»Das Wort liegt im Auge – daran glaube ich« |
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Philippe Lioret | ||
(Foto: © temperclayfilm) |
Das Gespräch führte Ludwig Sporrer
Philippe Lioret wurde 1955 in Paris, Frankreich geboren. 1993 drehte er seinen ersten Spielfilm Tombés du ciel mit Jean Rochefort und Marisa Paredes in den Hauptrollen, für den er beim Festival International de Cine de Donostia-San Sebastian den Preis für die Beste Regie gewann. Nach einigen Werbefilmen folgten 1997 Tenue correcte exigée, 2000 Mademoiselle und 2004 Die Frau des Leuchtturmwärters mit Sandrine Bonnaire. 2006 wurde Lioret für Keine Sorge, mir geht’s gut (Je vais bien, ne t'en fais pas) mit dem Étoile d’Or als „bester Drehbuchautor“ ausgezeichnet. Welcome, der 2009 auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte und sich mit der schwierigen Situation illegaler Immigranten in Calais auseinandersetzt, erregte großes Aufsehen und wurde u.a. mit dem Preis der Ökumenischen Jury auf der Berlinale und dem Lux Filmpreis des Europäisches Parlaments ausgezeichnet. 2014 erhielt Lioret die Auszeichung „Officier de l’ordre des Arts et des Lettres“ des französischen Kulturministeriums verliehen.
artechock: Die kanadische Reise ist Ihr achter Film und basiert lose auf dem Roman Si ce livre pouvait me rapprocher de toi von Jean-Paul Dubois. Können Sie mir erzählen, wie Sie den Roman für Ihren Film adaptiert haben?
Philippe Lioret: Das ist eine lange Geschichte, die vor über zehn Jahren begann, als ich den Roman zum ersten Mal gelesen habe. Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Da lag etwas in der Luft, das ich sehr liebte. Aber ich glaubte nicht, dass ich aus der Geschichte einen Film machen könnte, denn es gab weder ein Drama, noch gab es wirkliche Charaktere, und es war mir auch nicht persönlich genug. Deswegen sagte ich erstmal nein und drehte zwei andere Filme [Welcome, All Our Desires].
artechock: Der Roman beschäftigte Sie aber weiterhin?
Lioret: Ja, mit der Zeit kam mir die Idee, meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich wollte sie aber nicht direkt erzählen, ich wollte meine eigene Geschichte hinter etwas verstecken. Deswegen habe ich die Geschichte nach Kanada verlegt. Durch meine Tante, die in Québec lebte, war ich in meiner Kindheit oft in Kanada. Ich liebe dieses Land; durch seine schiere Größe, seine atemberaubende Natur ist es ein eigener Handlungsträger, ein Amerika, das mir durch die französische Sprache und Kultur sehr nah ist, aber durch das Amerikanische gleichzeitig fremd ist.
Beim erneuten Lesen des Romans wurde mir bewusst, dass ich die Struktur des Buches verwenden kann, um mit ihr meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich kaufte die Filmrechte an dem Buch und schrieb dann eine andere Geschichte. Ohne das Buch hätte ich den Film aber nicht drehen können. Es war ein merkwürdiger Gedankenprozess. Es war für mich nicht anders möglich. Als Jean-Paul [Dubois] das Drehbuch gelesen hatte, sagte er lachend zu mir, »gut, mach den Film, ich schreibe das Buch danach, von meinem Roman ist ja nichts mehr da«.
Québec gab mir auch die Möglichkeit mit drei Schauspielern zusammenzuarbeiten, die ich sehr verehre. Gabriel Arcand ist der beste Schauspieler, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Das ist zwar nicht sehr nett gegenüber den anderen Schauspielern, aber er hat ein wirklich beeindruckendes Charisma. Denn bevor du ein guter Schauspieler werden kannst, musst du erst eine richtige Persönlichkeit entwickeln. Catherine De Léansie hat alles, was man von einer Frau erwarten kann, sie besitzt eine äußere wie innere Schönheit und ist gleichzeitig eine Frau zum Pferdestehlen. Und Marie-Thérèse Fortin, die Mutter, hat eine unglaubliche Raffinesse in ihrem Spiel.
Alle drei verändern sich beim Drehen nicht. Du sprichst mit ihnen und dann drehst du [imitiert die Bewegung einer Filmklappe] und sie bleiben unverändert. Sie sind alle in ihrer Rolle und gleichzeitig immer sie selbst. Wenn ich könnte, würde ich alle meine Filme nur noch mit den Dreien machen, aber dann müsste ich auf Grund ihres Akzents alle meine Filme in Kanada drehen.
artechock: In Ihren Filmen spielen väterliche Figuren häufig eine wichtige Rolle. Warum beschäftigt Sie dieses Thema so?
Lioret: Dieses Thema beschäftigt uns alle. Jeder hat einen Vater. Im Jüdischen gibt es eine Redensart, die Mutter ist sicher, der Vater vielleicht. Und es ist wirklich meine Geschichte, die Geschichte meines Vaters. Wer ist mein Vater? Ist dieser Kerl mein Vater oder ist es der? Es war eine wichtige Frage für mich. Es ist merkwürdig. Ich war mir sicher, ich bin allein in der Welt. Aber in jeder Vorführung des Films sagten mir Menschen, das ist ihre Geschichte. Und ja, Die kanadische Reise ist mein persönlichster Film.
artechock: Das spürt man… und es berührt…
Lioret: Ja, wenn man persönliche Filme macht, kann man alle berühren. In meinen Filmen, besonders in diesem, wollte ich nicht manipulieren. Ich wollte, dass das Publikum im Film ist und nicht einfach nur vor der Leinwand. Das ist harte Arbeit. Wenn man arbeitet und das Publikum diese Arbeit spürt, ist es nicht gut. Man muss sehr intensiv arbeiten, damit das Publikum diese Arbeit nicht bemerkt. Denn für mich ist diese Art von Film ein Geschenk an den Zuschauer. Man muss den Film fühlen, wenn man aber die Arbeit des Drehbuchautors, des Regisseurs und der Schauspieler sieht, dann ist es wie ein Geschenk, auf dem das Preisschild noch klebt. Ein Film sollte natürlich sein. Okay, es ist Fiktion und okay, es ist nicht die Wahrheit. Trotzdem würde ich mir so sehr wünschen, dass die Menschen sich in die Geschichte einfühlen können, als wäre es ihre eigene Geschichte. Ich bin mir sicher, dass beim Filmemachen das Identifizieren an erster Stelle steht. Wenn man sich nicht identifizieren kann, ist es kein Film. Das ist im Theater und in der Literatur anders. Wenn ich es schaffe, dass sich die Zuschauer nur zehn Minuten in die Figur versetzen können, bin ich glücklich.
artechock: Ähnlich wie in Keine Sorge, mir geht’s gut enträtselt sich der Film erst ganz zum Schluss. Während des Films bleibt vieles unausgesprochen, dafür wird viel über Gesten und Blicke ausgetauscht. Es gibt so eine schweigende Beredsamkeit.
Lioret: Ich mag es, wenn die Zuschauer sich nicht passiv im Kino verhalten, sie sollen auch beobachten und Fragen stellen. Das ist Teil einer notwendigen Reflexion. In den letzten Jahrzehnten hat das Fernsehen eine neue Art des Filmemachens etabliert. Den Drehbuchautoren wird gesagt, die Zuschauer müssen die Geschichte auch während des Abspülens des Geschirrs verstehen können. Im Kino sitzt das Publikum in einem dunklen Raum und hat deine gesamte Aufmerksamkeit. Wenn du es dann die ganze Zeit an der Hand nimmst, ihm alles zu jeder Zeit ins Ohr flüsterst, verliert das Kino etwas Wesentliches. Der Zuschauer muss seinen Anteil an der Geschichte haben. Das Wort liegt im Auge, hat Brel in Les marquises gesagt. Daran glaube ich.
artechock: Die kanadische Reise ist trotz der durchgängig unterschwelligen Spannung ein feinfühlig inszeniertes Familiendrama der leisen Töne. Der mysteriöse Tod des Vaters, seine verschwundene Leiche und die vielen Familiengeheimnisse könnten genauso gut der Plot eines Krimis sein. Was können wir von Ihren zukünftigen Filmen erwarten?
Lioret: Ich erzähle gerne Familiengeschichten. Momentan plane ich zwei Filme, zum einem einen sehr großen Film, der auf einer wahren Geschichte basiert, die in der Zeit des Eiffelturmbaus spielt. Es ist die Geschichte eines jungen irischen Arbeiters, der aus Chicago nach Paris gekommen ist, um mit vielen anderen Arbeitern den Eiffelturm zu bauen und der Tochter eines Mannes, der das Grundstück, auf dem der Eiffelturm errichtet werden soll, gekauft hat, um den Bau zu verhindern. Ich möchte diesen Film unbedingt machen, aber er ist sehr schwer zu finanzieren, da er sehr teuer ist. Das andere Projekt ist ein kleiner Film und erzählt die Geschichte von Romeo und Julia im heutigen Frankreich, nur dass die Capulets und die Montagues zu verschiedenen Pariser Communities gehören, zur arabischen und zur französischen Bevölkerungsgruppe.