14.09.2006

Drahtseilakt zwischen Glaube und Gewissen

Kalyani und Narayan am Wasser
Paar ohne Zukunft: Kalyani (Lisa Ray) und Narayan (John Abraham)

Die indische Regisseurin Deepa Mehta über ihren neuen Film Water, Bollywood und Spiritualität.

Mit Deepa Metha sprach Karl Hafner

artechock: In Ihrem neuen Film Water schildern Sie die aussichts­lose Lage indischer Witwen, die wie Gefangene isoliert von der Gesell­schaft in einem Frau­en­haus leben müssen. Die Frauen gehen voll­kommen unter­schied­lich mit ihrer Situation um.

Deepa Mehta: Ich wollte verschie­dene Aspekte davon zeigen, wie Menschen mit reli­giösem und sozialem Dogma­tismus zurecht­kommen. Madhumati, die Matri­ar­chin des Hauses, ist tradi­ti­ons­be­wußt und sehr streng zu den anderen Frauen. Sie verstärkt dadurch das Übel. Man darf jedoch nicht vergessen, dass auch sie Opfer der Umstände ist. Kalyani, die als Prosti­tu­ierte arbeiten muss, will sich arran­gieren, schafft es aber nicht. Sie ist etwas naiv, doch diese Naivität bietet ihr Schutz. Sie kommt nur zurecht, weil sie ihre schlimme Situation religiös überhöht. Kalyani sieht sich als unberührte Lotus­blüte umgeben von schmut­zigem Wasser. Dieser Ausdruck stammt aus einem heiligen Buch und hat deshalb genug Substanz für sie. Nur deshalb kann sie sich in einen Juristen verlieben, dessen Lebens­um­stände ja voll­kommen andere sind. Natürlich ist diese Über­höhung ein Draht­seilakt.
Für mich ist aller­dings die dritte Frau, Shak­un­tala, der Kern des Films. Durch sie versuche ich mein Anliegen als Filme­ma­cherin zu vermit­teln. Ich will den Konflikt zwischen Gewissen und Glauben thema­ti­sieren. Shak­un­talas Glau­bens­krise bringt den Film zu einem Ende. Weil sie auf ihr Gewissen hört, kann sie Dinge zum Guten wenden.

artechock: Die junge Witwe Kalyani muss sich prosti­tu­ieren, um das Überleben des gesamten Witwen­hauses zu sichern. Trotzdem wird sie von den anderen Frauen verachtet und drang­sa­liert.

Mehta: Das passiert. So ist die Wirk­lich­keit. Wenn man Frauen in ein Gefängnis steckt und glaubt, sie seien dort nett zuein­ander – dann täuscht man sich. Man wird in so einer Situation immer eine Person suchen, der man die Schuld für alles aufhalsen kann. Indem die andern Witwen Kalyani demütigen, können sie sich überlegen fühlen, zumindest moralisch. Ich habe damit versucht, die Häßlich­keit zu zeigen, die Teil von uns Menschen ist.

artechock: Am Ende des Films heißt es, solche Witwen­häuser würde es auch heute noch geben. Warum lassen Sie Ihre Geschichte in der Vergan­gen­heit, in den Dreißi­ger­jahren, spielen?

Mehta: Vor allem aus prak­ti­schen Gründen. Es gibt heute zwar noch Witwen­häuser, aber die Zwangs­heirat von Kindern ist nicht mehr verbreitet. Dadurch gibt es auch keine Kinder­witwen mehr, die mit sieben oder acht Jahren in ein Witwen­haus gesperrt werden. Meine Haupt­figur sollte die acht­jäh­rige Chuyia sein, weil mir der kindliche Blick auf dieses Thema wichtig war. Diese Perspek­tive verur­teilt nicht und ist zudem sehr unpo­li­tisch. Von Kindern bekommt man jedoch aufrich­tige Reak­tionen auf unlo­gi­sche Umstände. Wenn ich die Geschichte im Heute erzählt hätte, wäre das absolut mani­pu­lativ und auch nicht ehrlich gewesen.

artechock: Sie wollten Water schon vor einigen Jahren drehen, mussten den Dreh in Indien aber abbrechen, weil religiöse Funda­men­ta­listen das Filmset ange­griffen haben. Wurden Sie von offi­zi­eller Seite nicht geschützt?

Mehta: Die Menschen, die protes­tiert haben, waren ja der kultu­relle Arm der Regierung. Man hat zwar vorder­gründig so getan, als wolle man uns beschützen. Das war ein reiner Witz. Sie haben 300 Mitglieder der indischen Armee aufs Filmset geschickt – mit Maschi­nen­ge­wehren. Sie haben wirklich alles dafür getan, dass wir da nicht mehr arbeiten konnten. Irgend­wann wurde der Dreh von der örtlichen Regierung aus Sicher­heits­gründen gestoppt.

artechock: Sie haben Water dann beinahe fünf Jahre später in Sri Lanka neu gedreht. Warum nicht mehr in Indien?

Mehta: Als unser Drehort damals geschlossen wurde, war das sehr drama­tisch für uns. Es hat uns voll­kommen aus der Fassung gebracht. Wir hatten ja eine Dreh­ge­neh­mi­gung, wir hatten alles richtig gemacht. Es war alles so unlogisch. Ich war schreck­lich wütend. Zwei andere indische Provinzen haben uns zwar einge­laden, bei ihnen weiter zu drehen. Dort hätten sie uns wohl wirklich beschützt vor den rechten Funda­men­ta­listen. Zumindest eine der Provinzen war kommu­nis­tisch. Aber manchmal hat man einen Moment der Klarheit. Als ich am Drei­kö­nigstag durch Kalkutta lief auf der Suche nach neuen Locations, erkannte ich, dass mit diesem Film irgend­etwas nicht mehr stimmt. Was nicht mehr stimmte, war natürlich ich. Ich wollte den Film nur noch aus falschen Gründen machen. Es ging mir nicht mehr um Water, sondern nur noch darum, es den Funda­men­ta­listen zu zeigen. Wenn ich den Film damals gemacht hätte, wäre er verzerrt worden von meiner Wut. Ich will zwar eine leiden­schaft­liche Regis­seurin sein, aber keine wütende. Ich habe dann andere Filme gemacht. Irgend­wann war die Wut weg, ich fühlte mich nicht mehr als Opfer und sagte: Lasst es uns noch einmal versuchen! In Indien wollte uns niemand mehr versi­chern, weil wir beim ersten Mal das ganze Geld verloren hatten. Also gingen wir nach Sri Lanka. Es wurde ein wunder­schöner Dreh. Ohne Wut, ruhig und friedlich. Und ohne Politik. Die Kombi­na­tion von Kunst und Politik ist schreck­lich.

artechock: In der Zwischen­zeit haben sie mit Bollywood/Hollywood eine roman­ti­sche Komödie gedreht. Anschei­nend hat Indien hat nach der Spiri­tiua­lität in den Sechziger- und Sieb­zi­ger­jahren mit dem Bollywood-Kino einen neuen Export-Schlager. Warum kommt Bollywood im Westen derzeit so gut an?

Mehta: Ich glaube, das hängt in beiden Fällen mit dem poli­ti­schen Klima im Westen zusammen. Die Hippie-Bewegung begann ja unter anderem, weil die Menschen durch den Vietnam-Krieg desil­lu­sio­niert waren. Auf einmal hat man versucht, einen neuen Lebens­sinn zu finden und ging dafür nach Indien. Mit dem Bollywood-Kino ist es so ähnlich, glaube ich. Der Westen lebt derzeit in der Angst, dass der 11. September die Welt grund­le­gend verändert hat. Man hat Angst vor dem Unbe­kannten, vor dem Fremden, vor dem Funda­men­ta­lismus. Und da kommt Bollywood und bietet drei Stunden totale Unter­hal­tung, in denen überhaupt nichts von einem erwartet wird. Man darf sich verlieren in den Farben, den Liedern, den Tänzen und muss über nichts nach­denken, was einen Gedanken wert wäre. Bollywood ist wie eine Art Fast Food.

artechock: Ist es nicht schade, dass man im Westen derzeit fast ausschließ­lich Bollywood-Filme als indisches Kino wahrnimmt?

Mehta: Nein. Ich mag Bollywood ja selber. Sie sprechen mit jemandem, der bekehrt wurde. Bollywood wird im Westen bald wieder verschwinden. Ob es gut für Indien ist, weiß ich nicht. Viel­leicht beraubt es Indien seiner Komple­xität, weil es so tut, als wären Probleme dort so einfach zu lösen wie in einem Cartoon. Im Westen will man nicht wirklich über sich selbst nach­denken, also schauen die Menschen nach Indien. Eine Art Spiri­tua­lität zu suchen durch Instant-Medi­ta­tion mit Instant-Befrie­di­gung, ist ja immer einfach. Jetzt zieht man eben indische Kleider an und macht Gesangs- und Tanz­num­mern nach. Das ist schon ein Witz.