Lovemobil-Debatte
»Mir wurde gesagt: Das verstehen unsere Zuschauer nicht« |
||
Elke Lehrenkrauss | ||
(Foto: privat) |
Das Gespräch führten Ludwig Sporrer, Mitarbeiter des DOK.fest München, und Grit Lemke, Dokumentarfilmemacherin und -kuratorin
Elke Lehrenkrauss hat letztes Jahr mit Lovemobil den Deutschen Dokumentarfilmpreis gewonnen und war jetzt für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Dann kam raus: Ihr Film über einen Wohnmobilstrich in Niedersachsen enthielt zu weiten Strecken inszeniertes Material, das zwar auf Rechercheergebnissen basierte, aber dennoch nur nachempfundene Wirklichkeit war. Der Film war eben kein Dokumentarfilm, als das er seinen großen Erfolg gefeiert hatte.
Den Preis hat sie mittlerweile zurückgegeben, die Nominierung wurde zurückgezogen. Das Beispiel von Lovemobil aber hat jetzt eine hitzige Diskussion in der Dokumentarfilmszene entfacht, bei der es auch um Grundsätzlicheres geht als nur um die Frage von Lüge, Wahrheit und Moral: Was kann, was darf ein Dokumentarfilm? Wo liegt die Verantwortung von Redaktionen in der Abnahme von Projekten? Macht es sich Elke Lehrenkrauss zu leicht, wenn sie in der Enthüllungsreportage „STRG_F“ eine Verkettung unglücklicher Umstände und verpasster Zeitpunkte, die Wahrheit zu sagen, suggeriert? Liegt der »Fälschungsskandal« nicht eher im System begraben, in der einfordernden Arbeitsweise der TV-Redaktionen an die Debütfilmer*innen, interessanten Stoff zu liefern, während diese gleichzeitig unter hochprekären Bedingungen arbeiten müssen?
In unserem Gespräch bekommt Elke Lehrenkrauss Zeit, einmal ausführlich über die Entstehung von Lovemobil und die künstlerischen Aspekte der Inszenierung zu sprechen. Außerdem gewähren wir Einblick in die Verträge.
Ludwig Sporrer (LS): Es ist klar, dass du große Fehler gemacht hast. Die auch darüber hinausgehen, dass die Inszenierung in Lovemobil nicht gekennzeichnet wurde. Aber wir wollen jetzt einfach mal genauer hinsehen und nachfragen. Was ist da passiert? Welches System steckt dahinter? Dazu gehört aber auch die Aufdeckung des vermeintlichen Skandals. Elke, wann und wie begann es für dich?
Elke Lehrenkrauss: Am Abend des 17. März, zwischen Kind und Suppe-Rühren, rief mich dieses Jahr mein Redakteur Timo Großpietsch an und fragte, wo die Einverständniserklärungen von den zwei Freiern aus dem Film wären. Also das Dokument, in dem die Protagonistinnen unterschreiben, dass sie mit der Veröffentlichung ihrer Filmaufnahmen einverstanden sind. »Ich kann sie anrufen und noch besorgen«, meinte ich. »Es sind Bekannte von mir mit Prostitutionserfahrungen, die ich während der Recherche kennengelernt und für den Film eingesetzt habe.« Timo fragte dann, was an dem Film sonst noch nicht »echt« wäre. Ich sagte, dass ich in unseren Telefonaten immer von Arrangements und Inszenierungen gesprochen hatte und auch die Sache mit den Freiern schon erwähnt hatte. Er war aber nie weiter darauf eingegangen. Ich hatte ihm aus eigener Initiative aber nie gesagt, dass Rita keine Prostituierte ist, und dass Milena eine Frau mit Prostitutionserfahrung ist, die aber nicht dort gearbeitet hatte. Das habe ich ihm dann, als er fragte, erzählt. Am nächsten Tag hat er mir eine Liste mit mehr als 100 Fragen zum gesamten Film geschickt. Solche wie: Wem gehört dieses Auto, einem Kunden oder euch? Wer ist diese Person? Ich hatte zur Beantwortung nur bis zum nächsten Vormittag Zeit. Ich wusste nicht, dass »STRG_F« ihn schon informiert hatte. Am Freitagabend hat mich meine Protagonistin Uschi angerufen. »Hier steht der NDR vor der Tür.« Am Samstag früh haben sie mich angerufen, ob sie mich interviewen können. Ich hatte mein Kind und ein anderes Kind da und musste erst mal meine Nachbarin fragen, ob sie die beiden nimmt. Dann standen plötzlich, wie eine Task Force, zwei Frauen vor mir. Mit dem Gestus: »Du wirst nie wieder Filme machen. Das ist jetzt das Aus für dich.« Man hat gemerkt, dass sie eine Agenda haben, eine These, für die sie Bestätigung suchten. Ich fühlte mich wie vor Gericht, auf der Anklagebank. Sie wollten von mir noch die Kontakte von Milena und Rita. Milena wollte aber nicht mit ihnen reden. Dann haben sie Rita angerufen, aber auch bei ihr wurden Sachen aus dem Zusammenhang gerissen – und verdreht, das sagt sie selbst. Die hatten eine These und wollten sie bestätigen. Uschi haben sie fünfmal gefragt: »Sie sind doch Schauspielerin?« Interessanterweise hatten sie Lovemobil im Kino gesehen und hätten niemals gedacht, dass dort irgendetwas inszeniert war.
Grit Lemke (GL): Dann haben sie wenig Ahnung von Film.
Lehrenkrauss: Das sind Journalistinnen. Ich habe von etwas ganz anderem geredet als sie. Auch dieser Halbsatz, der ständig zitiert wird, in dem ich sage, dass ich eine »authentischere Realität geschaffen habe als die Realität selbst«, geht eigentlich noch weiter.
GL: In der Presse wurde er verwendet, um dich wie eine Geisteskranke erscheinen zu lassen.
Lehrenkrauss: Ja, eine durchgeknallte Spinnerin. Der Satz ging weiter: dass man durch die Anwesenheit der Kamera die Realität verfremdet. Authentizität ist auch eine Frage, wie Regiearbeit mit diesem Fakt umgeht.
GL: In der ganzen Diskussion sind die Begriffe komplett durcheinandergeraten. Realität ist ja das, was ich vorfinde. Und, wie du sagst, ist sie in dem Moment, indem ich sie abbilde, schon keine Realität mehr, sondern immer nur die subjektive Wirklichkeit des oder der Abbildenden. Beim Film kommt noch vieles dazu, Kamera, Schnitt usw. Und das Bild wird erst vollständig im Kopf der Zuschauenden, da sieht auch nochmal jede/r etwas anderes. Insofern geht es immer um Wirklichkeit und eben nicht um Realität.
LS: Ein Problem des Films ist natürlich die Art, wie er gesehen wird. Also die dokumentarische Lesart, die Perspektive der Zuschauenden auf den Film. Sie nehmen es als etwas Authentisches wahr. Und authentisch kann in dieser Sichtweise nur sein, wenn das, was man sieht, auch genauso passiert ist. Bedenklich ist, dass der NDR in der Reportage mit »Dokumentarfilm ist bei uns die Abbildung von Realität« zitiert wird. Uns ist allen klar, dass das nicht möglich ist, und spätestens seit den 1980ern kein Programmverantwortlicher eines deutschen Fernsehsenders so etwas ernsthaft behaupten sollte.
GL: Das ist wirklich absurd, dieses fehlende Grundverständnis dokumentarischer Arbeit. Hinzu kommt eine unfassbare Häme im Kolleg/innenkreis auch innerhalb der AG DOK, und dass eine »Direct Cinema Polizei« ein Inszenierungsverbot in den Raum stellt. Dagegen wehre ich mich nicht nur als Filmemacherin, sondern auch als Kuratorin. Wenn es nur noch eine Art von Dokumentarfilm geben soll, wie langweilig wären die Festivals und unsere Kinolandschaft!
LS: Ja, der Dokumentarfilm würde über mehr als 30 Jahre zurückgeworfen. In der Geschichte von Lovemobil aber gehen wir jetzt gute fünf Jahre zurück, an den Anfang.
Lehrenkrauss: Also, ich komme aus Gifhorn und kenne die Liebesmobile schon mein ganzes Leben lang. In Hannover habe ich das „cast & cut“- Stipendium bekommen für einen experimentellen, dokumentarischen Kurzfilm in Schwarzweiß, in dem ich über die Wohnmobile und die Menschen darin erzählen wollte. So habe ich angefangen, mehr zu recherchieren, von Anfang an gemeinsam mit meinem Kameramann Christoph Rohrscheidt. Dabei haben wir schnell festgestellt, dass wir so der Sache nicht gerecht werden. Daraufhin habe ich 2014 einen Antrag bei der Nordmedia und darüber auch beim NDR für einen Langfilm gestellt. Der NDR gab aber nur das Geld für einen 50-Minüter. Ich habe dann Ende 2015 von der Nordmedia 50.000 Euro gekriegt und vom NDR 27.000 Euro. Im Vertrag steht, dass ich 50 Minuten liefern muss. Komischerweise sollte das trotzdem auf dem langen Dokumentarfilm-Sendeplatz im NDR laufen, mir war das aber zu diesem Zeitpunkt egal. Ich dachte, für ein Debüt, also den ersten Film nach der Filmschule, sind 90.000 Euro (inklusive Stipendium) voll okay, das ziehen wir durch. Wir hatten dann über die nächsten zwei, drei Jahre verteilt insgesamt 67 Drehtage. Und haben uns erst mal über die Landschaft angenähert, um über die vier Jahreszeiten diese Stagnation des Lebens an dem Ort zu erzählen. Und wir haben mit vielen Frauen gesprochen und unsere Grenzen kennengelernt: nämlich da, wo wirklich die Menschenhändler-Mafia ist, vor der wir uns lieber fernhalten sollten. Über Uschi sind wir in die Szene reingekommen und haben noch mit drei anderen Frauen gedreht. Eine hatte so einen kleinen Domina-Schuppen in ihrem Lovemobil. Die zweite war, seit sie vierzehn ist, Prostituierte und saß mit 28 immer noch da. Eine weitere Protagonistin, Ira, fand ihren Job als Sexarbeiterin super. Sie hatte mit 58 dort angefangen, war jetzt 62, ihr Mann hatte einen Schlaganfall, sie haben während der Dreharbeiten geheiratet, und dann ist er gestorben. Ira hatte echte Kunden, Stammkunden, mit denen wir auch gedreht haben. Mit Ira selbst haben wir über zwei Jahre gedreht, um die zwanzig Drehtage. Mit ihr haben wir am meisten Material produziert und ihre Geschichte in einem ganzen Bogen erzählt. Uschi hatte ihre Wohnwagen an drei Frauen aus Nigeria vermietet. Mit ihnen haben wir sehr viele Gespräche geführt. Die meisten wollten nicht vor die Kamera. Bis auf eine, sie wurde aber schwanger. Und dann kannst du das nicht machen, sie als Protagonistin einsetzen, wenn sie auf der Schwelle in ein „neues Leben“ steht. Du weißt ja nicht, was mit dem Film passiert. Ich habe immer überlegt: Wie kriegst du es hin, einen Film zu machen, den du auch noch zeigen kannst, wenn die Protagonistinnen später ein neues Leben haben? Da sagte Uschi: »Bring doch jemanden mit!« So kam die Idee, einmal zu versuchen, ob es funktioniert, eine Darstellerin einzusetzen, die sich der Geschichten der Frauen annimmt. Es war als Experiment gedacht, von dem wir überhaupt nicht wussten, ob es funktioniert. Wir waren auf Formsuche, es war ja unser Debüt. Bei einer Veranstaltung in Berlin habe ich Rita kennengelernt – also Fareeda, wie sie eigentlich heißt. Wir haben es ausprobiert, und aus den Beobachtungen, die wir in der Realität gemacht hatten, Szenen nachgebaut.
Für mich stellte sich immer die Frage: Ist das, was ich sehe, glaubhaft, entspricht es der Wirklichkeit, die wir kennengelernt haben, und repräsentiert es die Atmosphäre, die wir hier erleben? Daran haben wir unsere Filmaufnahmen geprüft.
LS: Haben Fareeda und die nigerianischen Frauen zusammen Zeit verbracht?
Lehrenkrauss: Ja, über drei, vier Tage. Fareeda war bei ihnen im Bus, hat sich das angeschaut und ihr Leben kennengelernt. Sie war auch im Austausch mit der Protagonistin, die schwanger geworden ist. Sie kamen ja aus dem gleichen Land und hatten schnell einen Draht zueinander. Für Fareeda persönlich war das Filmprojekt ein ethischer Auftrag, hinter dem sie weiterhin steht.
GL: Ist die Migrationsgeschichte die der Frau, die Fareeda darstellt?
Lehrenkrauss: Nicht ausschließlich. Ich habe ihr Freiraum gelassen, weil sie ja auch Filmstudentin war und für sich einen politischen Auftrag hatte, also stellvertretend für eine Frau aus ihrem Land erzählen wollte. Ich hab nicht gesagt, mach das so und so. Sie sollte die Lebensgeschichte so erzählen, wie sie es für richtig hält. Bei den Interviews war es wichtig für mich, dass sie es als eine durchgängige Geschichte erzählt – damit ich nicht schneiden muss. Das ist eine Stilfrage. Da habe ich sie gebeten: »Kannst du es nochmal erzählen? Kannst du es abkürzen?« Aber Fareeda stellt nicht irgendetwas dar, das ich mir in meiner weißen mitteleuropäischen Phantasie ausdenke. Sie ist eine sehr starke Persönlichkeit, die nicht auf Anweisung gearbeitet hat. Und es war von Anfang an klar, dass sie in einem Dokumentarfilm auftritt.
+ + +
Statement Fareeda (liegt »artechock« auf Band vor):
Good Morning. My name is Fareeda, and I'd like to address some of the concerns around Lovemobil, the movie, I want to just categorically state that I was not misled in any way by the director or the makers of this movie. I did spend some time with some sex workers in Germany and did some research for the movie. I was aware that it was a documentary and I continued to give my full support to the production because of the means in which the filmmakers handled the narrative. They did not approach it with a sensational mindset, and the film was made with the highest standards of competency and ethics. Thank you.
+ + +
GL: Also es gab kein Skript, keinen vorgegebenen Dialog?
Lehrenkrauss: Nein, das funktioniert auch nicht mit Laiendarstellern. Du kannst ihnen nur ein Thema vorgeben und sie bitten, darüber zu sprechen. Also, das sind zumindest meine Erfahrungen.
LS: Wie kam Milena dazu?
Lehrenkrauss: Ich hatte lange das Gefühl, dass ich noch nicht das Material habe, um ausprobieren zu können, was funktioniert. Da habe ich in einem Nachtclub in Berlin Milena kennengelernt, die tatsächlich Sexarbeiterin war, und sie gefragt, ob sie sich selber spielen will – aber in einem anderen Kontext. Milena hat dann eine Mischung aus ihrer eigenen Geschichte und Erlebnissen von Kolleginnen erzählt. Die Boxerin ist wirklich ihre Freundin. Aber es gibt auch recherchierte Momente, die wir so erlebt und dann nachgestellt haben.
LS: Die Szene in Berlin, wo sie ihrer Freundin beichtet, was sie arbeitet, ist für mich ein »Cinema Vérité«-Moment par excellence.
Lehrenkrauss: Das war sehr schräg, dieser Moment, wo alles aufeinanderprallte. Milena hat ihrer Freundin immer gesagt, wir machen hier einen Film über Bulgaren in Berlin, in Deutschland. Und dann sagt sie ihr: »Ich bin Sexarbeiterin.«
GL: Das wirkt komplett wie Spielfilm.
Lehrenkrauss: Ja, das war auch so, und die Freundin wusste, dass Milena spielt. Aber dann wurde es plötzlich ernst, und sie hat gemerkt: Milena ist wirklich eine Prostituierte. Dieser Moment ist jetzt im Film. Die spielt das auf einmal nicht nur, sondern es ist echt. Wo sich Wahrheit, Realität und Fiktion überkreuzt haben.
GL: Danach bringt die Freundin sie zur S-Bahn …
Lehrenkrauss: … wo Milena natürlich nicht nach Hause fährt, sondern woanders hin. Wir haben ihnen gesagt, sie sollen das jetzt nochmal nachspielen, weil wir wollten, dass sich in dem Moment so schön die S-Bahn ins Bild reinquetscht und das Ganze ein »One-Taker« wird …
LS: Zentral in der Reportage von »STRG_F« ist auch Heiko, der den Zuhälter Manni im Film darstellt. Den konfrontieren sie mit dem Material. Und er sagt, dass er ein Schauspieler ist, so wie Milena auch. Und dass er zwar mal im Rotlichtmilieu war, aber zum Zeitpunkt des Drehs damit nichts mehr zu tun hatte, sondern Hausmeister war.
Lehrenkrauss: Ich kannte Heiko schon lange, aber nicht in Bezug auf den Film. Seine Tätigkeit war hinter der Bar in einem Club. Das war nebenan, mein Haus ist fünf Minuten entfernt. Ich bin ab und zu dort vorbeigegangen, hab mich hingesetzt, und er stand hinter der Bar und hat Gläser abgewischt. Dort gibt es auch Sexarbeiterinnen, mit denen man aufs Zimmer gehen kann. Er hat die Frauen ab und zu rausgefahren und wieder reingeholt. Im Film ist das also eine Mischung von dem, was er wirklich machte, und aus anderen Protagonisten.
LS: Wusste er, was da gedreht wird?
Lehrenkrauss: Ja. Ich habe ihm von unserem Projekt erzählt. Dass wir einen Dokumentarfilm machen, aber auch mit inszenierten Elementen arbeiten. Es war immer klar, dass das ein Dokumentarfilm ist, das kann mein Kameramann bestätigen. Ich habe niemals das Wort »Spielfilm« in den Mund genommen. Aber ich glaube, die haben uns nicht wirklich ernst genommen. Und dass dieser Film einmal erfolgreich wird, damit hat keiner gerechnet. Am wenigsten ich.
LS: Wie kam es zu seiner Äußerung über Ritas Hautfarbe?
Lehrenkrauss: Ich hatte in Clubs und Bars in der Umgebung – Wolfsburg, Braunschweig, Hannover – mit Zuhältern gesprochen. Einige hatten mir erzählt, sie arbeiten nur mit weißen Frauen und stellen keine Schwarzen ein. Das habe ich mit Heiko nachgestellt. Weil es eben eine Geschichte war, die ich erlebt hatte.
LS: Aber jetzt distanziert er sich …
Lehrenkrauss: Wir haben gedreht, und da war alles okay. Aber der Film hat ihn geärgert. Im Oktober 2019 – da war der Film seit Mai draußen – hat er mir geschrieben: »Also was deine Damen da vom Stapel lassen, vor allem Milena, das geht mal gar nicht.« Also, bei ihm muss ganz klar definiert sein: Er ist Darsteller.
GL: Das hätte man vorher absprechen müssen. Aber was ist sein Punkt? Dass er als echter Zuhälter erscheint?
Lehrenkrauss: Ich glaube, die Kombination war es. Was Milena erzählt, lässt ja sein »Business« bzw. das seiner Freunde nicht im besten Licht erscheinen. Also, es geht nicht um seine Figur, sondern um den Kontext. Ich kann das nachvollziehen. Wie es jetzt ist, tut mir sehr leid, und es bedrückt mich auch. Ich habe immer versucht, ihn zu erreichen, mit ihm zu sprechen, aber er hat dichtgemacht.
GL: Dann gibt es noch den Mann, der einen Freier spielt und in der Reportage sagt, er würde jetzt an der Tankstelle erkannt. Wer ist das?
Lehrenkrauss: Das ist Hermann. Er hat neben Heiko gewohnt, im selben Gebäudekomplex. Hermann hängt halt oft in der Bar ab und trinkt ein paar Bierchen. Ich habe ihm gesagt, dass wir ein Einstellungsgespräch drehen. Das war etwas, was ich woanders beobachtet und dort nachgestellt habe. Hermanns Aufgabe war, Rita als Freier anzumachen. Aber wie er das macht, war nicht meine Regieanweisung. Ich habe ihm nicht in den Mund gelegt zu sagen, dass sie große Brüste hat oder ähnliches, das kommt vom ihm.
GL: Wusste er, als was er erscheint, als Schauspieler oder als er selbst?
Lehrenkrauss: Ich habe immer gesagt, es ist ein Dokumentarfilm, aber eben auch gesagt, wir inszenieren Sachen nach. Und das war für sie nicht fremd.
GL: Vielleicht haben sie damit gerechnet, dass die nachgestellten Szenen gekennzeichnet werden.
Lehrenkrauss: Ich glaube, die haben gar nicht drüber nachgedacht. Weil sie eben nicht dran geglaubt haben, dass dieser Film jemals etwas wird. Und ehrlich gesagt: Wir auch nicht. Und vor allem noch nicht: Wie, und ob das, was wir hier machen, in den Film kommt, und wenn ja, in welcher Form. Denn wir hatten ja auch noch 30 Prozent Material mit Ira, die eben eine echte Sexarbeiterin ist.
GL: Wie ist es mit den Männern, die die Freier gespielt haben?
Lehrenkrauss: Das sind Bekannte von Milena und mir. Mit Paul habe ich vor ein paar Tagen gesprochen, um mich wirklich nochmal zu versichern, ob ich da irgendetwas übersehen oder übergangen habe – weil ich dann auch unsicher wurde. Also er hat kein Problem damit. »Früher bin ich halt immer in' Puff gegangen. Doku – ja, voll okay.« Er findet den Film cool. Und bei dem anderen ist das auch so.
GL: Und der Kirchenmann, der vorbeikommt und die Frauen bekehren möchte?
Lehrenkrauss: Das ist Hao aus meinem Film »Sachliche Romanze« – mein Nachbar! Ich wusste, dass er das manchmal macht, einmal im Jahr oder so. So wie auch die Zeugen Jehovas, aber die wollten nicht mit uns drehen. Hao hatte ein Problem mit Uschi und wollte ihr das sowieso mal sagen. Dann haben wir das Treffen für den Film arrangiert. Die haben sich aber von allein hochgeschaukelt, ohne Regieanweisung. Als die Szene vorbei war, haben wir es noch aus verschiedenen Perspektiven gedreht, um besser schneiden zu können.
GL: Wie war das denn bei Sachliche Romanze?
Lehrenkrauss: Das ist absolute »Fliege an der Wand«. Da war ich eine Studentin, die mit der Kamera zu ihrem Nachbarn rübergelatscht ist und einfach gedreht hat. Ich bin ins Schlafzimmer gegangen, die beiden haben gestritten, und ich habe draufgehalten. Da gab es keinerlei Regieanweisungen, ich habe nur beobachtet.
LS: Ein weiterer Kritikpunkt bei „STRG_F“ ist der Mord, der in Lovemobil inszeniert wird.
Lehrenkrauss: Irgendwann schickte mir mein Vater einen Zeitungsartikel, dass eine Frau in der Gegend in einem Lovemobil ermordet wurde. Das fanden wir krass. Da werden Menschen umgebracht! Das wollten wir im Film widerspiegeln. Es gab innerhalb von vierzehn Tagen noch einen zweiten Mord. In dem Beitrag von „STRG_F“ wird übrigens behauptet, es hätte nie einen Mord gegeben. Das ist einfach schlecht recherchiert. Die Zeitungsartikel und der Fernsehbeitrag, die im Film vorkommen, sind echt.
LS: Aber du hast das dann auch dramaturgisch verdichtet und fiktionalisiert?
Lehrenkrauss: Ich habe Milena erzählen lassen, dass eine Kollegin nebenan ermordet wurde, was nicht stimmt, weil zu dem Zeitpunkt auch viel noch nicht klar und öffentlich war. Das habe ich gemacht, damit es im Film näherkommt.
LS: Es wird suggeriert, dass auch Manni sie kannte.
Lehrenkrauss: Die Szene in der Bar hat Heiko/Manni sich selbst ausgedacht. Wir wussten also auch nicht, wie uns geschieht, als er plötzlich fragte: »Seid ihr von der Polizei?« Und wenn er so guckt, kriegt man richtig Angst. Wir wussten nicht mehr, wer jetzt was spielt.
LS: Ich finde es total legitim, diesen Mord einzubauen. Aber dass du eine persönliche Verbindung deiner Protagonistin damit reinbringst, ist nochmal eine Grenzüberschreitung.
GL: Es hat ja die Funktion, die Handlung voranzutreiben, indem Milena daraufhin sagt: »Ich will hier weg.«
Lehrenkrauss: Es war wirklich so: Manche Frauen haben erstmal eine Woche Urlaub genommen und einige sind danach nicht wiedergekommen. Andere haben ganz normal weitergemacht. Aber es war eine spannungsgeladene Atmosphäre, die für einen Moment durch den Mord entstand … So, wie sie im Film stattfindet. Es ging mir immer um die Authentizität der Atmosphäre.
GL: Dass der Film eine Handlung hat, kommt unserer Erwartungshaltung entgegen. Ich mag das auch, muss ich ganz ehrlich sagen. Es ist einfach interessanter, einer Entwicklung zuzusehen.
Lehrenkrauss: Genau. Ich habe überlegt, wie ich mit dieser ganzen Langeweile umgehe, diesem Warten, Warten, Warten, und nichts passiert in diesem Lovemobil. Dem musste ich eine klare Handlung entgegensetzen, sonst hätte das nicht funktioniert. Indem immer wieder Handlung stattfindet, funktioniert die Langeweile filmisch.
LS: Da sind wir auch beim Schnitt. In der „STRG_F“-Reportage spricht eine Editorin, mit der du gearbeitet hast. Wie war eure Zusammenarbeit?
Lehrenkrauss: Ich hatte wahnsinnig wenig Geld und habe das meiste selbst gemacht. Aber weil ich eben einen Säugling hatte, brauchte ich ein bisschen Unterstützung im Schnitt. Ich habe mit ihr eine Monatspauschale vereinbart, bei der sie nebenbei noch an anderen Projekten arbeiten konnte.
LS: Sie erzählt, dass du ihr vor dem Treffen mit dem Redakteur zum Thema Materialsammlung gesagt hättest: »Wenn er fragt 'ist das echt?', dann ist es echt.«
Lehrenkrauss: Davon abgesehen, dass er nicht gefragt hat – kann ich es mir schwer vorstellen, dass ich das gesagt haben soll. Sie kann es nicht beweisen, ich kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen.
LS: Es erscheint sogar so, als ob du sie unter Druck gesetzt hättest.
EL: Wir haben immer auf Augenhöhe kommuniziert. Und ich war zu der Zeit unsicher mit allem. Sie ist dann aus dem Projekt ausgestiegen.
LS: Warum?
Lehrenkrauss: Im August war sie für zwei Wochen im Urlaub. Dann kam auf einmal eine Rechnung für den ganzen August. Und ich hatte echt nicht so viel Geld, dass ich sie ich auch bezahlen konnte, wenn sie nicht gearbeitet hat. Wir hatten ja schon drei Monate zusammengearbeitet. Bei 5.600 Euro für den gesamten Schnitt ist das ja logisch. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie ist nicht mehr ans Telefon gegangen und hat nicht auf Nachrichten geantwortet. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen. Und dann habe ich ihr die Hälfte überwiesen für den August.
GL: In der Reportage ist es so dargestellt, als wäre sie ausgestiegen wegen der nicht offengelegten Inszenierung. Um darauf zurückzukommen: Ich kenne es aus jeder Art von Filmförderung so, dass man ohne LOIs von den Protagonist/innen keine Förderung bekommt. Nun mussten deine Protagonist/innen bzw. Darsteller/innen auch etwas unterzeichnen …
Lehrenkrauss: Ja, eine Verzichtserklärung. »Hiermit gebe ich meine Einwilligung, dass meine Stimme, Bilder, Texte, Videos, Zeichnungen, Schnitt, Material, Kopien, Aufzeichnungen (…) etc… ohne Beschränkung auf Gebiete veröffentlicht werden können.«
GL: Und welche Namen stehen dort?
Lehrenkrauss: Die echten: Fareeda und Heiko.
GL: Statt Rita und Manni. Da hätte die Redaktion stutzig werden können.
Lehrenkrauss: Es ist natürlich nicht die Pflicht eines Redakteurs, Regisseuren detektivisch auf die Schliche zu kommen, wie sie was gemacht haben. Es wäre meine Pflicht gewesen, Timo zu informieren.
GL: Offensichtlich gab es kein Vertrauensverhältnis zwischen euch. Wie oft habt ihr euch überhaupt gesehen?
Lehrenkrauss: Wir haben uns in der gesamten Zeit nur ein Mal getroffen. Zur Materialsichtung, in meiner Wohnung. Ich hatte gerade ein Kind gekriegt und dachte, ich muss jetzt alle Spielsachen wegräumen. Damit man nicht merkt, dass ich ein Kind habe, und ich nicht unseriös erscheine. Hier hängen noch Mobiles, schnell weg damit!
GL: Das sagt viel über Strukturen und Machtgefälle.
Lehrenkrauss: Ja, und dann haben wir zusammen die Materialsammlung geguckt, 2 Stunden 45 Minuten. Dann hatten wir nur kurz Zeit zu sprechen, und er musste dann auch schon wieder weiter, er stand wahnsinnig unter Termindruck, so mein Eindruck. Und unter so einem Zeitdruck kommt keine Atmosphäre des »vertraulichen Gesprächs auf Augenhöhe« auf. Er meinte über die 60-jährige Protagonistin Ira: »Schmeiß die mal raus!« Die fand er nicht gut. Das war für mich total schlimm. Man musste mich wirklich fast auf die Streckbank legen, damit ich Ira rausschmeiße. Aber ich habe dann eingesehen, dass ich keinen 90-Minüter – der jetzt sowieso schon bei 106 Minuten ist – hinkriege mit ihr. Ich müsste einen zweieinhalb-Stunden-Film machen, und das war schlichtweg nicht möglich.
GL: Das klingt so, als wäre alles, was du schon gedreht hattest vor der Inszenierung, später rausgefallen. Wieviel davon ist in dem Film überhaupt noch drin?
Lehrenkrauss: Außer Uschi sind alle Frauen raus.
GL: Aber warum? War das Material nicht gut genug? Oder entsprach es nicht der Geschichte, die du erzählen wolltest?
Lehrenkrauss: Eine Mischung aus allem. Ich wollte eigentlich ein Kaleidoskop, in dem auch die Sexarbeiterinnen, die das super gern machen, zu Wort kommen. Timo fand halt Ira nicht so spannend. Und es ist wohl schon so, dass das Elend immer das »Spannendere« ist. Wahrscheinlich auch bei den Öffentlich-Rechtlichen. Und natürlich ist es auch richtig und wichtig, wenn dies thematisiert wird, und das gezeigt wird, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Aber es braucht auch ein Gegengewicht.
LS: Du hast gerade bei Rita auch eine starke visuelle und poetische Kraft. Ich weiß nicht, wie die Aufnahmen mit Ira waren, aber das kann auf eine Art auch blenden. Generell geht es ja aber auch um die Darstellung von Sexarbeit in dem Film. Es gibt die vehemente Kritik von Sexarbeiterinnen, dass du ihrer Stigmatisierung Vorschub leistest und dass die Facette von selbstbestimmter Sexarbeit vollständig fehlt. Wir sehen nur Frauen, die unglücklich sind und die durch Migration und schreckliche Umstände da reingezwungen wurden.
Lehrenkrauss: Es ist interessant, wie sich die Gemüter daran scheiden. Dass Sexarbeiterinnen sagen: »Das ist genauso, wie ich das erlebt hab. Ich habe in einem Lovemobil gearbeitet, und genau so fühlt es sich an.« Natürlich kommt auch Kritik, die ich absolut verstehe. Auch seitens des BeSD (Berufsverband Sexarbeit), mit dem ich ja in Kontakt stehe. Das sind nicht meine Feindinnen, im Gegenteil. Ich bin auch pro selbstbestimmte Sexarbeit. Nur es ist eben kein Film über Sexarbeit. Das ist ja immer das Problem, wenn der NDR sagt »die Doku über Sexarbeit«. Es ist ein Film über Frauen in einer sehr schwierigen Lage. Ich glaube, man müsste die Diskussion komplett anders führen, denn auch die Sexarbeiterinnen sind ja gegen diese Form von Ausbeutung, die gezeigt wird. Aber das Problem ist, dass das für sie die Repräsentation ihrer Branche ist, und es kein Gegengewicht in der Darstellung bei den Sendern gibt.
GL: Letztendlich hast du genau das geliefert, was die Öffentlichkeit sehen will. Natürlich kommt auch der ganze PC-Diskurs rein und die Debatte um Identität usw. Das hast du bereitwillig bedient. Aber es gehören eben immer zwei dazu.
LS: Und was für mich ein wesentlicher Punkt ist: Du hast Milena und Rita die Autonomie gegeben, über ihre Repräsentation selbst zu bestimmen. Sie stehen beide hinter diesem Film.
GL: Dennoch geht es ja um die fehlende Kennzeichnung der fiktiven Inszenierung. Generell gäbe es ja viele Möglichkeiten, es muss nicht eine Einblendung »nachgestellte Szene« sein, das ist ja langweilig. Aber man kann z.B. eine Regieanweisung drin lassen oder den Akt der Inszenierung selbst.
Lehrenkrauss: Ich war erst dabei herauszufinden, ob das überhaupt funktioniert mit Rita. Ob es glaubwürdig und authentisch ist.
GL: Gut, und dann merkst du, es funktioniert. Du weißt aber trotzdem, dass Rita von Fareeda gespielt wird.
Lehrenkrauss: Ich hatte das Problem, dass ich diesen Film überhaupt erst mal fertig machen musste.
GL: Du kommst also an die Stelle, wo du merkst: Ich kriege das jetzt nicht hin. Aber das ist ja nichts Außergewöhnliches, dass Projekte nicht rechtzeitig fertig werden. Auch dass man auf Probleme stößt im Dokumentarischen und einem die Protagonistin abspringt – damit hätte Timo Großpietsch wahrscheinlich umgehen können. Das sind normalerweise Dinge, die man mit dem Redakteur oder der Redakteurin bespricht. War dein Gefühl, dass du damit nicht zur Redaktion gehen kannst?
Lehrenkrauss: Ich hatte die Abgabefrist schon maximal verschoben, auch bei der Nordmedia. Ich musste definitiv fertig werden. Aber ich möchte nichts Schlechtes über Timo sagen, weil es mir ja auch gefallen hat, dass er nicht so ein Kontrollfreak war und mir Freiraum gelassen hat. Aber er war eben für wichtige, grundlegende Fragen zeitlich nie greifbar. Er hatte auch viele andere Projekte zu betreuen und hat selbst einen Film gedreht. Zum Beispiel bei der Rohschnitt-Abnahme: Da sollte ich nach Hamburg kommen. Und dann rief er am selben Tag an – ich war schon angereist! – und hat wieder abgesagt. So war es eigentlich immer. Wir waren verabredet, es wurde abgesagt. Wenn es diese Kommunikation nicht gibt, kommt man nicht zu einer Atmosphäre, in der man mal ruhig am Tisch sitzt und redet. Weil immer alles schnell gehen muss. Nur geil, geil, geil, schnell, schnell, schnell. Ich hatte das Gefühl, ich musste die ganze Zeit nur liefern, ohne jemals Probleme oder Schwierigkeiten ansprechen zu können. Und vor allem: ich hatte nicht das Gefühl, dass wir auf Augenhöhe kommunizieren. Vielleicht ist das auch nur meine Wahrnehmung, ohne dass es von anderer Seite so gemeint war, aber ich hab mich schon immer sehr überrollt gefühlt und nicht ernstgenommen. Und dann eben der Druck, liefern zu müssen, weil ich selbst auch Produzentin war.
GL: Warum eigentlich?
Lehrenkrauss: Finde mal eine Produktion für einen Film über Prostituierte in Niedersachsen, wo keiner weiß, was daraus wird. Da steigt keiner ein. Ich habe ein paar Produzenten angeschrieben, aber dann gedacht: Okay, muss auch nicht sein. Was ist da groß zu produzieren? Da sind mein Kameramann und ich vor Ort, und dann wird irgendwann geschnitten. Mit einem Produzenten müsste man auch noch kommunizieren, und wir wussten selbst noch nicht, wo die Reise hingeht.
GL: Hast du das vielleicht unterschätzt mit der Produktion?
Lehrenkrauss: Es war eben nicht so, dass mir der Stoff aus den Händen gerissen wurde. Ich bin vom Typ her nicht wirklich die Produzentin. Ich bin mehr die Filmemacherin, die sich auch in ihrer Welt verliert.
GL: Und der ganze Film ist letztendlich mit einer Finanzierung für 50 Minuten gemacht worden? Das ist doch in mehrfacher Hinsicht, finanziell und künstlerisch, ein Unterschied: zwischen Doku und Dokumentarfilm. Das muss man doch mit der Redaktion an irgendeiner Stelle besprochen haben.
Lehrenkrauss: Am Anfang war Barbara Denz unsere Redakteurin, die ging dann in Rente, und Timo Großpietsch kam. Wir waren ja auf dem Dokumentarfilm-Sendeplatz, das war das Absurde. Ich glaube, weil dieser Sendeplatz mehr Geld zur Verfügung hatte. Nach den Problemen mit der Editorin habe ich Timo angerufen, weil ich eine Nachfinanzierung für den Schnitt brauchte und hab 9.000 Euro Nachschub bekommen.
+ + +
Nach dem Interview haben wir von Elke Lehrenkrauss die Verträge mit Nordmedia und NDR für Lovemobil erhalten. In dem Ende 2015 (nicht wie vom NDR auf der Website behauptet 2014) abgeschlossenen Verträgen sucht man das Wort Dokumentarfilm vergeblich. Im Vertrag der Kulturwirtschaftlichen Film- und Medienförderung der nordmedia für ein »erfolgsbedingt zurückzahlbares Darlehen in Höhe von 50.285,16 €« wird von »Anteilsfinanzierung der Kosten für die Herstellung des 50-minütigen Films« gesprochen, im Vertrag über Aufstockungsmittel in Höhe von 27.674,90 € netto durch den NDR wird sogar nur von »Produktion« gesprochen. Im November 2019, über ein halbes Jahr nach seiner Premiere und nach einer erfolgreichen Festivaltour spricht der NDR im Vertragsnachtrag von einer »Fernsehproduktion mit dem Arbeitstitel 'Lovemobil'«. Für 9.345,80 € netto erhält der NDR in diesem Vertragsnachtrag »abweichend vom Produktionsvertrag für o.g. Produktion [...] eine Sendefassung in einer Länge von ca. 106 Minuten«. »Die ursprüngliche Sendelänge betrug ca. 50 Minuten.« Darüber hinaus bekommt der NDR nach der Ausstrahlung die Streaming-on-Demand-Rechte für 90 statt für 45 Tage.
+ + +
GL: Was stand denn in dem Exposé, das du ganz am Anfang eingereicht hast?
Lehrenkrauss: Von der Stimmung und der Atmosphäre her war das nahe an dem Film, wie er jetzt ist, aber mehr noch ein Kaleidoskop, in dem verschiedene Positionen zu Wort kommen. Und es war experimenteller bzw. essayistisch angelegt.
LS: Das ist wirklich interessant, dass ihr Förderung für einen experimentellen Film beantragt habt!
+ + +
Im Exposé, das die Grundlage für alle Förderverträge, sowohl für das Kurzfilmstipendium als auch für die »50-minütige Produktion« von Lovemobil bildete, wird der experimentelle Ansatz des Projekts wie folgt beschrieben:
»Ich möchte die Ton-Bild-Schere strapazieren, filmische Brüche provozieren und versuchen, Abstraktions- und Assoziationsebenen zu schaffen. Im Gegensatz zu den intimen Erzählungen meiner Protagonistinnen stehen auf zweiter Ebene die Zeitungsberichte und Polizeiakten, die von den kriminellen Vorfällen und ungeklärten Verbrechen berichten. Sie werden von einer anonymen Stimme eingesprochen.«
»Zusammen ergeben diese Elemente eine dramaturgische Collage auf der Tonebene, die den Film strukturiert. Ausgehend von diesen verschiedenen Perspektiven, und durch ihr Zusammenfließen oder ihre Abstoßung, kann dem Film bereits auf der Tonebene eine wahrhaftige Ortsbeschreibung gelingen.«
»Durch die Parallelität und Zusammenkunft der verschiedenen Elemente erleben wir den Ort auf eine andere Weise. Ich glaube, dass sich durch eine eingenwillige Erzählstruktur interessante Rückschlüsse auf dezente, assoziative Weise provozieren lassen. Der Film legt es dabei nicht darauf an, eine wertende Aussage über den Ort zu treffen. Er möchte primär versuchen, ihn auf authentische Art zu begreifen.«
Im zusätzlichen Motivationsschreiben für den Langfilm schreibt Elke Lehrenkrauss:
»Durch den Film soll das Lebensgefühl der Frauen in den Liebesmobilen visuell und emotional mit aller Wucht erfahrbar werden. Deshalb soll der Film weitestgehend szenisch erzählt werden. Denn eine Geschichte ist für mich erst spannend, wenn wir die Beteiligten dabei erleben können, wie sie eine Situation meistern und dabei um ihre Gefühle ringen, als sie in einem Interview vor der Kamera dazu reflektieren zu lassen .«
+ + +
GL: Und dein Gefühl war, dass es bei der Redaktion keine Offenheit gab zur Offenlegung der Inszenierung? Hast du das Timo gegenüber mal versucht zu fragen oder angedeutet?
Lehrenkrauss: Ich habe immer mal so vorgefühlt: »Wir haben arrangiert.« Das wurde dann so ein bisschen weggewischt, war mein Eindruck. In meiner Pressemitteilung, die ich an die Redaktion geschickt hab, hatte ich geschrieben: Es ist eine künstlerische, dokumentarische Form und keine journalistische Dokumentation Und dann habe ich gesagt, das muss mit in die Programmankündigung, es ist keine Dokumentation! Ich habe darauf bestanden, und sie haben es nicht gemacht. »Das verstehen unsere Zuschauer nicht«, wurde mir gesagt. Hätte ich den Film als Hybrid gekennzeichnet abgegeben, die hätten ihn mir rechts und links um die Ohren gehauen. Also, ich weigere mich zu glauben, dass sie ihn so genommen hätten. Da steht Aussage gegen Aussage: Timo sagt, er hätte keine Probleme mit einem Hybrid. Aber sein Chef sagt das Gegenteil: »Dokumentarfilm ist die Abbildung der Realität.«
LS: Dabei habe ich gerade beim NDR in den letzten Jahren gedacht: Wow, was da alles entsteht! Während der BR alles runterfährt, kommt beim NDR eine Produktion nach der anderen und du lernst lauter neue Filmemacherinnen und Filmemacher kennen. Da ist so viel entstanden. Aber dann merkst du auch, dass diese Redaktion personell ausgedünnt ist, dass sie etwas leistet, was gar nicht zu schaffen ist. Ich fände es schlimm, wenn im Ergebnis dieser Geschichte die Dokumentarfilmredaktion des NDR Schaden nähme.
GL: Wir reden ja auch nicht über Personen, wir reden über ein System. Aber wie geht es mit dem Film weiter?
Lehrenkrauss: Er läuft ab Juni in der Blue Box im Sprengel Museum in Hannover. Also im Kunstkontext, wo er auch meiner Meinung nach sehr gut hinpasst. Da geht es um das Dokumentarische und darum, dass in der Fotografie schon immer inszeniert wurde. Erweitert um das Filmische. Bei Robert Capa, mit dem sterbenden Soldaten, geht es los – dass die Wirklichkeit immer für die Kamera hergestellt wurde.
GL: Das heißt, du bist auch bereit, dich dem in dem Kontext zu stellen?
Lehrenkrauss: Auf jeden Fall, jetzt kann ich endlich drüber reden. Zwei Jahre lang habe ich mich durch die Foren gemogelt und immer gedacht: Naja, ich habe das, was ich inszeniert habe, wirklich so erlebt – nur mit anderen Protagonist/innen, um mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Das fühlte sich alles richtig schlecht an. Ich habe es dann aber durchgezogen, weil ich es irgendwie nicht mehr sagen konnte. Ich hätte so gern diese spannenden Diskussionen geführt. Es war ein Krampf, der mich ermüdet hat. Man merkt das vielleicht auch in den Interviews. Und jetzt wäre es gut, wenn man auch andere Diskussionen führen kann. Wie geht man mit einer Protagonistin um, die man schützen muss? Wie bringt man etwas auf die Leinwand, was nicht abbildbar ist? Wie geht man mit Inszenierung im Dokumentarfilm um? Inszenierung oder hybride Form ist nicht grundsätzlich mein Konzept beim Filmemachen, sondern war nur bei Lovemobil der passende Ansatz.
Und ich möchte zum Schluss noch klarstellen: Ich bin keine Regisseurin, die ihre Protagonist/innen benutzt. Das finde ich die fieseste Behauptung bisher. Ich bin mit allen drei Protagonistinnen in sehr gutem Kontakt. Sie wussten immer, es ist als Dokumentarfilm gelabelt. Bei Heiko ist es schiefgelaufen, aber bei den Frauen, mit denen ich gedreht habe, war es nicht so. Dass das jetzt so dargestellt wird aufgrund von Falschmeldungen, finde ich schlimm und möchte es hier richtigstellen.