30.03.2021
Lovemobil-Debatte

»Mir wurde gesagt: Das verstehen unsere Zuschauer nicht«

Elke Lehrenkrauss
Elke Lehrenkrauss
(Foto: privat)

Elke Lehrenkrauss über die Widerständigkeit der Wirklichkeit, die mangelnde Betreuung von Redaktionen, die Geldknappheit und die Offenlegung ihres vom Ansatz her künstlerischen Projekts: Lovemobil

Das Gespräch führten Ludwig Sporrer, Mitar­beiter des DOK.fest München, und Grit Lemke, Doku­men­tar­fil­me­ma­cherin und -kuratorin

Elke Lehren­krauss hat letztes Jahr mit Lovemobil den Deutschen Doku­men­tar­film­preis gewonnen und war jetzt für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Dann kam raus: Ihr Film über einen Wohn­mo­bil­strich in Nieder­sachsen enthielt zu weiten Strecken insze­niertes Material, das zwar auf Recher­che­er­geb­nissen basierte, aber dennoch nur nach­emp­fun­dene Wirk­lich­keit war. Der Film war eben kein Doku­men­tar­film, als das er seinen großen Erfolg gefeiert hatte.

Den Preis hat sie mitt­ler­weile zurück­ge­geben, die Nomi­nie­rung wurde zurück­ge­zogen. Das Beispiel von Lovemobil aber hat jetzt eine hitzige Diskus­sion in der Doku­men­tar­film­szene entfacht, bei der es auch um Grund­sätz­li­cheres geht als nur um die Frage von Lüge, Wahrheit und Moral: Was kann, was darf ein Doku­men­tar­film? Wo liegt die Verant­wor­tung von Redak­tionen in der Abnahme von Projekten? Macht es sich Elke Lehren­krauss zu leicht, wenn sie in der Enthül­lungs­re­por­tage „STRG_F“ eine Verket­tung unglück­li­cher Umstände und verpasster Zeit­punkte, die Wahrheit zu sagen, sugge­riert? Liegt der »Fälschungs­skandal« nicht eher im System begraben, in der einfor­dernden Arbeits­weise der TV-Redak­tionen an die Debüt­filmer*innen, inter­es­santen Stoff zu liefern, während diese gleich­zeitig unter hoch­prekären Bedin­gungen arbeiten müssen?

In unserem Gespräch bekommt Elke Lehren­krauss Zeit, einmal ausführ­lich über die Entste­hung von Lovemobil und die künst­le­ri­schen Aspekte der Insze­nie­rung zu sprechen. Außerdem gewähren wir Einblick in die Verträge.

Ludwig Sporrer (LS): Es ist klar, dass du große Fehler gemacht hast. Die auch darüber hinaus­gehen, dass die Insze­nie­rung in Lovemobil nicht gekenn­zeichnet wurde. Aber wir wollen jetzt einfach mal genauer hinsehen und nach­fragen. Was ist da passiert? Welches System steckt dahinter? Dazu gehört aber auch die Aufde­ckung des vermeint­li­chen Skandals. Elke, wann und wie begann es für dich?

Elke Lehren­krauss: Am Abend des 17. März, zwischen Kind und Suppe-Rühren, rief mich dieses Jahr mein Redakteur Timo Großpietsch an und fragte, wo die Einver­s­tänd­nis­er­klärungen von den zwei Freiern aus dem Film wären. Also das Dokument, in dem die Prot­ago­nis­tinnen unter­schreiben, dass sie mit der Veröf­fent­li­chung ihrer Film­auf­nahmen einver­standen sind. »Ich kann sie anrufen und noch besorgen«, meinte ich. »Es sind Bekannte von mir mit Prosti­tu­ti­ons­er­fah­rungen, die ich während der Recherche kennen­ge­lernt und für den Film einge­setzt habe.« Timo fragte dann, was an dem Film sonst noch nicht »echt« wäre. Ich sagte, dass ich in unseren Tele­fo­naten immer von Arran­ge­ments und Insze­nie­rungen gespro­chen hatte und auch die Sache mit den Freiern schon erwähnt hatte. Er war aber nie weiter darauf einge­gangen. Ich hatte ihm aus eigener Initia­tive aber nie gesagt, dass Rita keine Prosti­tu­ierte ist, und dass Milena eine Frau mit Prosti­tu­ti­ons­er­fah­rung ist, die aber nicht dort gear­beitet hatte. Das habe ich ihm dann, als er fragte, erzählt. Am nächsten Tag hat er mir eine Liste mit mehr als 100 Fragen zum gesamten Film geschickt. Solche wie: Wem gehört dieses Auto, einem Kunden oder euch? Wer ist diese Person? Ich hatte zur Beant­wor­tung nur bis zum nächsten Vormittag Zeit. Ich wusste nicht, dass »STRG_F« ihn schon infor­miert hatte. Am Frei­tag­abend hat mich meine Prot­ago­nistin Uschi angerufen. »Hier steht der NDR vor der Tür.« Am Samstag früh haben sie mich angerufen, ob sie mich inter­viewen können. Ich hatte mein Kind und ein anderes Kind da und musste erst mal meine Nachbarin fragen, ob sie die beiden nimmt. Dann standen plötzlich, wie eine Task Force, zwei Frauen vor mir. Mit dem Gestus: »Du wirst nie wieder Filme machen. Das ist jetzt das Aus für dich.« Man hat gemerkt, dass sie eine Agenda haben, eine These, für die sie Bestä­ti­gung suchten. Ich fühlte mich wie vor Gericht, auf der Ankla­ge­bank. Sie wollten von mir noch die Kontakte von Milena und Rita. Milena wollte aber nicht mit ihnen reden. Dann haben sie Rita angerufen, aber auch bei ihr wurden Sachen aus dem Zusam­men­hang gerissen – und verdreht, das sagt sie selbst. Die hatten eine These und wollten sie bestä­tigen. Uschi haben sie fünfmal gefragt: »Sie sind doch Schau­spie­lerin?« Inter­es­san­ter­weise hatten sie Lovemobil im Kino gesehen und hätten niemals gedacht, dass dort irgend­etwas insze­niert war.

Grit Lemke (GL): Dann haben sie wenig Ahnung von Film.

Lehren­krauss: Das sind Jour­na­lis­tinnen. Ich habe von etwas ganz anderem geredet als sie. Auch dieser Halbsatz, der ständig zitiert wird, in dem ich sage, dass ich eine »authen­ti­schere Realität geschaffen habe als die Realität selbst«, geht eigent­lich noch weiter.

GL: In der Presse wurde er verwendet, um dich wie eine Geis­tes­kranke erscheinen zu lassen.

Lehren­krauss: Ja, eine durch­ge­knallte Spinnerin. Der Satz ging weiter: dass man durch die Anwe­sen­heit der Kamera die Realität verfremdet. Authen­ti­zität ist auch eine Frage, wie Regie­ar­beit mit diesem Fakt umgeht.

GL: In der ganzen Diskus­sion sind die Begriffe komplett durch­ein­an­der­ge­raten. Realität ist ja das, was ich vorfinde. Und, wie du sagst, ist sie in dem Moment, indem ich sie abbilde, schon keine Realität mehr, sondern immer nur die subjek­tive Wirk­lich­keit des oder der Abbil­denden. Beim Film kommt noch vieles dazu, Kamera, Schnitt usw. Und das Bild wird erst volls­tändig im Kopf der Zuschau­enden, da sieht auch nochmal jede/r etwas anderes. Insofern geht es immer um Wirk­lich­keit und eben nicht um Realität.

LS: Ein Problem des Films ist natürlich die Art, wie er gesehen wird. Also die doku­men­ta­ri­sche Lesart, die Perspek­tive der Zuschau­enden auf den Film. Sie nehmen es als etwas Authen­ti­sches wahr. Und authen­tisch kann in dieser Sicht­weise nur sein, wenn das, was man sieht, auch genauso passiert ist. Bedenk­lich ist, dass der NDR in der Reportage mit »Doku­men­tar­film ist bei uns die Abbildung von Realität« zitiert wird. Uns ist allen klar, dass das nicht möglich ist, und spätes­tens seit den 1980ern kein Programm­ver­ant­wort­li­cher eines deutschen Fern­seh­sen­ders so etwas ernsthaft behaupten sollte.

GL: Das ist wirklich absurd, dieses fehlende Grund­ver­s­tändnis doku­men­ta­ri­scher Arbeit. Hinzu kommt eine unfass­bare Häme im Kolleg/innen­kreis auch innerhalb der AG DOK, und dass eine »Direct Cinema Polizei« ein Insze­nie­rungs­verbot in den Raum stellt. Dagegen wehre ich mich nicht nur als Filme­ma­cherin, sondern auch als Kuratorin. Wenn es nur noch eine Art von Doku­men­tar­film geben soll, wie lang­weilig wären die Festivals und unsere Kino­land­schaft!
LS: Ja, der Doku­men­tar­film würde über mehr als 30 Jahre zurück­ge­worfen. In der Geschichte von Lovemobil aber gehen wir jetzt gute fünf Jahre zurück, an den Anfang.

Lehren­krauss: Also, ich komme aus Gifhorn und kenne die Liebes­mo­bile schon mein ganzes Leben lang. In Hannover habe ich das „cast & cut“- Stipen­dium bekommen für einen expe­ri­men­tellen, doku­men­ta­ri­schen Kurzfilm in Schwarz­weiß, in dem ich über die Wohn­mo­bile und die Menschen darin erzählen wollte. So habe ich ange­fangen, mehr zu recher­chieren, von Anfang an gemeinsam mit meinem Kame­ra­mann Christoph Rohr­scheidt. Dabei haben wir schnell fest­ge­stellt, dass wir so der Sache nicht gerecht werden. Daraufhin habe ich 2014 einen Antrag bei der Nordmedia und darüber auch beim NDR für einen Langfilm gestellt. Der NDR gab aber nur das Geld für einen 50-Minüter. Ich habe dann Ende 2015 von der Nordmedia 50.000 Euro gekriegt und vom NDR 27.000 Euro. Im Vertrag steht, dass ich 50 Minuten liefern muss. Komi­scher­weise sollte das trotzdem auf dem langen Doku­men­tar­film-Sende­platz im NDR laufen, mir war das aber zu diesem Zeitpunkt egal. Ich dachte, für ein Debüt, also den ersten Film nach der Film­schule, sind 90.000 Euro (inklusive Stipen­dium) voll okay, das ziehen wir durch. Wir hatten dann über die nächsten zwei, drei Jahre verteilt insgesamt 67 Drehtage. Und haben uns erst mal über die Land­schaft angenähert, um über die vier Jahres­zeiten diese Stagna­tion des Lebens an dem Ort zu erzählen. Und wir haben mit vielen Frauen gespro­chen und unsere Grenzen kennen­ge­lernt: nämlich da, wo wirklich die Menschen­händler-Mafia ist, vor der wir uns lieber fern­halten sollten. Über Uschi sind wir in die Szene rein­ge­kommen und haben noch mit drei anderen Frauen gedreht. Eine hatte so einen kleinen Domina-Schuppen in ihrem Lovemobil. Die zweite war, seit sie vierzehn ist, Prosti­tu­ierte und saß mit 28 immer noch da. Eine weitere Prot­ago­nistin, Ira, fand ihren Job als Sexar­bei­terin super. Sie hatte mit 58 dort ange­fangen, war jetzt 62, ihr Mann hatte einen Schlag­an­fall, sie haben während der Dreh­ar­beiten gehei­ratet, und dann ist er gestorben. Ira hatte echte Kunden, Stamm­kunden, mit denen wir auch gedreht haben. Mit Ira selbst haben wir über zwei Jahre gedreht, um die zwanzig Drehtage. Mit ihr haben wir am meisten Material produ­ziert und ihre Geschichte in einem ganzen Bogen erzählt. Uschi hatte ihre Wohnwagen an drei Frauen aus Nigeria vermietet. Mit ihnen haben wir sehr viele Gespräche geführt. Die meisten wollten nicht vor die Kamera. Bis auf eine, sie wurde aber schwanger. Und dann kannst du das nicht machen, sie als Prot­ago­nistin einsetzen, wenn sie auf der Schwelle in ein „neues Leben“ steht. Du weißt ja nicht, was mit dem Film passiert. Ich habe immer überlegt: Wie kriegst du es hin, einen Film zu machen, den du auch noch zeigen kannst, wenn die Prot­ago­nis­tinnen später ein neues Leben haben? Da sagte Uschi: »Bring doch jemanden mit!« So kam die Idee, einmal zu versuchen, ob es funk­tio­niert, eine Darstel­lerin einzu­setzen, die sich der Geschichten der Frauen annimmt. Es war als Expe­ri­ment gedacht, von dem wir überhaupt nicht wussten, ob es funk­tio­niert. Wir waren auf Formsuche, es war ja unser Debüt. Bei einer Veran­stal­tung in Berlin habe ich Rita kennen­ge­lernt – also Fareeda, wie sie eigent­lich heißt. Wir haben es auspro­biert, und aus den Beob­ach­tungen, die wir in der Realität gemacht hatten, Szenen nach­ge­baut.

Für mich stellte sich immer die Frage: Ist das, was ich sehe, glaubhaft, entspricht es der Wirk­lich­keit, die wir kennen­ge­lernt haben, und reprä­sen­tiert es die Atmo­sphäre, die wir hier erleben? Daran haben wir unsere Film­auf­nahmen geprüft.

LS: Haben Fareeda und die nige­ria­ni­schen Frauen zusammen Zeit verbracht?

Lehren­krauss: Ja, über drei, vier Tage. Fareeda war bei ihnen im Bus, hat sich das ange­schaut und ihr Leben kennen­ge­lernt. Sie war auch im Austausch mit der Prot­ago­nistin, die schwanger geworden ist. Sie kamen ja aus dem gleichen Land und hatten schnell einen Draht zuein­ander. Für Fareeda persön­lich war das Film­pro­jekt ein ethischer Auftrag, hinter dem sie weiterhin steht.

GL: Ist die Migra­ti­ons­ge­schichte die der Frau, die Fareeda darstellt?

Lehren­krauss: Nicht ausschließ­lich. Ich habe ihr Freiraum gelassen, weil sie ja auch Film­stu­dentin war und für sich einen poli­ti­schen Auftrag hatte, also stell­ver­tre­tend für eine Frau aus ihrem Land erzählen wollte. Ich hab nicht gesagt, mach das so und so. Sie sollte die Lebens­ge­schichte so erzählen, wie sie es für richtig hält. Bei den Inter­views war es wichtig für mich, dass sie es als eine durch­gän­gige Geschichte erzählt – damit ich nicht schneiden muss. Das ist eine Stilfrage. Da habe ich sie gebeten: »Kannst du es nochmal erzählen? Kannst du es abkürzen?« Aber Fareeda stellt nicht irgend­etwas dar, das ich mir in meiner weißen mittel­eu­ropäi­schen Phantasie ausdenke. Sie ist eine sehr starke Persön­lich­keit, die nicht auf Anweisung gear­beitet hat. Und es war von Anfang an klar, dass sie in einem Doku­men­tar­film auftritt.

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Statement Fareeda (liegt »artechock« auf Band vor):

Good Morning. My name is Fareeda, and I'd like to address some of the concerns around Lovemobil, the movie, I want to just cate­go­ri­cally state that I was not misled in any way by the director or the makers of this movie. I did spend some time with some sex workers in Germany and did some research for the movie. I was aware that it was a docu­men­tary and I continued to give my full support to the produc­tion because of the means in which the film­ma­kers handled the narrative. They did not approach it with a sensa­tional mindset, and the film was made with the highest standards of compe­tency and ethics. Thank you.

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GL: Also es gab kein Skript, keinen vorge­ge­benen Dialog?

Lehren­krauss: Nein, das funk­tio­niert auch nicht mit Laien­dar­stel­lern. Du kannst ihnen nur ein Thema vorgeben und sie bitten, darüber zu sprechen. Also, das sind zumindest meine Erfah­rungen.

LS: Wie kam Milena dazu?

Lehren­krauss: Ich hatte lange das Gefühl, dass ich noch nicht das Material habe, um auspro­bieren zu können, was funk­tio­niert. Da habe ich in einem Nachtclub in Berlin Milena kennen­ge­lernt, die tatsäch­lich Sexar­bei­terin war, und sie gefragt, ob sie sich selber spielen will – aber in einem anderen Kontext. Milena hat dann eine Mischung aus ihrer eigenen Geschichte und Erleb­nissen von Kolle­ginnen erzählt. Die Boxerin ist wirklich ihre Freundin. Aber es gibt auch recher­chierte Momente, die wir so erlebt und dann nach­ge­stellt haben.

LS: Die Szene in Berlin, wo sie ihrer Freundin beichtet, was sie arbeitet, ist für mich ein »Cinema Vérité«-Moment par excel­lence.

Lehren­krauss: Das war sehr schräg, dieser Moment, wo alles aufein­an­der­prallte. Milena hat ihrer Freundin immer gesagt, wir machen hier einen Film über Bulgaren in Berlin, in Deutsch­land. Und dann sagt sie ihr: »Ich bin Sexar­bei­terin.«

GL: Das wirkt komplett wie Spielfilm.

Lehren­krauss: Ja, das war auch so, und die Freundin wusste, dass Milena spielt. Aber dann wurde es plötzlich ernst, und sie hat gemerkt: Milena ist wirklich eine Prosti­tu­ierte. Dieser Moment ist jetzt im Film. Die spielt das auf einmal nicht nur, sondern es ist echt. Wo sich Wahrheit, Realität und Fiktion über­kreuzt haben.

GL: Danach bringt die Freundin sie zur S-Bahn …

Lehren­krauss: … wo Milena natürlich nicht nach Hause fährt, sondern woanders hin. Wir haben ihnen gesagt, sie sollen das jetzt nochmal nach­spielen, weil wir wollten, dass sich in dem Moment so schön die S-Bahn ins Bild rein­quetscht und das Ganze ein »One-Taker« wird …

LS: Zentral in der Reportage von »STRG_F« ist auch Heiko, der den Zuhälter Manni im Film darstellt. Den konfron­tieren sie mit dem Material. Und er sagt, dass er ein Schau­spieler ist, so wie Milena auch. Und dass er zwar mal im Rotlicht­mi­lieu war, aber zum Zeitpunkt des Drehs damit nichts mehr zu tun hatte, sondern Haus­meister war.

Lehren­krauss: Ich kannte Heiko schon lange, aber nicht in Bezug auf den Film. Seine Tätigkeit war hinter der Bar in einem Club. Das war nebenan, mein Haus ist fünf Minuten entfernt. Ich bin ab und zu dort vorbei­ge­gangen, hab mich hinge­setzt, und er stand hinter der Bar und hat Gläser abge­wischt. Dort gibt es auch Sexar­bei­te­rinnen, mit denen man aufs Zimmer gehen kann. Er hat die Frauen ab und zu raus­ge­fahren und wieder rein­ge­holt. Im Film ist das also eine Mischung von dem, was er wirklich machte, und aus anderen Prot­ago­nisten.

LS: Wusste er, was da gedreht wird?

Lehren­krauss: Ja. Ich habe ihm von unserem Projekt erzählt. Dass wir einen Doku­men­tar­film machen, aber auch mit insze­nierten Elementen arbeiten. Es war immer klar, dass das ein Doku­men­tar­film ist, das kann mein Kame­ra­mann bestä­tigen. Ich habe niemals das Wort »Spielfilm« in den Mund genommen. Aber ich glaube, die haben uns nicht wirklich ernst genommen. Und dass dieser Film einmal erfolg­reich wird, damit hat keiner gerechnet. Am wenigsten ich.

LS: Wie kam es zu seiner Äußerung über Ritas Hautfarbe?

Lehren­krauss: Ich hatte in Clubs und Bars in der Umgebung – Wolfsburg, Braun­schweig, Hannover – mit Zuhältern gespro­chen. Einige hatten mir erzählt, sie arbeiten nur mit weißen Frauen und stellen keine Schwarzen ein. Das habe ich mit Heiko nach­ge­stellt. Weil es eben eine Geschichte war, die ich erlebt hatte.

LS: Aber jetzt distan­ziert er sich …

Lehren­krauss: Wir haben gedreht, und da war alles okay. Aber der Film hat ihn geärgert. Im Oktober 2019 – da war der Film seit Mai draußen – hat er mir geschrieben: »Also was deine Damen da vom Stapel lassen, vor allem Milena, das geht mal gar nicht.« Also, bei ihm muss ganz klar definiert sein: Er ist Darsteller.

GL: Das hätte man vorher abspre­chen müssen. Aber was ist sein Punkt? Dass er als echter Zuhälter erscheint?

Lehren­krauss: Ich glaube, die Kombi­na­tion war es. Was Milena erzählt, lässt ja sein »Business« bzw. das seiner Freunde nicht im besten Licht erscheinen. Also, es geht nicht um seine Figur, sondern um den Kontext. Ich kann das nach­voll­ziehen. Wie es jetzt ist, tut mir sehr leid, und es bedrückt mich auch. Ich habe immer versucht, ihn zu erreichen, mit ihm zu sprechen, aber er hat dicht­ge­macht.

GL: Dann gibt es noch den Mann, der einen Freier spielt und in der Reportage sagt, er würde jetzt an der Tank­stelle erkannt. Wer ist das?

Lehren­krauss: Das ist Hermann. Er hat neben Heiko gewohnt, im selben Gebäu­de­kom­plex. Hermann hängt halt oft in der Bar ab und trinkt ein paar Bierchen. Ich habe ihm gesagt, dass wir ein Einstel­lungs­ge­spräch drehen. Das war etwas, was ich woanders beob­achtet und dort nach­ge­stellt habe. Hermanns Aufgabe war, Rita als Freier anzu­ma­chen. Aber wie er das macht, war nicht meine Regie­an­wei­sung. Ich habe ihm nicht in den Mund gelegt zu sagen, dass sie große Brüste hat oder ähnliches, das kommt vom ihm.

GL: Wusste er, als was er erscheint, als Schau­spieler oder als er selbst?

Lehren­krauss: Ich habe immer gesagt, es ist ein Doku­men­tar­film, aber eben auch gesagt, wir insze­nieren Sachen nach. Und das war für sie nicht fremd.

GL: Viel­leicht haben sie damit gerechnet, dass die nach­ge­stellten Szenen gekenn­zeichnet werden.

Lehren­krauss: Ich glaube, die haben gar nicht drüber nach­ge­dacht. Weil sie eben nicht dran geglaubt haben, dass dieser Film jemals etwas wird. Und ehrlich gesagt: Wir auch nicht. Und vor allem noch nicht: Wie, und ob das, was wir hier machen, in den Film kommt, und wenn ja, in welcher Form. Denn wir hatten ja auch noch 30 Prozent Material mit Ira, die eben eine echte Sexar­bei­terin ist.

GL: Wie ist es mit den Männern, die die Freier gespielt haben?

Lehren­krauss: Das sind Bekannte von Milena und mir. Mit Paul habe ich vor ein paar Tagen gespro­chen, um mich wirklich nochmal zu versi­chern, ob ich da irgend­etwas übersehen oder über­gangen habe – weil ich dann auch unsicher wurde. Also er hat kein Problem damit. »Früher bin ich halt immer in' Puff gegangen. Doku – ja, voll okay.« Er findet den Film cool. Und bei dem anderen ist das auch so.

GL: Und der Kirchen­mann, der vorbei­kommt und die Frauen bekehren möchte?

Lehren­krauss: Das ist Hao aus meinem Film »Sachliche Romanze« – mein Nachbar! Ich wusste, dass er das manchmal macht, einmal im Jahr oder so. So wie auch die Zeugen Jehovas, aber die wollten nicht mit uns drehen. Hao hatte ein Problem mit Uschi und wollte ihr das sowieso mal sagen. Dann haben wir das Treffen für den Film arran­giert. Die haben sich aber von allein hoch­ge­schau­kelt, ohne Regie­an­wei­sung. Als die Szene vorbei war, haben wir es noch aus verschie­denen Perspek­tiven gedreht, um besser schneiden zu können.

GL: Wie war das denn bei Sachliche Romanze?

Lehren­krauss: Das ist absolute »Fliege an der Wand«. Da war ich eine Studentin, die mit der Kamera zu ihrem Nachbarn rüber­ge­latscht ist und einfach gedreht hat. Ich bin ins Schlaf­zimmer gegangen, die beiden haben gestritten, und ich habe drauf­ge­halten. Da gab es keinerlei Regie­an­wei­sungen, ich habe nur beob­achtet.

LS: Ein weiterer Kritik­punkt bei „STRG_F“ ist der Mord, der in Lovemobil insze­niert wird.

Lehren­krauss: Irgend­wann schickte mir mein Vater einen Zeitungs­ar­tikel, dass eine Frau in der Gegend in einem Lovemobil ermordet wurde. Das fanden wir krass. Da werden Menschen umge­bracht! Das wollten wir im Film wider­spie­geln. Es gab innerhalb von vierzehn Tagen noch einen zweiten Mord. In dem Beitrag von „STRG_F“ wird übrigens behauptet, es hätte nie einen Mord gegeben. Das ist einfach schlecht recher­chiert. Die Zeitungs­ar­tikel und der Fern­seh­bei­trag, die im Film vorkommen, sind echt.

LS: Aber du hast das dann auch drama­tur­gisch verdichtet und fiktio­na­li­siert?

Lehren­krauss: Ich habe Milena erzählen lassen, dass eine Kollegin nebenan ermordet wurde, was nicht stimmt, weil zu dem Zeitpunkt auch viel noch nicht klar und öffent­lich war. Das habe ich gemacht, damit es im Film näher­kommt.

LS: Es wird sugge­riert, dass auch Manni sie kannte.

Lehren­krauss: Die Szene in der Bar hat Heiko/Manni sich selbst ausge­dacht. Wir wussten also auch nicht, wie uns geschieht, als er plötzlich fragte: »Seid ihr von der Polizei?« Und wenn er so guckt, kriegt man richtig Angst. Wir wussten nicht mehr, wer jetzt was spielt.

LS: Ich finde es total legitim, diesen Mord einzu­bauen. Aber dass du eine persön­liche Verbin­dung deiner Prot­ago­nistin damit rein­bringst, ist nochmal eine Gren­zü­ber­schrei­tung.

GL: Es hat ja die Funktion, die Handlung voran­zu­treiben, indem Milena daraufhin sagt: »Ich will hier weg.«

Lehren­krauss: Es war wirklich so: Manche Frauen haben erstmal eine Woche Urlaub genommen und einige sind danach nicht wieder­ge­kommen. Andere haben ganz normal weiter­ge­macht. Aber es war eine span­nungs­ge­la­dene Atmo­sphäre, die für einen Moment durch den Mord entstand … So, wie sie im Film statt­findet. Es ging mir immer um die Authen­ti­zität der Atmo­sphäre.

GL: Dass der Film eine Handlung hat, kommt unserer Erwar­tungs­hal­tung entgegen. Ich mag das auch, muss ich ganz ehrlich sagen. Es ist einfach inter­es­santer, einer Entwick­lung zuzusehen.

Lehren­krauss: Genau. Ich habe überlegt, wie ich mit dieser ganzen Lange­weile umgehe, diesem Warten, Warten, Warten, und nichts passiert in diesem Lovemobil. Dem musste ich eine klare Handlung entge­gen­setzen, sonst hätte das nicht funk­tio­niert. Indem immer wieder Handlung statt­findet, funk­tio­niert die Lange­weile filmisch.

LS: Da sind wir auch beim Schnitt. In der „STRG_F“-Reportage spricht eine Editorin, mit der du gear­beitet hast. Wie war eure Zusam­men­ar­beit?

Lehren­krauss: Ich hatte wahn­sinnig wenig Geld und habe das meiste selbst gemacht. Aber weil ich eben einen Säugling hatte, brauchte ich ein bisschen Unter­s­tüt­zung im Schnitt. Ich habe mit ihr eine Monats­pau­schale verein­bart, bei der sie nebenbei noch an anderen Projekten arbeiten konnte.

LS: Sie erzählt, dass du ihr vor dem Treffen mit dem Redakteur zum Thema Mate­ri­al­samm­lung gesagt hättest: »Wenn er fragt 'ist das echt?', dann ist es echt.«

Lehren­krauss: Davon abgesehen, dass er nicht gefragt hat – kann ich es mir schwer vorstellen, dass ich das gesagt haben soll. Sie kann es nicht beweisen, ich kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen.

LS: Es erscheint sogar so, als ob du sie unter Druck gesetzt hättest.

EL: Wir haben immer auf Augenhöhe kommu­ni­ziert. Und ich war zu der Zeit unsicher mit allem. Sie ist dann aus dem Projekt ausge­stiegen.

LS: Warum?

Lehren­krauss: Im August war sie für zwei Wochen im Urlaub. Dann kam auf einmal eine Rechnung für den ganzen August. Und ich hatte echt nicht so viel Geld, dass ich sie ich auch bezahlen konnte, wenn sie nicht gear­beitet hat. Wir hatten ja schon drei Monate zusam­men­ge­ar­beitet. Bei 5.600 Euro für den gesamten Schnitt ist das ja logisch. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie ist nicht mehr ans Telefon gegangen und hat nicht auf Nach­richten geant­wortet. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen. Und dann habe ich ihr die Hälfte über­wiesen für den August.

GL: In der Reportage ist es so darge­stellt, als wäre sie ausge­stiegen wegen der nicht offen­ge­legten Insze­nie­rung. Um darauf zurück­zu­kommen: Ich kenne es aus jeder Art von Film­för­de­rung so, dass man ohne LOIs von den Prot­ago­nist/innen keine Förderung bekommt. Nun mussten deine Prot­ago­nist/innen bzw. Darsteller/innen auch etwas unter­zeichnen …

Lehren­krauss: Ja, eine Verzichts­er­klärung. »Hiermit gebe ich meine Einwil­li­gung, dass meine Stimme, Bilder, Texte, Videos, Zeich­nungen, Schnitt, Material, Kopien, Aufzeich­nungen (…) etc… ohne Beschrän­kung auf Gebiete veröf­fent­licht werden können.«

GL: Und welche Namen stehen dort?

Lehren­krauss: Die echten: Fareeda und Heiko.

GL: Statt Rita und Manni. Da hätte die Redaktion stutzig werden können.

Lehren­krauss: Es ist natürlich nicht die Pflicht eines Redak­teurs, Regis­seuren detek­ti­visch auf die Schliche zu kommen, wie sie was gemacht haben. Es wäre meine Pflicht gewesen, Timo zu infor­mieren.

GL: Offen­sicht­lich gab es kein Vertrau­ens­ver­hältnis zwischen euch. Wie oft habt ihr euch überhaupt gesehen?

Lehren­krauss: Wir haben uns in der gesamten Zeit nur ein Mal getroffen. Zur Mate­ri­al­sich­tung, in meiner Wohnung. Ich hatte gerade ein Kind gekriegt und dachte, ich muss jetzt alle Spiel­sa­chen wegräumen. Damit man nicht merkt, dass ich ein Kind habe, und ich nicht unseriös erscheine. Hier hängen noch Mobiles, schnell weg damit!

GL: Das sagt viel über Struk­turen und Macht­ge­fälle.

Lehren­krauss: Ja, und dann haben wir zusammen die Mate­ri­al­samm­lung geguckt, 2 Stunden 45 Minuten. Dann hatten wir nur kurz Zeit zu sprechen, und er musste dann auch schon wieder weiter, er stand wahn­sinnig unter Termin­druck, so mein Eindruck. Und unter so einem Zeitdruck kommt keine Atmo­sphäre des »vertrau­li­chen Gesprächs auf Augenhöhe« auf. Er meinte über die 60-jährige Prot­ago­nistin Ira: »Schmeiß die mal raus!« Die fand er nicht gut. Das war für mich total schlimm. Man musste mich wirklich fast auf die Streck­bank legen, damit ich Ira raus­schmeiße. Aber ich habe dann einge­sehen, dass ich keinen 90-Minüter – der jetzt sowieso schon bei 106 Minuten ist – hinkriege mit ihr. Ich müsste einen zwei­ein­halb-Stunden-Film machen, und das war schlichtweg nicht möglich.

GL: Das klingt so, als wäre alles, was du schon gedreht hattest vor der Insze­nie­rung, später raus­ge­fallen. Wieviel davon ist in dem Film überhaupt noch drin?

Lehren­krauss: Außer Uschi sind alle Frauen raus.

GL: Aber warum? War das Material nicht gut genug? Oder entsprach es nicht der Geschichte, die du erzählen wolltest?

Lehren­krauss: Eine Mischung aus allem. Ich wollte eigent­lich ein Kalei­do­skop, in dem auch die Sexar­bei­te­rinnen, die das super gern machen, zu Wort kommen. Timo fand halt Ira nicht so spannend. Und es ist wohl schon so, dass das Elend immer das »Span­nen­dere« ist. Wahr­schein­lich auch bei den Öffent­lich-Recht­li­chen. Und natürlich ist es auch richtig und wichtig, wenn dies thema­ti­siert wird, und das gezeigt wird, was in unserer Gesell­schaft schief­läuft. Aber es braucht auch ein Gegen­ge­wicht.

LS: Du hast gerade bei Rita auch eine starke visuelle und poetische Kraft. Ich weiß nicht, wie die Aufnahmen mit Ira waren, aber das kann auf eine Art auch blenden. Generell geht es ja aber auch um die Darstel­lung von Sexarbeit in dem Film. Es gibt die vehemente Kritik von Sexar­bei­te­rinnen, dass du ihrer Stig­ma­ti­sie­rung Vorschub leistest und dass die Facette von selbst­be­stimmter Sexarbeit volls­tändig fehlt. Wir sehen nur Frauen, die unglück­lich sind und die durch Migration und schreck­liche Umstände da rein­ge­zwungen wurden.

Lehren­krauss: Es ist inter­es­sant, wie sich die Gemüter daran scheiden. Dass Sexar­bei­te­rinnen sagen: »Das ist genauso, wie ich das erlebt hab. Ich habe in einem Lovemobil gear­beitet, und genau so fühlt es sich an.« Natürlich kommt auch Kritik, die ich absolut verstehe. Auch seitens des BeSD (Berufs­ver­band Sexarbeit), mit dem ich ja in Kontakt stehe. Das sind nicht meine Fein­dinnen, im Gegenteil. Ich bin auch pro selbst­be­stimmte Sexarbeit. Nur es ist eben kein Film über Sexarbeit. Das ist ja immer das Problem, wenn der NDR sagt »die Doku über Sexarbeit«. Es ist ein Film über Frauen in einer sehr schwie­rigen Lage. Ich glaube, man müsste die Diskus­sion komplett anders führen, denn auch die Sexar­bei­te­rinnen sind ja gegen diese Form von Ausbeu­tung, die gezeigt wird. Aber das Problem ist, dass das für sie die Reprä­sen­ta­tion ihrer Branche ist, und es kein Gegen­ge­wicht in der Darstel­lung bei den Sendern gibt.

GL: Letzt­end­lich hast du genau das geliefert, was die Öffent­lich­keit sehen will. Natürlich kommt auch der ganze PC-Diskurs rein und die Debatte um Identität usw. Das hast du bereit­willig bedient. Aber es gehören eben immer zwei dazu.

LS: Und was für mich ein wesent­li­cher Punkt ist: Du hast Milena und Rita die Autonomie gegeben, über ihre Reprä­sen­ta­tion selbst zu bestimmen. Sie stehen beide hinter diesem Film.

GL: Dennoch geht es ja um die fehlende Kenn­zeich­nung der fiktiven Insze­nie­rung. Generell gäbe es ja viele Möglich­keiten, es muss nicht eine Einblen­dung »nach­ge­stellte Szene« sein, das ist ja lang­weilig. Aber man kann z.B. eine Regie­an­wei­sung drin lassen oder den Akt der Insze­nie­rung selbst.

Lehren­krauss: Ich war erst dabei heraus­zu­finden, ob das überhaupt funk­tio­niert mit Rita. Ob es glaub­würdig und authen­tisch ist.

GL: Gut, und dann merkst du, es funk­tio­niert. Du weißt aber trotzdem, dass Rita von Fareeda gespielt wird.

Lehren­krauss: Ich hatte das Problem, dass ich diesen Film überhaupt erst mal fertig machen musste.

GL: Du kommst also an die Stelle, wo du merkst: Ich kriege das jetzt nicht hin. Aber das ist ja nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, dass Projekte nicht recht­zeitig fertig werden. Auch dass man auf Probleme stößt im Doku­men­ta­ri­schen und einem die Prot­ago­nistin abspringt – damit hätte Timo Großpietsch wahr­schein­lich umgehen können. Das sind norma­ler­weise Dinge, die man mit dem Redakteur oder der Redak­teurin bespricht. War dein Gefühl, dass du damit nicht zur Redaktion gehen kannst?

Lehren­krauss: Ich hatte die Abga­be­frist schon maximal verschoben, auch bei der Nordmedia. Ich musste definitiv fertig werden. Aber ich möchte nichts Schlechtes über Timo sagen, weil es mir ja auch gefallen hat, dass er nicht so ein Kontroll­freak war und mir Freiraum gelassen hat. Aber er war eben für wichtige, grund­le­gende Fragen zeitlich nie greifbar. Er hatte auch viele andere Projekte zu betreuen und hat selbst einen Film gedreht. Zum Beispiel bei der Rohschnitt-Abnahme: Da sollte ich nach Hamburg kommen. Und dann rief er am selben Tag an – ich war schon angereist! – und hat wieder abgesagt. So war es eigent­lich immer. Wir waren verab­redet, es wurde abgesagt. Wenn es diese Kommu­ni­ka­tion nicht gibt, kommt man nicht zu einer Atmo­sphäre, in der man mal ruhig am Tisch sitzt und redet. Weil immer alles schnell gehen muss. Nur geil, geil, geil, schnell, schnell, schnell. Ich hatte das Gefühl, ich musste die ganze Zeit nur liefern, ohne jemals Probleme oder Schwie­rig­keiten anspre­chen zu können. Und vor allem: ich hatte nicht das Gefühl, dass wir auf Augenhöhe kommu­ni­zieren. Viel­leicht ist das auch nur meine Wahr­neh­mung, ohne dass es von anderer Seite so gemeint war, aber ich hab mich schon immer sehr überrollt gefühlt und nicht ernst­ge­nommen. Und dann eben der Druck, liefern zu müssen, weil ich selbst auch Produ­zentin war.

GL: Warum eigent­lich?

Lehren­krauss: Finde mal eine Produk­tion für einen Film über Prosti­tu­ierte in Nieder­sachsen, wo keiner weiß, was daraus wird. Da steigt keiner ein. Ich habe ein paar Produ­zenten ange­schrieben, aber dann gedacht: Okay, muss auch nicht sein. Was ist da groß zu produ­zieren? Da sind mein Kame­ra­mann und ich vor Ort, und dann wird irgend­wann geschnitten. Mit einem Produ­zenten müsste man auch noch kommu­ni­zieren, und wir wussten selbst noch nicht, wo die Reise hingeht.

GL: Hast du das viel­leicht unter­schätzt mit der Produk­tion?

Lehren­krauss: Es war eben nicht so, dass mir der Stoff aus den Händen gerissen wurde. Ich bin vom Typ her nicht wirklich die Produ­zentin. Ich bin mehr die Filme­ma­cherin, die sich auch in ihrer Welt verliert.

GL: Und der ganze Film ist letzt­end­lich mit einer Finan­zie­rung für 50 Minuten gemacht worden? Das ist doch in mehr­fa­cher Hinsicht, finan­ziell und künst­le­risch, ein Unter­schied: zwischen Doku und Doku­men­tar­film. Das muss man doch mit der Redaktion an irgend­einer Stelle bespro­chen haben.

Lehren­krauss: Am Anfang war Barbara Denz unsere Redak­teurin, die ging dann in Rente, und Timo Großpietsch kam. Wir waren ja auf dem Doku­men­tar­film-Sende­platz, das war das Absurde. Ich glaube, weil dieser Sende­platz mehr Geld zur Verfügung hatte. Nach den Problemen mit der Editorin habe ich Timo angerufen, weil ich eine Nach­fi­nan­zie­rung für den Schnitt brauchte und hab 9.000 Euro Nachschub bekommen.

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Nach dem Interview haben wir von Elke Lehren­krauss die Verträge mit Nordmedia und NDR für Lovemobil erhalten. In dem Ende 2015 (nicht wie vom NDR auf der Website behauptet 2014) abge­schlos­senen Verträgen sucht man das Wort Doku­men­tar­film vergeb­lich. Im Vertrag der Kultur­wirt­schaft­li­chen Film- und Medi­en­för­de­rung der nordmedia für ein »erfolgs­be­dingt zurück­zahl­bares Darlehen in Höhe von 50.285,16 €« wird von »Anteils­fi­nan­zie­rung der Kosten für die Herstel­lung des 50-minütigen Films« gespro­chen, im Vertrag über Aufsto­ckungs­mittel in Höhe von 27.674,90 € netto durch den NDR wird sogar nur von »Produk­tion« gespro­chen. Im November 2019, über ein halbes Jahr nach seiner Premiere und nach einer erfolg­rei­chen Festi­val­tour spricht der NDR im Vertrags­nach­trag von einer »Fern­seh­pro­duk­tion mit dem Arbeits­titel 'Lovemobil'«. Für 9.345,80 € netto erhält der NDR in diesem Vertrags­nach­trag »abwei­chend vom Produk­ti­ons­ver­trag für o.g. Produk­tion [...] eine Sende­fas­sung in einer Länge von ca. 106 Minuten«. »Die ursprüng­liche Sendelänge betrug ca. 50 Minuten.« Darüber hinaus bekommt der NDR nach der Ausstrah­lung die Streaming-on-Demand-Rechte für 90 statt für 45 Tage.

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GL: Was stand denn in dem Exposé, das du ganz am Anfang einge­reicht hast?

Lehren­krauss: Von der Stimmung und der Atmo­sphäre her war das nahe an dem Film, wie er jetzt ist, aber mehr noch ein Kalei­do­skop, in dem verschie­dene Posi­tionen zu Wort kommen. Und es war expe­ri­men­teller bzw. essay­is­tisch angelegt.

LS: Das ist wirklich inter­es­sant, dass ihr Förderung für einen expe­ri­men­tellen Film beantragt habt!

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Im Exposé, das die Grundlage für alle Förder­ver­träge, sowohl für das Kurz­film­sti­pen­dium als auch für die »50-minütige Produk­tion« von Lovemobil bildete, wird der expe­ri­men­telle Ansatz des Projekts wie folgt beschrieben:

»Ich möchte die Ton-Bild-Schere stra­pa­zieren, filmische Brüche provo­zieren und versuchen, Abstrak­tions- und Asso­zia­ti­ons­ebenen zu schaffen. Im Gegensatz zu den intimen Erzäh­lungen meiner Prot­ago­nis­tinnen stehen auf zweiter Ebene die Zeitungs­be­richte und Poli­zei­akten, die von den krimi­nellen Vorfällen und unge­klärten Verbre­chen berichten. Sie werden von einer anonymen Stimme einge­spro­chen.«

»Zusammen ergeben diese Elemente eine drama­tur­gi­sche Collage auf der Tonebene, die den Film struk­tu­riert. Ausgehend von diesen verschie­denen Perspek­tiven, und durch ihr Zusam­men­fließen oder ihre Abstoßung, kann dem Film bereits auf der Tonebene eine wahr­haf­tige Orts­be­schrei­bung gelingen.«

»Durch die Paral­le­lität und Zusam­men­kunft der verschie­denen Elemente erleben wir den Ort auf eine andere Weise. Ich glaube, dass sich durch eine eingen­wil­lige Erzähl­struktur inter­es­sante Rück­schlüsse auf dezente, asso­zia­tive Weise provo­zieren lassen. Der Film legt es dabei nicht darauf an, eine wertende Aussage über den Ort zu treffen. Er möchte primär versuchen, ihn auf authen­ti­sche Art zu begreifen.«

Im zusätz­li­chen Moti­va­ti­ons­schreiben für den Langfilm schreibt Elke Lehren­krauss:

»Durch den Film soll das Lebens­ge­fühl der Frauen in den Liebes­mo­bilen visuell und emotional mit aller Wucht erfahrbar werden. Deshalb soll der Film weitest­ge­hend szenisch erzählt werden. Denn eine Geschichte ist für mich erst spannend, wenn wir die Betei­ligten dabei erleben können, wie sie eine Situation meistern und dabei um ihre Gefühle ringen, als sie in einem Interview vor der Kamera dazu reflek­tieren zu lassen .«

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GL: Und dein Gefühl war, dass es bei der Redaktion keine Offenheit gab zur Offen­le­gung der Insze­nie­rung? Hast du das Timo gegenüber mal versucht zu fragen oder ange­deutet?

Lehren­krauss: Ich habe immer mal so vorge­fühlt: »Wir haben arran­giert.« Das wurde dann so ein bisschen wegge­wischt, war mein Eindruck. In meiner Pres­se­mit­tei­lung, die ich an die Redaktion geschickt hab, hatte ich geschrieben: Es ist eine künst­le­ri­sche, doku­men­ta­ri­sche Form und keine jour­na­lis­ti­sche Doku­men­ta­tion Und dann habe ich gesagt, das muss mit in die Programm­an­kün­di­gung, es ist keine Doku­men­ta­tion! Ich habe darauf bestanden, und sie haben es nicht gemacht. »Das verstehen unsere Zuschauer nicht«, wurde mir gesagt. Hätte ich den Film als Hybrid gekenn­zeichnet abgegeben, die hätten ihn mir rechts und links um die Ohren gehauen. Also, ich weigere mich zu glauben, dass sie ihn so genommen hätten. Da steht Aussage gegen Aussage: Timo sagt, er hätte keine Probleme mit einem Hybrid. Aber sein Chef sagt das Gegenteil: »Doku­men­tar­film ist die Abbildung der Realität.«

LS: Dabei habe ich gerade beim NDR in den letzten Jahren gedacht: Wow, was da alles entsteht! Während der BR alles runter­fährt, kommt beim NDR eine Produk­tion nach der anderen und du lernst lauter neue Filme­ma­che­rinnen und Filme­ma­cher kennen. Da ist so viel entstanden. Aber dann merkst du auch, dass diese Redaktion personell ausge­dünnt ist, dass sie etwas leistet, was gar nicht zu schaffen ist. Ich fände es schlimm, wenn im Ergebnis dieser Geschichte die Doku­men­tar­film­re­dak­tion des NDR Schaden nähme.

GL: Wir reden ja auch nicht über Personen, wir reden über ein System. Aber wie geht es mit dem Film weiter?

Lehren­krauss: Er läuft ab Juni in der Blue Box im Sprengel Museum in Hannover. Also im Kunst­kon­text, wo er auch meiner Meinung nach sehr gut hinpasst. Da geht es um das Doku­men­ta­ri­sche und darum, dass in der Foto­grafie schon immer insze­niert wurde. Erweitert um das Filmische. Bei Robert Capa, mit dem ster­benden Soldaten, geht es los – dass die Wirk­lich­keit immer für die Kamera herge­stellt wurde.

GL: Das heißt, du bist auch bereit, dich dem in dem Kontext zu stellen?

Lehren­krauss: Auf jeden Fall, jetzt kann ich endlich drüber reden. Zwei Jahre lang habe ich mich durch die Foren gemogelt und immer gedacht: Naja, ich habe das, was ich insze­niert habe, wirklich so erlebt – nur mit anderen Prot­ago­nist/innen, um mich vor mir selbst zu recht­fer­tigen. Das fühlte sich alles richtig schlecht an. Ich habe es dann aber durch­ge­zogen, weil ich es irgendwie nicht mehr sagen konnte. Ich hätte so gern diese span­nenden Diskus­sionen geführt. Es war ein Krampf, der mich ermüdet hat. Man merkt das viel­leicht auch in den Inter­views. Und jetzt wäre es gut, wenn man auch andere Diskus­sionen führen kann. Wie geht man mit einer Prot­ago­nistin um, die man schützen muss? Wie bringt man etwas auf die Leinwand, was nicht abbildbar ist? Wie geht man mit Insze­nie­rung im Doku­men­tar­film um? Insze­nie­rung oder hybride Form ist nicht grund­sätz­lich mein Konzept beim Filme­ma­chen, sondern war nur bei Lovemobil der passende Ansatz.

Und ich möchte zum Schluss noch klar­stellen: Ich bin keine Regis­seurin, die ihre Prot­ago­nist/innen benutzt. Das finde ich die fieseste Behaup­tung bisher. Ich bin mit allen drei Prot­ago­nis­tinnen in sehr gutem Kontakt. Sie wussten immer, es ist als Doku­men­tar­film gelabelt. Bei Heiko ist es schief­ge­laufen, aber bei den Frauen, mit denen ich gedreht habe, war es nicht so. Dass das jetzt so darge­stellt wird aufgrund von Falsch­mel­dungen, finde ich schlimm und möchte es hier rich­tig­stellen.