F/Kanada 2016 · 98 min. · FSK: ab 6 Regie: Philippe Lioret Drehbuch: Philippe Lioret, Natalie Carter Kamera: Philippe Guilbert Darsteller: Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand, Catherine De Léan, Marie-Thérèse Fortin, Pierre-Yves Cardinal u.a. |
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Reden bringt Klarheit |
Unaufgeregt und trotzdem hintergründig geht Regisseur Philippe Lioret seinen Charakteren auf den Grund. Manchmal werden sie von festen Grenzen gebremst wie in Tombés du ciel (1993) oder Welcome (2009), manchmal treffen sie auf unsichtbare Bande oder unausgesprochene Hemmnisse wie in seinem aktuellen Werk Die kanadische Reise. Familienbande und -geheimnisse spielen ebenso häufig eine entscheidende Rolle, wie etwa in Die Frau des Leuchtturmwärters (2004). So muss auch der Protagonist von Le fils de Jean (»Jeans Sohn«), so der Originaltitel der kanadischen Reise, einen nicht nur räumlichen, sondern ebenso biografischen Weg einschlagen, um der eigenen Historie auf die Spur zu kommen.
In der Adaption eines Romans von Jean-Paul Dubois entscheidet sich der Pariser Angestellte Mathieu Capelier (Pierre Deladonchamps) zum Flug nach Montreal. Eigentlich wollte ihm ein Unbekannter nur ein Paket in Erinnerung an seinen ihm unbekannten Vater Jean zusenden. Kurzerhand beschließt Mathieu, nach Kanada zu dessen Beerdigung zu reisen und dort mit Pierre Lesage (Gabriel Arcand) in Kontakt zu treten, einen engen Vertrauten seines offensichtlich verunglückten Vaters.
Gemeinsam mit Mathieu begibt sich der Zuschauer auf eine Recherche zu dessen Identität. Wie in einem Puzzle fügen sich erst im Verlauf verschiedene Details zusammen, wobei es letztlich dem Zuschauer überlassen bleibt, das restliche Bild zu vervollständigen. Zunehmend spielt das Unausgesprochene eine entscheidende Rolle. Mathieu erfährt, dass er das Ergebnis eines Seitensprungs seiner in einem Pharmakonzern tätigen Mutter mit einem populären Arzt war, er zwei zerstrittene Halbbrüder hat und sein Vater vermutlich bei einem Angelunfall ums Leben kam. Letztlich führt der Wunsch nach jenen Geschwistern, die er zeitlebend nie besaß, zu einem unerwarteten Resultat.
Lioret inszeniert Darsteller Pierre Deladonchamps bei seiner Ankunft in dem ihm unbekannten Land als einsamen, verlorenen Passagier, als er den jungen Mann in einer Totalen in einem Café am Rand platziert. Das Finale kontrastiert diese Einstellung, wenn sich Mathieu beim Abschied innerhalb einer Gruppe vertrauter Menschen bewegt. Pierre Lesages Familie liefert das Gegengewicht zu den zerrütteten Verhältnissen des restlichen Personals. Längst trennte sich Mathieu von seiner Frau und sieht seinen Sohn häufig nur noch an den Wochenenden. Jeans Söhne Ben und Pablo liegen aufgrund materieller Dinge oft im Clinch und reagieren rasch aggressiv. Dagegen freundet sich Hobbyschriftsteller Mathieu mit Pierre, seiner krimibegeisterten Frau Angie und deren attraktiver Tochter Bettina an, die ihrerseits vor der Geburt ihrer Töchter verlassen wurde. Verantwortung zu übernehmen erweist sich als Hemmnis; vor ihr schrecken die meisten Charaktere, ob sichtbar oder unsichtbar, letztlich zurück.
Wo er in seinem Debüt Tombés du ciel trotz aller Tragik noch auf Comedy-Elemente baute, bevorzugte Philippe Lioret in seinen späteren Arbeiten einen eher zurückhaltenden, leisen Humor. Bei der Inszenierung schlägt er einen gewohnt unaufdringlichen, subtilen Stil an, was von den nuancierten Darstellerleistungen und reduziert eingesetzten Pianomotiven getragen wird. Gegenstände wie ein vererbtes, wertvolles Gemälde sowie ein Stethoskop oder Blicke im Rückspiegel sagen am Ende mehr über die Beziehungen aus als langwierige Diskussionen. Jenseits aller Handgreiflichkeiten und Zurechtweisungen müssen die Charaktere der kanadischen Reise die intime Kommunikation erst noch lernen.