich ein einerseits aufgeladener Ort – der Werther spielt ja dort – andererseits eine Kleinstadt, in der ich nicht gerne leben würde. Ich kann mir zwar vorstellen auf dem Land zu leben, aber dann richtig. Oder eben in der Großstadt. Ich finde, dass Kleinstädte weder die Vorteile des Landlebens, noch die der Stadt haben.
artechock: Woher kommt dieser kontinuierliche regionale Bezug?
Köhler: Das hat schon autobiographische Ursachen. Weniger Fördergründe. Es gibt im Hinblick auf das Aussehen der Motive große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Das hat seine Gründe in unterschiedlichen Wohlstandsniveaus. Hessen ist weniger wohlhabend als der Süden.. Es repräsentiert für mich bundesrepublikanischen Durchschnitt. Wenn man die Frankfurter Region ausnimmt, findet man viel Mittelmaß.
artechock: Vielleicht ist so eine mittlere Kleinstadt auch sehr repräsentativ für Deutschland...
Köhler: Dadurch, dass ich in Frankreich studiert habe, ist es mir bewusster geworden, wie stark die föderale Struktur Deutschlands das Land geprägt hat. Deutschland ist durch die Provinz geprägt. Auch wenn sich Berlin für Kulturschaffende immer mehr zum zentralen Ort entwickelt.
artechock: In Schlafkrankheit beschreibst Du recht genau afrikanische Gesellschaftsverhältnisse. Deine anderen Filme waren eher Kammerspiele: In Bungalow kommt am Rand die Bundeswehr vor, in Montag kommen die Fenster zeigst Du ein Hotel – aber im Zentrum stehen wenige Figuren, die in Bewegung sind. Liegt das daran, dass Dich die deutsche Gesellschaft nicht interessiert, oder woran liegt es?
Köhler: Ich glaube, dass man Gesellschaft auf mehreren Ebenen darstellen kann. Im Mikrokosmos bildet sich immer der Makrokosmos ab. Das ist auch der Ansatz von Schlafkrankheit. Zwar werden dort politische und gesellschaftliche Themen expliziter angesprochen, aber letztlich glaube ich, dass Filmemachen nur über das Konkrete funktioniert. Meine Strategie ist über das Konkrete das Allgemeine zu erzählen. Natürlich hoffe ich, dass meine Filme nicht als rein privatistische, subjektive Erfahrungsberichte wahrgenommen werden. Sondern dass sie schon etwas abbilden, das allgemeiner Natur ist.
Alle meine Filme handeln von der Mittelschicht. Und die Mittelschicht ist immer noch das, was Deutschland am stärksten prägt, auch wenn es ohne Frage immer mehr Menschen gibt, die in sehr armen Verhältnissen leben.
Man kann das in den letzten Wahlen auch an den Stimmgewinnen der GRÜNEN sehen – die haben sehr viel damit zu tun, dass nach wie vor das Leben des größeren Teils der Gesellschaft nicht nur von ökonomischen Zwängen bestimmt ist.
artechock: Ich sehe deine Filme bestimmt nicht als privatistisch an. Aber „das Konkrete“ gegen „das Gesellschaftliche“ ins Feld zu führen, scheint mir umgekehrt auch unpräzise zu sein, weil ja die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht minder konkret sind.
Macht und Geld sind sehr konkret. Man kann sie nur nicht so leicht zeigen. Aber das ist doch gerade die Herausforderung. Und in Schlafkrankheit meisterst du sie sehr gut. In diesem Fall ist das auch sehr leicht, denn es gehört ja zum konkreten Alltag, der Entwicklungshelfer im Zentrum, dass sie mit Repräsentanten von Institutionen reden, mit Funktionären und Polizisten, dass sie an Sitzungen teilnehmen, dass es in komplizierten Verhandlungen um Geld und Deals geht...
Köhler: Genau. Aber generell ist es sehr schwer, abstraktere Arbeitsprozesse oder ökonomische Vorgänge darzustellen. Einer der wenigen Filme, denen das gelungen ist, ist Christian Petzolds Yella. Da werden die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft auf eine explizite und trotzdem konkrete Weise abgebildet.
Wenn man sich aber das Gros des Filmschaffens anguckt, stellt man fest, dass es nicht die Stärke von Film ist, Prozesse abzubilden, die man besser in Texten darstellen kann.
artechock: Nicht die Stärke des deutschen Nachkriegsfilms zumindest. Im Weimarer Kino schon. So bilden etwa die Mabuse-Filme von Fritz Lang extrem präzis gesellschaftliche Prozesse ab. Auf einer metaphorischen und symbolischen Ebene. Außerdem kann sich Macht und Geld und Aggression auch an Gegenständen, an Objekten zeigen. Ganz sinnlich. Ich mag immer diese dicken Autos, diese Bodyguards, diese graublaue Welt aus Stahl, Glas, Metall und Beton, aus dunklen Anzügen und Mobiltelefonen.
Köhler: Ich glaube, je komplexer die Prozesse sind, die man im Film erzählt, desto mehr muss man vereinfachen. Das, was Du erzählst, habe ich eigentlich mehr im Dokumentarischen gefunden. Am interessantesten bei Frederick Wiseman, dem es wirklich gelingt, ohne zu personalisieren, Institutionen zu porträtieren und ohne propagandistische Absichten gesellschaftliche Phänomene zu betrachten. Während der Vorbereitung zu Schlafkrankheit habe ich parallel darüber nachgedacht, einen Film über den Parlamentarismus zu drehen. Dazu habe ich viel Zeit im deutschen Bundestag verbracht, einen Untersuchungsausschuss beobachtet. Aber ich habe sehr schnell gemerkt – ohne dass ich zu einem abschließenden Urteil gekommen wäre – dass das ein Thema ist, dass ich mir besser dokumentarisch vorstellen kann. Weil ich das Gefühl habe, die Fiktionalisierung würde die Dinge unangemessen vereinfachen und ihre Komplexität zerstören.
Ich habe da noch keine filmische Lösung gefunden, obwohl mich das Thema sehr interessiert – ich bin jemand, der sich extrem, fast schon junkiehaft mit Tagespolitik beschäftigt. In Romanform gibt es dagegen sehr gelungene Beispiele: Wolfgang Koeppens „Das Treibhaus“ begeistert mich. Das finde ich sehr gelungen. Im Film habe ich das so noch nicht gesehen.
artechock: Kannst Du Dir vorstellen, auch einmal Dokumentarfilme zu machen?
Köhler: Ich habe bei den Recherchen zu diesem Film in Äthiopien und im Kongo am Anfang eine Kamerafrau mitgenommen. Denn ich hatte so ein bisschen die Hoffnung, dass mir etwas ähnliches gelingen könnte, was Kiarostami bei den Recherchen zu ABC Afrika gelungen ist: Nämlich schon im Recherchematerial meinen Film zu finden.
Ich habe aber sehr schnell begriffen, dass ich mich extrem unwohl fühle in dem Moment, in dem ich Menschen beobachte und dabei filme. Ich bin zwar ein großer Bewunderer der Dokumentarfilme von Raymond Depardon, Frederick Wiseman und Chantal Akerman. Aber ich selbst habe sehr schnell das Gefühl, jemanden auszubeuten, wenn ich eine Kamera auf ihn richte. Das ist wohl eine Charakterfrage. Ich bevorzuge es eindeutig einen Vertrag mit einem Schauspieler zu haben, dessen Beruf es ist, sich vor eine Kamera zu stellen.
Ich will es nicht für alle Zeiten ausschließen, einen Dokumentarfilm zu drehen. Aber ich kann mir, wenn überhaupt, nur vorstellen, über Menschen einen Dokumentarfilm zu machen, mit denen ich auf einer Ebene kommunizieren kann, Ich könnte mir niemals vorstellen, einen Film zum Beispiel über Arbeitslose in Frankfurt/Oder zu machen.
Einen Film über den Politikbetrieb könnte ich mir schon viel eher vorstellen.
artechock: Also ohne ökonomische Überlegenheitsverhältnisse. Aber gegenüber Bundestagsabgeordneten oder Wirtschaftsbossen wärest du eher in einer unterlegenen Position. Die lassen sich auch nicht so leicht ausbeuten...
Köhler: Genau. Die Frage ist nur, ob man da etwas Interessantes hinbekommt. Ich fürchte, die Situationen, die einen wirklich interessieren, kann man nicht filmen. Oder man ist gar nicht dabei. Das finde ich zum Beispiel das Geniale an dem Dokumentarfilm von Harun Farocki, der das Vorbild für die Verhandlungsszenen in Yella ist: Wie es der wirklich schafft, Menschen bei der Arbeit zu zeigen, ohne sie vorzuführen. Und trotzdem beschreibt er sehr genau die Situation. Ich finde das höchst spannend. Aber ich glaube, dass ich da von meiner Persönlichkeitsstruktur her größere Schwierigkeiten habe. Also, um das abzuschließen: In Afrika habe ich bei den Recherchearbeiten irgendwann die Kamera weggelassen, und mich damit sehr viel wohler gefühlt.
artechock: Führst du für deine Filme in der Regel Interviews? Oder wie recherchierst du überhaupt?
Köhler: Das ist der erste Film, bei dem ich recherchiert habe. Das hat mir auch geholfen. Gleichzeitig glaube ich, dass der größte Teil dessen, was den fertigen Film ausmacht, auf persönlicher Erfahrung basiert. Letztlich sind bei diesen Recherchen Freundschaften entstanden.
Für mich ist Recherche eine zwiespältige Sache. Ich glaube, dass ich mich von vornherein für etwas persönlich interessieren muss, um daraus einen Film entwickeln zu können. Ich fände es sehr künstlich, mir über Recherchen ein Thema zu erarbeiten. Das ist mir fremd. Durch Recherchen kann man vertiefen, oder verbreitern, aber kein Thema finden. Das gehört nicht zu meinem Bild von meiner Arbeit, und ist nicht das, was mich interessiert. Vielleicht führt Recherche eher zum Dokumentarischen als zum Spielfilm.
Parallel zu den Recherchen im Bundestag habe ich „Das Goldene Notizbuch“ von Doris Lessing gelesen, einer Autorin, die ich eigentlich nie lesen wollte. Aber es ist ein ganz tolles Buch. Sie schreibt sehr viel über das Verhältnis von Fiktion und „Wahrheit“, wie sie es nennt. Das hat mich auch sehr beschäftigt. Sie fragt sich, ob das Fiktionalisieren ein Selbstschutz sei – ob sie fiktionalisiert, gerade weil sie sehr persönlich schreibt.
Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit ist auf jeden Fall sehr komplex.
artechock: Warum wolltest Du Doris Lessing nie lesen?
Köhler: Weil ich gewisse Vorurteile gegenüber feministischer Literatur hatte, die habe ich aber schon während der Arbeit an Montag kommen die Fenster stark abgebaut, als ich Ingeborg Bachmann, Natalie Ginzburg und Marlene Haushofer entdeckt habe.
artechock: Also nicht, weil sie eine Weiße in Afrika ist, die sich ja auch gelegentlich zu einer Art „Mutter Afrikas“ und seiner kleinen Schwarzen Kinder stilisiert hat?
Köhler: Nein, das ist bei Lessing auch nicht so unangenehm, wie bei Henning Mankell beispielsweise. Sich in Afrikaner hineinzuversetzen sollten wir afrikanischen Autoren überlassen. Ich finde, dass Lessing ihre authentische Erfahrung beschreibt. Zumindest im „Goldenen Notizbuch“ schreibt sie aus ihrer eigenen Perspektive und markiert sie auch. Spätere Werke mögen da problematischer sein.
Ein anderer Einfluss auf mich war natürlich der Filmemacher Jean Rouch. Der hat mich sehr begeistert. An seinem Werk lässt sich der Übergang zwischen einer kolonialistischen Sichtweise und einem moderneren Blick auf Afrika sehr genau ablesen. Und er selbst hat diesen Übergang und seine Perspektive immer mit zum Thema gemacht.
artechock: Du bist in Marburg geboren, aber wann nach Afrika gekommen?
Köhler: Mit fünf Jahren. Dann haben wir dort vier Jahre gelebt. Das war noch richtig klassische Entwicklungshilfe wie man sie sich seit Albert Schweitzer vorstellt: Der weiße Arzt im Buschkrankenhaus, der dort Gutes tut, täglich zwanzig Operationen durchführt und das Schlimmste verhindert.
Ich habe die prägende Zeit meiner Kindheit dort verbracht: In Zaïre, dem heutigen Kongo in einem kleinen Dorf namens Vanga an einem großen Fluss, dem Kwilu.
Das war wirklich eine Kindheit, wie ich sie meinen Kindern wünschen würde, falls ich Kinder kriege: Ein sehr freies Leben in der Natur mit vielen einheimischen Freunden. Mein Bruder und ich haben perfekt die lokale Sprache Kikongo gesprochen. Das Interessante ist, dass wir nach der Rückkehr nach Deutschland diese Sprache innerhalb von drei Monaten komplett verlernt haben. Dabei haben wir in Afrika sogar untereinander Kikongo gesprochen, und unsere Eltern hatten Angst, dass unser Deutsch darunter leiden würde.
Aber das war ein Verdrängungsprozess, der sofort eingesetzt hat, als wir wieder hier waren. Ich kann nur spekulieren, was die Gründe waren: Es lag bestimmt zum Teil an einem schlechten Gewissen. Auch als Neunjähriger habe ich begriffen, in was für einem Wohlstand wir in Europa leben – verglichen mit den Menschen dort. Ich erinnere mich an Briefe von afrikanischen Freunden, die einfach nur Unterhosen oder ein paar Turnschuhe geschickt haben wollten. Das war eine Situation, mit der ich als Kind nicht richtig klargekommen bin – und vielleicht ist das bis heute so. Dann spielte natürlich eine Rolle: Ein Neunjähriger will in der Schule keine Sonderrolle spielen. Ich wollte nicht »der Afrikaner« sein, sondern so sein, wie alle anderen.
Das war ein sehr schwerer Anpassungsprozess: Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich als Kind in Deutschland so richtig angekommen war. Mein erstes Grundschuljahr in Deutschland war zugleich überhaupt mein erstes Jahr an einer öffentlichen Schule. Denn in Afrika hatte uns unsere Mutter unterrichtet. Wir hatten maximal eine Stunde Unterricht am Tag. Und plötzlich saß ich von halb acht bis um eins mit 30 Klassenkameraden in der Schule.
An meinem ersten Schultag hatte sich der einzige Türke in der Klasse neben mich gesetzt, weil ich ja „der Afrikaner“ war, und er „der Türke“. Dann mussten wir alle einen Aufsatz schreiben über »mein schönstes Ferienerlebnis«, und da habe ich – vermutlich weil ich die spektakulärsten Geschichten zu erzählen hatte – eine „1“ bekommen. Er hat sich weggesetzt, weil er nicht neben einem „Streber“ sitzen wollte. Das war mein Einstieg.
Dann kam noch hinzu, dass meine Eltern uns nicht dem Fernsehen aussetzen wollten – daher konnte ich ganz viele Schulhofgespräche nicht mitführen.
Wenn ich Kinder habe, werde ich denen in jedem Fall erlauben, fernzusehen, denn ich kann bis heute nicht gut mit dem Medium umgehen. Ich habe eine Tendenz zur Sucht – da ist die Versuchung groß, fünf Stunden lang Tour-de-France anzugucken. Ich war auch eine Weile Phoenix-süchtig.
artechock: Würdest Du sagen: Schlafkrankheit erzählt die Geschichte Deiner Eltern?
Köhler: Meine Eltern sind 1990 wieder nach Afrika zurückgekehrt, und haben in Kamerun in genau dem Krankenhaus gearbeitet, in dem ich gedreht habe. Insofern haben meine Eltern etwa die Hälfte ihres Berufslebens in verschiedenen Ländern Afrikas verbracht: Im Kongo, Kamerun und im Sudan. Mein Vater war auch in Ruanda für Cap Anamur – während der Massaker.
Natürlich beschreibt der Film eine Lebenswelt, die ich über meine Eltern mitbekommen habe. Aber letztendlich ist der Film eine Fiktion. Im Prinzip mache ich immer das Gleiche, wenn ich einen Film entwickle: ich spiele einen was-wäre-wenn-Gedanken durch, eine Hypothese.
Die Grundfrage war für mich: Warum wollten meine Eltern wieder zurück nach Afrika? Was hat sie daran fasziniert? Ich bin niemand, der gerne unter ständiger Beobachtung steht. Ein Weißer in Afrika steht aufgrund seiner Hautfarbe, aufgrund seiner ökonomischen Situation, aufgrund des Geländewagens, mit dem er durch die Gegend fährt, ständig im Zentrum, und wird immer anders behandelt, als alle anderen. Ich habe mich gefragt: Wie halten meine Eltern das aus?
In dem Zusammenhang kam ich auf den Gedanken: Was wäre geschehen, wenn meine Eltern sich getrennt hätten? Wenn mein Vater oder meine Mutter alleine dort geblieben wären? Wie hätte das die Bedingungen ihres Lebens verändert? Ich glaube, es spielt eine große Rolle, dass meine Eltern zu zweit waren. Sie lebten durch diese familiäre Situation in einem geschützten Raum, in dem ihre europäische Herkunft fortwirkte. Ebbo, die Hauptfigur meines Films, verlässt hingegen diesen geschützten Raum, und verliert sich selbst. Das war das Gedankenspiel, das ich in meinem Film durchspielen wollte.
artechock: Warum sind Deine Eltern überhaupt nach nur vier Jahren zurück nach Deutschland gegangen? Wegen Euch Kindern?
Köhler: Ja. Sie wollten uns eine Heimat geben. Sowohl sprachlich, als auch kulturell. Sie hatten das Gefühl, dass es für unsere Entwicklung wichtig war, einen Ort zu haben, mit dem wir uns identifizieren, und an den wir zurückkommen könnten – auch wenn wir vielleicht später im Ausland leben.
Mein Vater hat dann eine kleine Praxis in Diez an der Lahn gehabt. Ich glaube, dass ihm diese Arbeit viel weniger Freunde gemacht hat, als seine Arbeit in Afrika, die er als viel befriedigender empfunden hat – in Deutschland muss ein Allgemeinmediziner nicht nur Arzt sein, sondern auch Geschäftsmann, der seinen Kundenstamm pflegen muss, dafür auch mal eine Krankschreibung aus Gefälligkeit macht, und der wenig mit existentiellen Nöten zu tun hat. Eher mit Wehwehchen und sekundären psychischen Befindlichkeiten. Dagegen waren gerade diese ersten vier Jahre in Afrika für ihn glaube ich die höchste berufliche Befriedigung. Später hat sich das dann auch geändert. Mein Vater hat im Sudan im Auftrag eines deutschen Hilfswerks das nationalen Lepraprogramm betreut, und hat vor allem Supervision gemacht. Da war er eher eine Art Manager.
Das ist das, was den Großteil moderner Entwicklungshilfe ausmacht. Das hat ihn, glaube ich, weniger befriedigt, als die konkrete Arbeit mit den Patienten.
artechock: Warum geht man da überhaupt hin? Das ist glaube ich eine ganz wichtige Frage, auch für die Figuren deines Films? Denn Schlafkrankheit ist wie gesagt ein Film über Europäer in Afrika.
Geht es also beim Weg nach Afrika nach wie vor, wie bei Joseph Conrad, um die Sehnsucht nach dem Existentiellen? Nach sinnvolleren, erfüllteren, aber auch intensiveren Leben? im sinne von gefährlicher, aufregender? Um Abenteuer?
Köhler: Das erste Motiv vieler Entwicklungshelfer vor allem in der Generation meiner Eltern war auf jeden Fall romantische Sehnsucht nach existentiellerem, abenteuerlicherem Leben. Ich glaube aber, dass sich das sehr gewandelt hat, und habe versucht, das in gewisser Weise in den Film einzubauen.
Die Nebenfigur Elia, der der Nachfolger von Ebbo wird, repräsentiert für mich eine moderne, pragmatischere Generation, die die Arbeit des Entwicklungshelfer, im Prinzip als einen Job wie jeden anderen begreift, als Karrierechance. Das hat sich sehr gewandelt. Das hat auch viel damit zu tun, wo man arbeitet.
In einer Großstadt wie Kampala oder Nairobi kann man ein sehr westliches Leben führen, und seine Freizeit im „International Club“ verbringen, und in einem sozial gleichgestellten Milieu verkehren, auch von afrikanischer Seite. Wenn man auf dem Land ist, wie meine Eltern die meiste Zeit, dann ist es natürlich ein sehr anderes Leben.
Und in einer Zeit, in der es auch unter Akademikern eine recht hohe Arbeitslosigkeit gibt, ist Entwicklungshilfe ein gut bezahlter Job, der eine große Autonomie besitzt. Auch bei meinen Eltern würde ich nicht sagen, dass sie diese Arbeit aus reinem Idealismus gewählt haben. Sie suchten berufliche Befriedigung, und mochten die Landschaft und das Klima.
artechock: Vielleicht war dieses Deutschland auch für die Kinder der Nachkriegszeit zu eng?
Köhler: Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass sich dieses erste Motiv, die Abenteuerlust ziemlich schnell erschöpft. Das Leben der Europäer in Afrika kann ein sehr begrenztes Leben sein. Die kulturelle und ökonomische Differenz macht gleichberechtigte Freundschaften zur lokalen Bevölkerung sehr schwierig. Und es gibt viele Enttäuschungen – auf beiden Seiten. Die meisten Beziehungen basieren auf Interessen. Und wenn diese Interessen nicht befriedigt werden, oder nicht mehr bestehen, ist auch die Freundschaft dahin. Das heißt: Die meisten Expats bewegen sich unter ihresgleichen. Auch meinen Eltern haben offen gesprochen aus ihrer Zeit in Afrika sehr wenige afrikanische Freunde.
Einer davon kennt Deutschland sehr gut, hat in der DDR und in später der Bundesrepublik studiert, hängt also eher zwischen den Kulturen. Die meisten ihrer Freunde sind Entwicklungshelfer wie sie. Das bedeutet: Es ist ein sehr begrenzter Radius, in dem man sich bewegt. Es gibt nur sehr wenige Menschen, mit denen man privat verkehrt. Irgendwann haben sich dann auch die Sehenswürdigkeiten des jeweiligen Landes erschöpft. Und dann hat man nicht das kulturelle Angebot, dass man hier hat – kein Kino, kein Theater.
Daher haben vielleicht gerade jene, die wirklich mit Aussteigergedanken nach Afrika gegangen sind, und zum Teil auch gar nicht zurück können, ein sehr sehr langweiliges Leben. Es spielt sich zwischen drei verschiedenen Bars, der Lobby des Hilton und irgendeinem französischen Restaurant ab – Abenteuerlust kann man damit nicht befriedigen.
artechock: Was unterscheidet eigentlich aus einer Sicht Afrika von allen anderen Gegenden dieser Welt?
Köhler: Erstens mal reden wir immer von „Afrika“ – nicht von konkreten Ländern. Das ist schon sehr entscheidend. Wir reden nie nur von „Asien“, sondern schon eher konkret von China, oder Japan, oder Korea, oder Indien oder Thailand... Wir begreifen sofort die großen Unterschiede.
Wenn wir von Afrika reden, reden wir immer vom ganzen Kontinent. Der Unterschied zwischen dem Sudan und Kamerun ist immens. Äthiopien hat gar nichts mit dem Rest von Afrika zu tun – die Schriftsprache dort existiert zum Beispiel in etwa so lange wie in Nordeuropa.
Wenn es um Afrika geht, verallgemeinern wir sehr. Dazu kommt, dass Afrika der Kontinent ist, der die größte ökonomische Differenz zu Europa aufweist, der am ärmsten ist.
Die europäische Kolonialgeschichte in Afrika ist eine der Brutalsten und die schlimmsten Ereignisse liegen weniger weit zurück als die Massaker von Cortez in Amerika zum Beispiel. Die afrikanischen Länder sind auch die Letzten, die ihre Unabhängigkeit erkämpft haben. Ich habe den Eindruck, dass Afrika von uns Europäern immer als Sinnbild der Fremdheit gesehen wird. dagegen wollte ich mit meinem Film angehen – zumindest im ersten Teil. Im zweiten Teil spiele ich bewusst mit der Dramaturgie von Conrads „Herz der Finsternis“. Mir war wichtig, romantische Klischees vom „fremden Kontinent“ zu brechen, und den Alltag zu erzählen.
artechock: Und bestimmt spielt auch Rassismus eine wichtige Rolle. Der ist nach meinem Eindruck gegenüber Afrikanern gravierender, als gegenüber Asiaten oder Indios in Lateinamerika...
Köhler: Ja, Menschen dunkler Hautfarbe sind vielleicht dem stärksten Rassismus ausgeliefert. Die Erfahrung mußte der Darsteller von Alex leider auch auf der Berlinale machen, als er in der Lobby des Mariotts als Einziger seinen Ausweis vorzeigen sollte. – Deswegen war es mir wichtig, diese zweite Hauptfigur einzuführen: Ein Franzose schwarze Hautfarbe – der aber noch nie in Afrika war. Diese Figur zeigt, dass die Differenz nichts mit der Hautfarbe zu tun hat, sondern mit der ökonomischen und kulturellen Prägung eines Menschen. Ein schwarzer Europäer kann in Afrika genauso fremd oder noch fremder und verlorener sein, als ein Weißer.
artechock: Der Titel und die auf den ersten Blick ja merkwürdige Form von Zweiteilung lässt an den Film Tropical Malady vom Thailänder Apichatpong Weerasethakul denken...
Köhler: Ja, das ist auf jeden Fall eine Referenz, die ich gar nicht verleugnen will. Weerasethakul ist für mich der interessanteste zeitgenössischen Filmemacher – neben dem iranischen Kino, neben dem Koreaner Hong Sang-soo, der für mich auf einer anderen Ebene sehr wichtig ist.
Weerasethakuls Filme haben mich sehr geprägt.
Wobei das Motiv der Verwandlung, das bei ihm mehrfach vorkommt, in meinem Film auch biographische Hintergründe hat. Weil animistische Erzählungen in meiner Kindheit in Afrika eine große Rolle spielten: Es hieß von bestimmten Dorfältesten, dass sie sich in Nilpferde verwandeln könnten.
Mein Vater hat uns Kinder seinerzeit auch immer in einer Pirogge (einem Einbaum) mitgenommen, um Nilpferde zu beobachten, und hat die Gefahr die von diesen Tieren ausgeht, stark unterschätzt, obwohl die Dorfbewohner ihn davor gewarnt hatten. Ein paar Jahre, nachdem wir Vanga verlassen hatten, ist eine amerikanische Medizinstudentin im Fluss von einem Nilpferd getötet worden und es gab im Dorf Gerüchte, dass der Leiter des Krankenhauses sich aus Eifersucht in ein Nilpferd verwandelt hätte, um diese Frau zu töten.
Diese Geschichten hatte ich tatsächlich zu schreiben begonnen, bevor ich Tropical Malady gesehen habe. Aber Weerasethakul hat natürlich einen enormen Einfluss auf mich, auch wenn der weltanschauliche Hintergrund ein völlig anderer ist. Ich habe westliche Philosophie studiert, und bin viel rationalistischer geprägt, glaube nicht entfernt an Geister und renne als Sohn eines Schulmediziners auch nie zum Homöopathen.
artechock: Dafür spielst du diesen Geisterglauben ja, auch wenn du es nur ironisch meinen solltest, am Schluss des Films sehr stark durch...
Köhler: Ja. Ich weiß nicht, ob ich von Ironie sprechen würde. Für mich ist das einfach die Lösung für ein unlösbares Problem: Wie kann Ebbo ein Teil Afrikas werden?
artechock: Kannst du nochmal erklären, was Du an Apichatpong Weerasethakul so magst? Der scheint ja Dir dann der Wichtigste zu sein...
Köhler: Es gibt schon noch andere Figuren des Weltkinos, die mich beeindrucken. Ich finde zum Beispiel den ersten Film von Lissandro Alonso großartig, das Werk von Lucrezia Martel. Weerasethakul ist im Gegensatz zu meinem anderen Helden des zeitgenössischen Weltkinos, zu Abbas Kiarostami, ein Filmemacher, über den es sehr schwer ist, zu reden oder zu schreiben. Weil man eine Kinoerfahrung macht, die so vielseitig ist und so offen. Ich glaube, dass es ihm gelingt, bestimmte Erinnerungen in mir zu wecken. Der Film, mit dem ich mich am meisten identifiziere, ist Syndroms and a Century – was natürlich auch etwas mit dem Thema zu tun hat: Der Landarzt und der Stadtarzt. Ich finde da meine Kindheit wieder. Tief zurückliegende Empfindungen – das hat fast eine therapeutische Dimension. Dieser Film evoziert in mir Gefühle und Stimmungen, die ich einfach kenne, obwohl er in einem Land spielt, dass ich noch nie betreten habe.
Filmsprachlich ist er ein Regisseur, der sehr sehr offen mit dem Medium umgeht und dem es gelingt, eine mystische Ebene aufzubauen, obwohl er sie immer wieder relativiert, ironisiert und in Frage stellt. Ganz im Gegensatz beispielsweise zum neuen Film von Terrence Malick, The Tree of Life, der mich gar nicht berührt. Film ist kein Religionsersatz. Das stört mich auch teilweise Tarkowski, obwohl Andrej Rubljov einer meiner Lieblingsfilme ist. Malick spielt für mich auf einer sehr eindimensionalen Ebene mit der Sehnsucht nach mystischer Erfahrung. Auch mit Bildern, die mir, vorsichtig formuliert, nicht sehr ungewöhnlich erscheinen.
Weerasethakul hingegen gelingt es eine mystische, vielleicht vom Buddhismus geprägte Ebene, mit den Erfahrungen des modernen Lebens zu verbinden. Weerasethakul ist Buddhist, er ist aber auch Sohn von Ärzten. Ich denke, wenn er krank ist, wirft er auch ab und zu ein Antibiotikum ein. Das erscheint mir viel ehrlicher und weniger verklärt als bei Malick.
artechock: Ich finde das interessant und auch einleuchtend, wenn du hier indirekt ausführst, dass es im Kino darum gehen sollte, Gefühle zu wecken und hervorzurufen, und den ganzen Menschen anzusprechen.
Wenn du hingegen Weerasethakul gegen Malick ausspielst, habe ich Einwände. Da würde ich dagegen halten, dass Malick in seinem neuen Film – und nicht nur in diesem – zwar ein paar wahnsinnige Klischees zeigt, dumme, mich ärgernde Klischees, in den ganzen – nennen wir sie mal: – esoterischen Passagen.
Köhler: Auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob man das nicht ebenso über Weerasethakul sagen muss, und der Unterschied nicht viel eher vor allem darin liegt, dass Malick aus unserer Kultur stammt, und in deren Kategorien operiert. Wir durchschauen da die Klischees, oder empfinden manches als Klischee, dem ein Angehöriger anderer Kulturen vielleicht noch mit Achtung entgegnet. Auf Weerasethakul blicken wir wiederum als Fremde, und finden die Klischees einfach interessant – da spielt uns vielleicht aber nur der eigene Exotismus einen Streich.
Wenn ich an den letzten Film denke: Wir gestehen da allem Möglichen die Weihe des Fremden zu, und das alles angeblich eine tiefere Bedeutung habe, asiatisch ist – vielleicht ist das aber der gleiche Scheiß, den Malick macht. Natürlich ist Weerasethakul auf der anderen Seite ein wunderbarer Filmemacher – aber das ist doch Malick auch!
artechock: Auf den ganzen Ebene, auf der er diese Familiengeschichte erzählt. Wenn wir mal anerkennen: Er ist ein Konservativer, und wir müssen wenn wir seine Filme mögen, deshalb noch lange nicht selber konservativ werden, wir müssen weder CDU wählen noch Heidegger lesen... Er erzählt von den 50er Jahren. Da begibt sich einer auf die Suche nach der verlorenen Kindheit...
Köhler: Aber mit Bildern, die ich nicht als persönlich empfinde. Ich kann einfach im Kino keine schaukelnden Kinder mehr sehen. Ich musste bei dem Film auch daran denken, wie Jonas Mekas Familie erzählt. Da gibt es, natürlich mit sehr viel einfacheren Mitteln, große Analogien: Das Assoziative, das Impressionistische, das Nicht-Szenische der Umgang mit Off-Text und Voice-Over, das Ausschnitthafte, der Umgang mit Musik. Und ich empfinde das als sehr viel ehrlicher als bei Malick, als authentischer – das ist natürlich jetzt ein Wort, das man problematisieren kann.
Am meisten stört mich dieses Bild der Mutter, der Frau, als das ungebrochen Gute, als die Natur, der Ursprung der Menschheit. Vielleicht hat Malick so ungebrochen positive Erinnerungen an seine Mutter, und natürlich darf er mit diesem Bild arbeiten, aber Courbet hat das über 100 Jahre früher sehr viel besser hingekriegt, finde ich...
Oder das Verhältnis zum Tod: Ich habe gerade eine ziemlich prägende Erfahrung gemacht. Weil meine Großmutter gestorben ist, und ich zusammen mit meinem Vater die letzte Woche mit diesem sterbenden Menschen verbracht habe. Da gibt es auch ganz banale Momente. Und die zu fassen, gelingt Weerasethakul, ohne den Menschen zu banalisieren und die Welt zu entzaubern. Er zeigt beides: Die Nierenwaschung und die Geister.
Aber natürlich gibt es generell bei Filmen, die von Kulturen handeln, die wir nicht gut kennen, ein größeres Wohlwollen. Gerade auch was die Beurteilung von Schauspiel betrifft. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich Thai verstehen würde. Natürlich ist man viel strenger, bei der Beurteilung von Filmen in der eigenen Sprache. Wenn ich an einige katastrophalen Dialoge von deutschen Filme denke, die im Ausland gefeiert werden, dann weiß ich das fremdsprachliche Filme sehr viel wohlwollender angeschaut werde als eigene.
In Deutschland will man auch nicht das Intellektuelle... das zeigt sich am Umgang mit französischen Filmen. Das sind sehr sinnliche Filme, sie machen Spaß, aber verlangen auch Bereitschaft und Vorwissen. Und da gibt es dann nicht den Bonus, das man sagen kann: Die sind buddhistisch und ganz anders. Sondern die sollen sein, wie wir, und wenn sie es nicht sind, reagiert man eher gekränkt, und sagt: Die arroganten Franzosen.
artechock: Magst Du Regisseure wie Desplechin?
Köhler: Desplechin mag ich gern. Aber mein Lieblingsfilm ist von 1995: Comment je me suis disputé...
artechock: Die letzten zwei?
Köhler: Roi et reine mochte ich. Da war ich gespalten. Generell hat er ein wahnsinniges Talent, sehr intellektuelle, eigentlich unspielbare Dialoge sehr lebendig zu inszenieren, und gleichzeitig mag ich, wie er mit der reinen Lehre des Autorenfilms bricht und mit sehr trivialen Mustern spielt.
In der Zeit, in der ich angefangen habe, waren die prägenden Filmemacher für mich Bruno Dumont und die Dardenne-Brüder. Und Marie Vermillard, deren Film Lila Lili 1999 im Internationalen Forum der Berlinale lief. Ich werde den jetzt in der Revolver-Edition herausbringen.
artechock: Würdest du sagen, dass deine Vorstellung von Realismus diesen Regisseuren sehr verwandt ist?
Köhler: Ich finde, filmsprachlich ist es dann doch sehr unterschiedlich: Die Art der Schauspielinszenierung, der Kameraführung, da bin ich Dumont näher, als den Dardennes.
Parallelen zu beiden sehe ich in der Grundhaltung den Figuren gegenüber. Die würde ich so beschreiben: Wir erklären unsere Figuren nicht, sondern wir lernen sie durch ihre Handlungen und ihr Verhalten kennen. Das Kino ist eher ein behavioristisches Instrument. es kann innere Zustände nicht gut erfassen – außer bei Terrence Malick mit seinen Off-Dialogen – und ist darin der Prosa unterlegen.
Diese Grundhaltung teile ich. Der deutsche Fernsehfilm hingegen will die psychische Verfassung seiner Figuren erklären. Sondern dass man eine Figur im Kino genauso kennenlernen kann, wie man Menschen im Alltag kennenlernt: Durch Beobachtung. Kleidung, Sprache, Verhalten. Schon nach einer halben Minute haben wir ein sehr genaues Bild von einem Menschen, ohne dass wir über Zusatz-Informationen wie Herkunft, Kindheit, berufliche und private Situation verfügen. Insofern gibt es schon eine Verwandtschaft. Ich kenne keine Definition von Realismus, die ich übernehmen könnte. Für mich steht der Begriff dafür, dass ich mich als Autor auf Erfahrungen und Lebenswelten beziehe, die ich persönlich kenne Und mich nicht wie im Genre-Kino in einer Welt bewege, die ich nur in der Kunst existiert. Aber der Naturalismus, also mimetische Kunst interessiert mich nicht.
artechock: Naturalismus wäre Abbildrealismus...
Köhler: Genau. Daran glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass das Kino einen Raum schaffen kann, in dem man Erfahrungen machen kann, die analog sind zu dem, was man aus seinem Alltag kennt, und die man nachvollziehen kann. Aber das kann man mit ganz unterschiedlichen Mitteln erreichen. Das schafft auch Buñuel. Obwohl er alles andere als ein Realist ist, schafft er es in seinen besten Filmen, unsere Sehnsüchte und Perversionen zu wecken.
artechock: Ist es dir schon passiert, dass du solche Erfahrungen auch in Filmen gemacht hast, die zweifellos im Prinzip völlig eskapistisch gedacht sind? Das auch in Filmen, wie X-Men die Grenze zum Leben fließend wurde?
Köhler: Ja, ich mag ja so ein Kino. Wenn ich über die eskapistischsten Filme nachdenke, die mich begeistert haben, dann waren das zum Beispiel Paul Verhoevens Starship Troopers oder Tarantino, den ich sehr bewundere, obwohl er so referentiell ist, dass ich da nicht mehr von Eskapismus reden würde...
artechock: Starship Troopers gilt nicht, denn das ist schon wieder so ein Held der Autorenfilmer. Den nennt sogar Rivette...
Köhler: Ja, genau. OK, ich nehme ein anderes Beispiel: Vom Winde verweht. Den wollte ich ähnlich wie die feministischen Bücher meiner Mutter nie sehen. Aber es war eine starke emotionale Erfahrung, gerade in seiner melodramatischen Überhöhung. William Wyler ist auch ein gutes Beispiel. Und von Vincente Minelli habe ich gerade einen genialen Film gesehen: Some Came Running. Das ist einer der schönsten amerikanischen Film, den ich kenne.
artechock: Die allgemeine Lehre ist also, nachdem es mit Doris Lessing und mit Vom Winde verweht so ging, dass du dir mehr Sachen angucken musst, die du nie ansehen wolltest...
Köhler: Ja, ich finde sowieso, dass man als Künstler nicht nur Bestätigung suchen darf in Dingen, die einem nahe sind, sondern dass man sich auch mit Dingen beschäftigen sollte, die einem erstmal fremd scheinen.
In der Literatur habe ich das viel eher erlebt.
Aber die Frage war ja eigentlich...
artechock: ...ob Kino auch eskapistisch sein darf?
Köhler: Das auf jeden Fall. Ich lehne das nicht generell ab.
artechock: Es interessiert dich nur als Filmemacher nicht, vermute ich...
Köhler: Genau! Ich fühle mich da nicht wohl. Und ich finde so eine bestimmte Überwältigungsstrategie fragwürdig... Bestimmte Filmemacher sind mir fremd. zum Beispiel Orson Welles.
artechock: Aber magst du das als Zuschauer?
Köhler: Naja... diese wahnsinnige Begeisterung für Citizen Kane teile ich nicht. Mein Lieblingsfilm von Welles ist A Touch of Evil. Ich liebe den film noir. Auch Siodmak... Also eskapistisches Kino hat seine Berechtigung. Aber ob ich je so etwas mache, kann ich nicht sagen. Ich habe aber das Gefühl, die Ausbeutung meiner Biographie hat sich ein bisschen erschöpft. Ich kann mir schon vorstellen, in Richtung Genre zu gehen. Ob es mir dann wirklich gelingt, identifikatorisches Kino zu machen, weiß ich nicht.
artechock: Identifikatorisches Kino? Was meinst Du damit?
Köhler: Naja, den Identifikationsbegriff muss man natürlich problematisieren. Mit wem identifiziert sich der Zuschauer? Was bedeutet das? Es gibt ohne Zweifel Filme, in denen der Zuschauer mehr Nähe zu den Protagonisten empfindet, als in meinen. Nicht nur im Mainstream auch bei Bresson gibt es Identifikation: Mouchette ist eine Figur, mit der man fühlt.
Aber gleichzeitig ist Vom Winde verweht ein wunderbares Beispiel für Eskapismus ohne Identifikation. Denn die Hauptfigur ist eine alles andere als sympathische Figur. Das ist das Faszinierende an dem Film.
Immer, wenn ich mit anderen Menschen über meine Drehbücher rede, und der Einwand kommt: Aber die Hauptfigur ist doch unsympathisch, dann komme ich mit Vom Winde verweht. Scarlett ist eine sehr komplexe und unsympathisch handelnde Figur. Aber sie ist eine der wichtigsten Heldinnen der Kinogeschichte.
artechock: Würdest du denn sagen, dass alle deine drei Filme autobiographische Filme waren?
Köhler: Sagen wir so: Es sind alles Filme über Lebenswelten, die ich kenne. So. So würde ich sagen. Das trifft es.
Warum ich Spielfilme mache, und was mich immer wieder beim Schreiben interessiert, ist der Gedanke des Films als Hypothese. Die Frage: »was-wäre-wenn«? Zum Beispiel bei Bungalow ganz banal: Ich stand vor der Entscheidung, ob ich zur Bundeswehr gehe, meinen Zivildienst mache, oder Totalverweigerer werde. Ich habe mich gefragt, was für mich die subversivste Haltung wäre. Was wäre gewesen, wenn ich zur Bundeswehr gegangen wäre und sozusagen diesen linksliberalen Konsens in meinem Umfeld aufgegeben hätte? Das sind Ansatzpunkte, aus denen ich Figuren entwickle, und Filme mache.
artechock: Du hast dann Zivildienst gemacht, nehme ich an?
Köhler: Ich habe meinen Zivildienst gemacht. [Lacht] Aber intellektuell und ideologisch hätte ich Totalverweigerung als die konsequenteste Haltung empfunden.
artechock: Ich war bei der Bundeswehr. Ich komme glaube ich aus einem ähnlichen Umfeld, aber mich haben die Leute genervt, die Zivildienst als billige Flucht genommen haben, um weiter zuhause zu wohnen, und keine Uniform tragen zu müssen. Und ich wollte nicht lügen: Ich bin kein Pazifist. Ich finde, manchmal muss man Waffen benutzen.
Köhler: Ich auch. Mein Vater ist zum Beispiel jemand, der schon sehr früh in seiner Kindheit gelernt hat, Waffen zu benutzen. Mein Großvater war General und alle meine Onkels waren bei der Bundeswehr und ich habe auch schon als Kind mit großen Waffen im Park meiner Großmutter geschossen. Also ich bin jemand, dem eine gewisse Faszination für Waffen nicht fremd ist.
Ich bin auch kein Radikalpazifist, und glaube, ich würde mich in bestimmten Situationen mit Gewalt zur Wehr setzen. Aber ich würde mir diese Situationen gern selbst aussuchen. Und kann mir nicht vorstellen, dass ich das auf Befehl eines anderen tun würde.
artechock: Du hast vorhin erklärt, warum du glaubst, dass Mittelschicht im deutschen Kino wichtig ist: Weil das deutsche Leben am stärksten von der Mittelschicht geprägt ist. Dann hast du auch von der Erfahrung mit deinem Film bei der Berlinale gesprochen: Vorwürfe aus der Ecke der Political Correctness. Das wollte ich verknüpfen.
Mittelschicht kann etwas sehr Verschiedenes heißen: Militantes Kleinbürgertum mit konservativen Werten, wie linksliberales Milieu, das grün wählt, am Prenzlauer Berg wohnt – in dem wir wahrscheinlich in irgendeiner Form alle leben...
Köhler: Und trotzdem für die FAZ schreiben...
artechock: Mir ist auch klar, dass du eher zu denen gehörst, die die Rede von der »Berliner Schule« verzichtbar finden, und am liebsten nicht im Zusammenhang mit ihren eigenen Filmen lesen. Ich kenne aber keinen besseren, um diese Gruppe zu beschreiben, zu der auch du gehörst, die sich in irgendeiner Form um die Altersgenossen zweier Alterskohorten und um den Ort Berlin zentriert, um die Zeitschrift revolver, um einen bestimmten Blick auf das Leben und Deutschland und um bestimmte Vorlieben im Kino oder gemeinsame Abneigungen.
Köhler: Ich sehe da vor allem die Gefahr der Verallgemeinerung...
artechock: Natürlich! Diese Gefahr gibt es. Das ist immer so. Wo man Leute zusammenfasst, muss man verallgemeinern. Aber was soll man machen? So wie wir auch über Afrika gesprochen haben...
Köhler: Maren Ades Kino ist doch zum Beispiel sehr viel mehr an Psychologie und sehr viel weniger an Filmsprache interessiert, als die Filme von Thomas Arslan und Angela Schanelec. Ich weiß nicht wie man das unter einen Hut kriegt.
artechock: Das war nicht ich. Ich bin da aber auch nicht besonders dogmatisch. Ich glaube sowieso nicht, dass man mit Begriffen besonders dogmatisch umgehen sollte.
Köhler: Als Philosoph?
artechock: Ja eben. Begriffe sind Sprachspiele. Eher der späte Wittgenstein, als der frühe – es geht nicht darum jeden in sein Kästchen zu ordnen. Sondern ich denke eher in Schnittmengen. Und ich hätte für die „Berliner Schule“ noch eher das Bild, dass es da ein imaginäres, vielleicht von keinem konkreten Filmemacher vollständig getroffenes Zentrum gibt, um das sich dann die anderen in konzentrischen Kreisen anordnen. Manche sind nahe dran, manche ferner, andere haben kaum noch Berührungspunkte. Und da gehört Maren zu denen, die weiter weg sind. Da gibt es dann verschiedene Felder...
Köhler: Ja. Mit Wittgenstein verstehe ich das.
artechock: Vielleicht sollte man eine Zeichnung dazu machen...
Köhler: Mach' doch mal eine Mengenlehrenzeichnung – statt einem Bild aus dem Film einfach ein paar Kreise [Lacht].
artechock: Also: die »Berliner Schule« im einzelnen aufzudröseln, wäre ein sehr interessantes Vorhaben – wie gesagt bin ich eher für einen pragmatischen Begriffsgebrauch. Aber jetzt wollte ich eher noch einmal auf den Begriff der Mittelschicht zu sprechen kommen. Du hast selbst gesagt: »Mit westdeutschem Blick«. Das wäre ja auch nichts Schlimmes. es geht hier nicht um Gut und Schlecht. Aber: Wenn es denn zutrifft, dass dein Blick ein westdeutscher ist, ein Mittelschichtblick und noch manches mehr... – gibt es da nicht auch ein Bedürfnis aus solchen Perspektiven einmal herauszutreten, universaler zu werden. Die limitieren ja auch. Auch um auf dich selber einen Blick von Außen zu werfen.
Köhler: Ich glaube, dass ich mich von meiner ästhetischen Grundhaltung her niemals in eine Fremdperspektive begeben könnte. Ich könnte mich natürlich entscheiden, mal einen Genrefilm zu machen. Wenn ich mich richtig an mein abgebrochenes Philosophiestudium erinnere, ist es Rorty, der sagt, dass wir unsere eurozentrische Perspektive gar nicht verlassen können. Dass wir uns zu ihr eher bekennen müssen, anstatt sie zu negieren. Das trifft ziemlich genau meine Haltung zum Filmemachen. Ich glaube, dass ich immer meinen Standpunkt markieren muss, wenn ich ein Kunstwerk schaffe. Ich habe auch gar kein Bedürfnis, diese Perspektive zu verlassen.
Das heißt natürlich nicht, dass ich keine neue Wege gehen will. Das ist aber nicht so einfach, wenn man nicht Lars von Trier ist, dem es wirklich gelingt, seine filmische Grammatik immer wieder in Frage zu stellen und neue Methoden des Filmemachens zu entdecken. Ich mag zwar wirklich nur wenige seiner Filme, aber dafür bewundere ich ihn – Für die meisten Künstler gilt: Sie können gar nicht aus ihrer Haut. Sie können gar keine anderen Filme machen, als die, die sie machen.
Aber es ist wichtig, sich infrage zu stellen und sich nicht auszuruhen auf seinem Bären-, Löwen- oder Leopardenfell. Nach Bungalow wollte ich mein Formenrepertoire erweitern. Ich empfinde Montag kommen die Fenster zwar als radikaleren Film, mutigeren Film. Allein schon von der Erzählstruktur her: Mit dem Perspektivwechsel, und dass es so einen explizit nicht realistischen Teil des Films gibt. Aber filmsprachlich sind sich die Filme schon sehr ähnlich, Montag hat sogar weniger Schnitte als Bungalow, obwohl ich nicht so sehr in Plansequenzen arbeiten und den Schauspielern mehr Freiheit lassen wollte. Am Set konnte ich mir das dann gar nicht mehr vorstellen. Da sah ich keinen Sinn mehr darin, eine Szene, die ich gut in einer Einstellung erzählen kann, in zwei oder drei Einstellungen zu unterteilen.
In Schlafkrankheit habe ich ja mein Repertoire schon etwas erweitert: Er hat 170 Schnitte, fast doppelt soviel, wie der vorherige. Es gibt klassische Schuss-Gegenschuss-Szenen, zum Beispiel bei Gesprächen am Tisch. Das ist für den Außenstehenden vielleicht keine Revolution. Aber für mich war das ein großer Schritt. Und natürlich will ich, wenn ich mir mein Leben vorstelle, immer neue Erfahrungen machen.
Aber ich bewundere auch serielle Künstler: Hong Sang-soo macht jedes Jahr denselben Film.