Drahtseilakt zwischen Glaube und Gewissen |
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Paar ohne Zukunft: Kalyani (Lisa Ray) und Narayan (John Abraham) |
Mit Deepa Metha sprach Karl Hafner
artechock: In Ihrem neuen Film Water schildern Sie die aussichtslose Lage indischer Witwen, die wie Gefangene isoliert von der Gesellschaft in einem Frauenhaus leben müssen. Die Frauen gehen vollkommen unterschiedlich mit ihrer Situation um.
Deepa Mehta: Ich wollte verschiedene Aspekte davon zeigen, wie Menschen mit religiösem und sozialem Dogmatismus zurechtkommen. Madhumati, die Matriarchin des Hauses, ist traditionsbewußt und sehr streng zu den anderen Frauen. Sie verstärkt dadurch das Übel. Man darf jedoch nicht vergessen, dass auch sie Opfer der Umstände ist. Kalyani, die als Prostituierte arbeiten muss, will sich arrangieren, schafft es aber nicht. Sie ist etwas
naiv, doch diese Naivität bietet ihr Schutz. Sie kommt nur zurecht, weil sie ihre schlimme Situation religiös überhöht. Kalyani sieht sich als unberührte Lotusblüte umgeben von schmutzigem Wasser. Dieser Ausdruck stammt aus einem heiligen Buch und hat deshalb genug Substanz für sie. Nur deshalb kann sie sich in einen Juristen verlieben, dessen Lebensumstände ja vollkommen andere sind. Natürlich ist diese Überhöhung ein Drahtseilakt.
Für mich ist allerdings die dritte Frau,
Shakuntala, der Kern des Films. Durch sie versuche ich mein Anliegen als Filmemacherin zu vermitteln. Ich will den Konflikt zwischen Gewissen und Glauben thematisieren. Shakuntalas Glaubenskrise bringt den Film zu einem Ende. Weil sie auf ihr Gewissen hört, kann sie Dinge zum Guten wenden.
artechock: Die junge Witwe Kalyani muss sich prostituieren, um das Überleben des gesamten Witwenhauses zu sichern. Trotzdem wird sie von den anderen Frauen verachtet und drangsaliert.
Mehta: Das passiert. So ist die Wirklichkeit. Wenn man Frauen in ein Gefängnis steckt und glaubt, sie seien dort nett zueinander – dann täuscht man sich. Man wird in so einer Situation immer eine Person suchen, der man die Schuld für alles aufhalsen kann. Indem die andern Witwen Kalyani demütigen, können sie sich überlegen fühlen, zumindest moralisch. Ich habe damit versucht, die Häßlichkeit zu zeigen, die Teil von uns Menschen ist.
artechock: Am Ende des Films heißt es, solche Witwenhäuser würde es auch heute noch geben. Warum lassen Sie Ihre Geschichte in der Vergangenheit, in den Dreißigerjahren, spielen?
Mehta: Vor allem aus praktischen Gründen. Es gibt heute zwar noch Witwenhäuser, aber die Zwangsheirat von Kindern ist nicht mehr verbreitet. Dadurch gibt es auch keine Kinderwitwen mehr, die mit sieben oder acht Jahren in ein Witwenhaus gesperrt werden. Meine Hauptfigur sollte die achtjährige Chuyia sein, weil mir der kindliche Blick auf dieses Thema wichtig war. Diese Perspektive verurteilt nicht und ist zudem sehr unpolitisch. Von Kindern bekommt man jedoch aufrichtige Reaktionen auf unlogische Umstände. Wenn ich die Geschichte im Heute erzählt hätte, wäre das absolut manipulativ und auch nicht ehrlich gewesen.
artechock: Sie wollten Water schon vor einigen Jahren drehen, mussten den Dreh in Indien aber abbrechen, weil religiöse Fundamentalisten das Filmset angegriffen haben. Wurden Sie von offizieller Seite nicht geschützt?
Mehta: Die Menschen, die protestiert haben, waren ja der kulturelle Arm der Regierung. Man hat zwar vordergründig so getan, als wolle man uns beschützen. Das war ein reiner Witz. Sie haben 300 Mitglieder der indischen Armee aufs Filmset geschickt – mit Maschinengewehren. Sie haben wirklich alles dafür getan, dass wir da nicht mehr arbeiten konnten. Irgendwann wurde der Dreh von der örtlichen Regierung aus Sicherheitsgründen gestoppt.
artechock: Sie haben Water dann beinahe fünf Jahre später in Sri Lanka neu gedreht. Warum nicht mehr in Indien?
Mehta: Als unser Drehort damals geschlossen wurde, war das sehr dramatisch für uns. Es hat uns vollkommen aus der Fassung gebracht. Wir hatten ja eine Drehgenehmigung, wir hatten alles richtig gemacht. Es war alles so unlogisch. Ich war schrecklich wütend. Zwei andere indische Provinzen haben uns zwar eingeladen, bei ihnen weiter zu drehen. Dort hätten sie uns wohl wirklich beschützt vor den rechten Fundamentalisten. Zumindest eine der Provinzen war kommunistisch. Aber manchmal hat man einen Moment der Klarheit. Als ich am Dreikönigstag durch Kalkutta lief auf der Suche nach neuen Locations, erkannte ich, dass mit diesem Film irgendetwas nicht mehr stimmt. Was nicht mehr stimmte, war natürlich ich. Ich wollte den Film nur noch aus falschen Gründen machen. Es ging mir nicht mehr um Water, sondern nur noch darum, es den Fundamentalisten zu zeigen. Wenn ich den Film damals gemacht hätte, wäre er verzerrt worden von meiner Wut. Ich will zwar eine leidenschaftliche Regisseurin sein, aber keine wütende. Ich habe dann andere Filme gemacht. Irgendwann war die Wut weg, ich fühlte mich nicht mehr als Opfer und sagte: Lasst es uns noch einmal versuchen! In Indien wollte uns niemand mehr versichern, weil wir beim ersten Mal das ganze Geld verloren hatten. Also gingen wir nach Sri Lanka. Es wurde ein wunderschöner Dreh. Ohne Wut, ruhig und friedlich. Und ohne Politik. Die Kombination von Kunst und Politik ist schrecklich.
artechock: In der Zwischenzeit haben sie mit Bollywood/Hollywood eine romantische Komödie gedreht. Anscheinend hat Indien hat nach der Spiritiualität in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit dem Bollywood-Kino einen neuen Export-Schlager. Warum kommt Bollywood im Westen derzeit so gut an?
Mehta: Ich glaube, das hängt in beiden Fällen mit dem politischen Klima im Westen zusammen. Die Hippie-Bewegung begann ja unter anderem, weil die Menschen durch den Vietnam-Krieg desillusioniert waren. Auf einmal hat man versucht, einen neuen Lebenssinn zu finden und ging dafür nach Indien. Mit dem Bollywood-Kino ist es so ähnlich, glaube ich. Der Westen lebt derzeit in der Angst, dass der 11. September die Welt grundlegend verändert hat. Man hat Angst vor dem Unbekannten, vor dem Fremden, vor dem Fundamentalismus. Und da kommt Bollywood und bietet drei Stunden totale Unterhaltung, in denen überhaupt nichts von einem erwartet wird. Man darf sich verlieren in den Farben, den Liedern, den Tänzen und muss über nichts nachdenken, was einen Gedanken wert wäre. Bollywood ist wie eine Art Fast Food.
artechock: Ist es nicht schade, dass man im Westen derzeit fast ausschließlich Bollywood-Filme als indisches Kino wahrnimmt?
Mehta: Nein. Ich mag Bollywood ja selber. Sie sprechen mit jemandem, der bekehrt wurde. Bollywood wird im Westen bald wieder verschwinden. Ob es gut für Indien ist, weiß ich nicht. Vielleicht beraubt es Indien seiner Komplexität, weil es so tut, als wären Probleme dort so einfach zu lösen wie in einem Cartoon. Im Westen will man nicht wirklich über sich selbst nachdenken, also schauen die Menschen nach Indien. Eine Art Spiritualität zu suchen durch Instant-Meditation mit Instant-Befriedigung, ist ja immer einfach. Jetzt zieht man eben indische Kleider an und macht Gesangs- und Tanznummern nach. Das ist schon ein Witz.