»Der Schneidetisch eines Films ist wie eine Pathologie!« |
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Nina Hoss und Ronald Zehrfeld in Barbara | ||
(Foto: Piffl) |
Hier im Folgenden nun der zweite Teil unseres Interviews mit Christian Petzold über seinen Film Barbara. Der erste Teil erschien vorige Woche.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Wie würdest Du Deine Entwicklung von Die innere Sicherheit bis Barbara beschreiben? Ist das eine kontinuierliche Weiterentwicklung? Oder das Ausloten eines Territoriums, das von Anfang an da war?
Christian Petzold: Es ist ja nicht so, dass ein Film beendet ist, und dann beginnt man den nächsten. Die Filme überlappen sich. Man nimmt von der Praxisarbeit des einen Films etwas mit für den nächsten. Die Idee, wie der nächste Film gebaut, gedacht, besprochen, diskutiert wird, die entwickelt sich am Schneidetisch davor. Das liegt schon in dem Rhythmus drin.
Ich drehe alle eineinhalb Jahre einen Film, ich brauche keine zwei Filme pro Jahr, wie andere, weil ich dann nur noch in diesem Milieu aus Dispos, die mir geschrieben werden, Mietwagen, die mir vor die Tür gestellt werden, lebe. Das geht nicht.
artechock: Dein Arbeits-Rhythmus hat etwas mit dem eigenen Leben zu tun?
Petzold: Ja, ich will auch leben ohne Verwertungsgedanken, Bücher nicht nur lesen, weil ich sie vielleicht verfilmen will, mit meinen Kindern spazieren gehen, nicht nur, weil das vielleicht wichtig für sie ist, damit sie mal wieder den Vater zu sehen bekommen.
Der Schneidetisch eines Films ist wie eine Pathologie: Jeder Gedanke eines Films ist dort zu sehen, und darüber hinaus noch viel mehr, nämlich das Kino selbst: Der Raum, die Zeit, die Verdichtung, die Dehnung – das ist alles spürbar. Und man hat in diesem Moment schon das nächste Projekt im Kopf, und zugleich zum jetzigen Projekt schon die Kritik vor sich – im Positiven, wie im Negativen. Das verbindet sich immer. Und damit verändert sich jeder Film. Müsste sich zumindest verändern...
Regisseure, die nicht selber schneiden, sind eher dazu verdammt, immer dasselbe zu machen. Denn das Schneiden eines Films ist eine furchtbare selbstkritische Arbeit. Und nur, wenn man selbstkritische Arbeiten erträgt, kann man sich verändern. So sehe ich das. Es ist natürlich manchmal so – etwa jetzt bei Barbara – da war der Schnitt eine ungeheuer harmonische Arbeit. Weil es überhaupt keine „Baustellen“ gab. Das war zum ersten Mal so. Normalerweise geht immer irgendetwas schief bei der Auflösung, Kamera, Erzählung... Diesmal ist nichts schiefgegangen. Ich habe noch zwei Szenen herausgenommen, bei denen ich mich als Autor zu stark präsentiert habe.
artechock: Darf ich fragen, welche?
Petzold: Bei diesem Jugendwerkhof Torgau, der im Film einmal vorkommt – da gab es noch Innenbilder. Und dann gab es eine Szene, in der Barbara zwischendurch ans Meer geht. Das war mir zuviel Caspar-David-Friedrich-Romantik, das wollte ich nicht. Sonst hat alles funktioniert. Jetzt bin ich etwas verwirrt, wie ich beim nächsten Film wieder etwas anderes machen kann.
artechock: Sonst gab es in früheren Filmen noch mehr Aufgaben?
Petzold: Ja, bei anderen Filmen hatte ich eher das Gefühl, die Expositionen waren zu lang, oder die Sätze, auf die ich stolz war, standen plötzlich wie Bühnensätze da, oder die Kamera stellt sich aus. Da musste man im Schnitt noch arbeiten.
In Barbara gibt es eine Frechheit, für die ich ein paar Jahre gebraucht habe, und die mir meine Cutterin Bettina Böhler, mit der ich immer arbeite, abverlangt hat. Zum Beispiel dauernde Jump-Cuts: Sachen rausschneiden, Zeit wegnehmen.
Man denkt immer: Etwas das vergangen ist, hat ja schon seine Zeit gehabt. Wir dürften nicht in die Zeit hineinschneiden. Wir dürften Ausschnitte
zeigen. Aber innerhalb der Zeit darf man keinen Jump-Cut machen. Ich finde das zwar auch: Man kann nicht einfach 'reinschneiden. Aber Bettina hat eine Form von Beschleunigung und Ellipsen in der Zeit gefunden – da hat man das Gefühl: Wir respektieren die Historie. Wir können nicht alles erzählen. Die Historie hat ihre eigene Lebendigkeit, und die ist nicht handhabbar wie ein Ölgemälde, oder wie eine Anekdote, die von 16 Historikern gegengelesen wurde. Wie bei modernstem
Material dürfen wir betonen: Das ist jetzt wichtig, das andere nicht. Das ist eine respektvolle Respektlosigkeit. Dafür habe ich manches dringelassen, was gar nicht im Buch stand, Sachen die mir erst beim Drehen eingefallen sind: Etwa diese winkenden Jugendlichen am Schienenrand.
Das war am 20ten Drehtag. Dieser alte DDR-Schienenbus war noch kaputt. Er musste über 600 Kilometer herangeschafft werden, kostete richtig Geld. Und dann ging er unterwegs kaputt – Zylinderkopfdichtung. Jetzt mussten wir den mit einer Lokomotive ziehen – das bedeutete, alle Originaltöne waren nicht zu gebrauchen, weil man da die Diesellok hörte. Wir mussten nachsynchronisieren. Und das hat Stunden gedauert. Aber währenddessen kam mir der Einfall: Lasst uns noch ein paar Statisten-Jungs und -Mädchen besorgen. Denn ich hatte überlegt: Was sieht jemand, der ein Land verlässt? Der lässt dort auch seine Jugend zurück, und die kommt nie wieder. Der guckt nicht einfach nur raus, die Landschaft fliegt vorbei, Musik kommt... Sondern die Landschaft ist aufdringlich. Die winkt.
artechock: Ich muss nochmal auf die Beschreibung zurückkommen, die Du eben gegeben hast: Du sprachst vom „Leben ohne Verwertungsgedanken“. Ich musste da unwillkürlich an Dominik Graf denken, den wir beide persönlich ebenso mögen, wie seine Filme. Aber er ist einer der genau gegenteilig arbeitet, wie Du: Mit einer Wahnsinnsdisziplin macht er das Gegenteil wie Du: Er dreht drei Filme im Jahr, er ist auch nicht viel im Schneideraum, sondern bereitet dann oft schon den nächsten Dreh vor, arbeitet also auch arbeitsteiliger.
Wenn man Eure Filme vergleicht, kann man feststellen, dass der Vorteil des einen dann der Nachteil des anderen ist – und umgekehrt. Ich glaube er hat auch eine ganz bestimmte Moral den eigenen Filmen gegenüber, die sich von Deiner unterscheidet: Er würde wohl sagen, wenn er drei Filme macht, wird vielleicht einer nicht so gut, aber dafür der andere richtig super, und alles bleibt vielmehr in Bewegung, unterscheidet sich...
Petzold: Er hat ja in unserer e-Mail-Korrespondenz, die bei „Revolver“ veröffentlicht wurde, von dem Regisseur Anthony Mann gesprochen, drei Filme im Jahr und dem Arbeiten mit dem Schrotgewehr. Das bewundere ich total. Diese tiefe Sehnsucht nach einer Form von industrialisierter Herstellung von Träumen ist auch stark in mir drin. Umgekehrt glaube ich mag er es auch, wie ich arbeite. Kann er aber nicht. Und ich kann nicht wie er arbeiten. Aber das Tolle ist: Im Grunde sind wir ganz nahe beieinander. Bei Dominik habe ich immer das Gefühl: Wenn er einen Film beendet hat, zeigt dieser Film schon eine Tür zu dem nächsten. Diese Tür kann aber auch eine Sackgasse sein, und dann probiert man eben eine andere Tür. Das ist ein wunderbarer Lauf durch die Träume. Ich habe immer das Gefühl: Ich muss erst einmal aufwachen und alles verarbeiten.
artechock: Keine Frage: Ihr beide seid für mich auch die interessantesten Filmemacher in Deutschland. Aber daher eine Nachfrage: Du hättest nicht Lust, mal ein Jahr so zu arbeiten, wie Dominik Graf? Drei Filme, darunter einen für irgendeine Serie wie Tatort oder Polizeiruf. Einfach um der Erfahrung willen. Weil das ja auch was mit Dir tut?
Petzold: Ja, das würde ich gerne machen. Aber das geht nicht, weil ich verheiratet bin, und zwei Kinder habe, und meine Frau auch Filme macht. Das kann ich in fünf Jahren machen, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann mache ich das. Ich habe sogar so ein Polizeiruf-Angebot. Und ich habe mir einmal in zwei, drei Wochen ein paar Ideen aufgeschrieben.
Ich würde für den Polizeiruf gerne etwas machen, was an Claude Miller angelehnt ist. Es gibt von ihm doch diesen Film über ein Verhör, das sich über eine ganze Nacht erstreckt. Es geht um einen Päderasten, Romy Schneider spielt mit... Garde à vue von 1981... So etwas Ähnliches kam mir für den Polizeiruf in den Sinn. Ein Film, der nur in einem Verhörraum spielt. Die Idee kommt auch ein bisschen aus dem Polizeiruf, den der Dominik gemacht hat...
artechock: Sie wollte tot...
Petzold: Genau. Da ist auch die Schauspielerin fantastisch. Und wenn die Produktionsbedingungen nur 22, 23 Drehtage vorsehen, dann eben eine Film ohne viele Reisen, sondern eine lange Verhör-Nacht und sonst nur Erinnerungsblitzlichter. Und die Polizei infiziert sich in dieser Nacht an diesem Fall. Die haben gar keine Gelegenheit, andauernd diesen Krimi-Quatsch zu reden – »Wir fahren noch mal zu Schmidts, da stimmt was nicht«... – sondern da redet ein Mann um sein Leben und um seine Ehe und seine Liebe, und über dieses Verhör wird den Polizisten bewusst: Wir haben keine Ehe, wir haben keine Liebe, wir haben kein Leben. Und sie bekommen einen wahnsinnigen Hass. Denn sie spüren, dass dieser Mann, der aus Liebe gemordet hat, eine Tiefe erreicht, die sie nie erreichen werden. Und dann gibt es den einen Polizisten, der den Täter hasst dafür und den zweiten, der ihn bewundert – so eine Konstellation würde mich interessieren.
Aber das kommt später. Zur Zeit muss ich sagen: Ich habe keine Zeit. Man muss dafür vielleicht ein bisschen rücksichtsloser sein, und das kann ich nicht. Aber beim Abschlussfest von Barbara habe ich schon gemerkt, wie groß die Lust ist, diese ungeheure Anspannung nicht zu verlassen. Und ich habe da gesagt: In 13 Monaten geht es wieder los.
artechock: Du arbeitest immer mit den gleichen Leuten: Hinter der Kamera, im Team, aber auch Nina Hoss. Ich erinnere mich noch, wie Du mir bei der Eröffnung der Berlinale erzähltest: »Du glaubst gar nicht, was es im Vorfeld für Gegenwind gibt. Erstens: Schon wieder Petzold im Wettbewerb; zweitens: schon wieder Nina Hoss; drittens: öh, deutscher Film.«... .
Petzold: Komisch... nach der Berlinale ist der Gegenwind weg. Vorher war er ganz schön hart. Absolut.
artechock: Erzähl doch mal: Worin liegen die Vorteile der Drehfamilie? Hast Du nicht Lust, einmal mit ganz anderen Leuten zu arbeiten? Ich sage gar nicht, dass Du das solltest, aber ich will Dein Denken verstehen...
Petzold: Ich habe schon mal darüber nachgedacht. Im Prinzip bleibt die Familie zusammen, und da halte ich die Stelle auch mal offen, wenn einer aussetzen muss. Aber das Interessante an der Arbeit zum Beispiel mit meinem Kameramann Hans Fromm ist ja, dass Kritik – ich kritisiere mich selber, aber manchmal auch, die mit denen ich arbeite – dass diese Kritik keine persönliche Kränkung ist. Solange das so bleibt, kann ich mit ihm weiterarbeiten. Über die kritische Reflexion haben wir eine Sprache. Wenn einer persönlich gekränkt ist, dann ist es vorbei.
Die Darsteller verändern sich ja – bis auf Nina Hoss, mit der ich fünf Filme gemacht habe. Natürlich sticht sie raus. Und alles, was heraussticht, ist angreifbar. Das habe ich vor der Berlinale oft zwischen den Zeilen herausgehört. Schon wieder..
artechock: Barbara gibt ja eine Antwort. Mir ging es so, dass ich mit Deinem vorherigen Film Jerichow gewisse Probleme hatte, da stimmte etwas für mich nicht, und schien mir redundant. Aber im neuen Film finde ich, dass in jedem Fall bei Nina Hoss vieles wieder anders ist. Aber nehmen wir mal Antonioni, der hat lange mit Monica Vitti gedreht, und irgendwann war dann mal Schluss...
Petzold: Ja, die waren aber auch zusammen. Aber Dietrich und Sternberg waren nicht zusammen.
artechock: Das ist dann vielleicht der schönere Vergleich. Aber was ich ja mit Antonioni meinte. Ohne dass die Filme einen Grund dafür gaben, hat er irgendwann gedacht: Jetzt ändere ich etwas. Und dann ging er nach England. Und ist dann eigentlich nie wieder nach Italien zurückgekommen, sondern ging dann weiter nach Amerika, und nach China, und dann wieder Europa. Er hat mit anderen Leuten gearbeitet. Warum? Ich glaube, dass Antonioni irgendwann begonnen hat, sich mit sich selber zu langweilen. Obwohl La notte und Die rote Wüste super waren.
Petzold: Wenn ich mich anfangen würde, zu langweilen, ist sofort Schluss. Klar. Aber Antonioni geht ja aus einem sterbenden Kinoland. Er geht a in dem Moment los, wo Cinecitta Insolvenz anmeldet.
artechock: Er geht mit dem Geld kannst Du sagen, aber auch mit der kulturellen Revolte... Beruf: Reporter ist ja die Summe des Ganzen...
Petzold: Der unheimlich biographisch für ihn ist, ja. Aber da wird eben auch ganz tödlich erklärt, dass es eben keinen Identitätswechsel gibt. Das klingt jetzt vielleicht zu persönlich: Aber ich habe das Gefühl, dass dieses Land nicht gefilmt ist. Viel weniger, als das Frankreich der Gegenwart, als das Frankreich und Italien der Vergangenheit. Ich weiß davon mehr, als vom Deutschland der 50er Jahre. Bei Käutner in Unter den Brücken fahren alle drei weg. Und ich habe das Gefühl: Der Käutner auch. Alle die noch irgendetwas in der Birne hatten, hauten ab. Und versuchen irgendwo ihr Glück. So ist das vielleicht auch bei Antonioni gewesen. Aber ich habe das Gefühl: Hier ist noch nichts erzählt! Wuppertal ist kaputt, das ist noch nicht gefilmt. Eine Stadt wie Wuppertal ist doch nicht erzählt. Bei Wenders: Eine deutsche Romantik-Figur. Tom Tykwer hatte es sicherlich bei Der Krieger und die Kaiserin schwer, in seiner Heimatstadt zu drehen.
Als ich in meine Heimatstadt gefahren bin, ist mir nichts mehr eingefallen. Die Empfindungen kann ich mitnehmen. Aber ich kann nicht mein Leben dort filmen. Aber ich begreife jede andere Reihenhaus-Stadt: Leverkusen, Wolfsburg – kein Wunder, dass ich da Filme gedreht habe. Wenn ich deutsche Filme sehe, besonders zur deutschen Geschichte, habe ich das Gefühl: Falsche Bilder werden immer wieder reproduziert. Ich finde, dass da noch eine Riesenaufgabe auf einen wartet.
artechock: Ja, ganze Welten sind noch nicht erzählt. Bei Deinen Filmen erzählen mir vor allem Wolfsburg und Yella von gegenwärtigen Welten, von Arbeitswelten, die ich nicht kenne. Barbara ist nun Dein erster Kostümfilm, er spielt im Sommer 1980. Was macht Barbara zu einem Film aus unserer Zeit?
Petzold: Mein eigenes Gefühl für den Film ist sehr verschieden. Ich habe das Gefühl einer großen Erleichterung gehabt, weil ich – im positiven Sinne – die Kontrolle verloren habe.
Das fehlt in Deutschland ein bisschen: Filme, die sich nicht an Papa richten. Oder diese ganzen Problemfilme, ich will jetzt keine Namen nennen, die sagen: Habt ihr schon mal darauf geachtet, dass es uns auch nicht gut geht? Das geht mir alles auf den Nerv. Ich will, dass die Filme erwachsen sind und selbstständig.
Mich hat es auch überrascht, dass von den 140 Interviews auf der Berlinale, etwa 80 von Griechenland und dem Euro handelten. Alle sagten: »Sie sprechen über untergehende Systeme. Wir leben doch auch in einem untergehenden System.« Darauf war ich nicht vorbereitet.
artechock: Es ist der humorvollste Film, den ich von Dir kenne...
Petzold: Die Hauptdarsteller hatten auch viel Spaß – die grinsen ja nicht auf Befehl.
artechock: Du hast für Barbara genau recherchiert. Eine Rolle spielt der Jugendwerkhof Torgau, der im Film Vernichtungsanstalt genannt wird. Was hat es damit auf sich?
Petzold: Diese Jugendwerkhöfe... Im Osten wie im Westen gab es Verwahranstalten, in denen Jugendlichen, die nicht passen, »passend« gemacht werden sollten. Zu Hunderttausenden wurden sie gequält und zerstört – nicht nur auf dem Niveau der Odenwaldschule. das auch. Im Osten gab es Arbeitspflicht. Wer nicht arbeitete, wurde »asozial« genannt. Alles war mit Sexualität und Popmusik zu tun hatte, wurde von oben abgerichtet. Diese Jugendwerkhöfe waren Erziehungsanstalten, wo man »das Arbeiten wieder lernt«. Aber Arbeiten hieß immer Rückgrat brechen. Also: stumpfe Arbeit, brutale Sanktionierung, Ängste, Biopolitik in Form von Tagesabläufen, die bis ins Kleinste durchgeplant waren, und eben Missbrauch und Misshandlung von morgens bis abends. Ich habe dafür viel recherchiert. Torgau war ein Begriff, und es war übrigens auch schon eine Anstalt zur Nazi-Zeit. Der Übergang war fließend.
artechock: In deinem Film spielt Kunst eine wichtige Rolle, es gibt ein Gespräch über ein Rembrandt-Bild, Verweise auf andere Malerei, auf Chopin und Bruckner, auf Romane. Kunst ist hier aber nicht etwas wie in Donnersmarcks Das Leben der Anderen, das die Menschen besser macht, sondern eine Form, miteinander zu kommunizieren?
Petzold: So würde ich das auch sehen: Kunst ist eine Kommunikationsform. Es gibt ja die ganz tiefe bürgerliche Sehnsucht, dass die Kunst uns rettet. Als ob man kein Nazi werden könnte, wenn man gut Klavier spielt. Das stimmt nicht. Meiner Ansicht nach hat Kunst zwei Seiten: Kunst ist eine Möglichkeit, den Dingen zu entkommen, sich in einer Art Schutzblase zurückziehen. Barbara, die Klavier spielt. Der Arzt, der einen Turgenjew-Roman liest, und Rembrandt liebt, kann den Verhältnissen entkommen. Kunst macht eine Tür auf, die aus den Verhältnissen hinausführt.
So geht es mir auch: Wenn ich etwas empfinde beim Lesen oder Musikhören, dann geschieht dies ohne Verwertungsdruck. Ich mache daraus kein Drehbuch, ich will nicht anschaffen gehen, ich will nicht angeben. Es wird dann zu einer Form der Kommunikation, wenn ich es mitteile und teile. Das ist ein ganz großer Moment des sich-Öffnens: Ich war schon in Gedanken in Den Haag. In einem Unterdrückungsstaat muss man aber sehr vorsichtig damit sein, denn vielleicht wird man ausgenutzt. Vielleicht öffnet sich einer, damit ich mich öffne. Um diesen Aspekt geht es auch bei der Kunst in Barbara. Sie führt zu Kommunikation. Und diese Kommunikation ist so vorsichtig. Die Gespräche zwischen den beiden Hauptfiguren haben ja auch immer die Struktur von Verhören. Techniken der Macht werden zu Techniken der Liebe.
artechock: Die Rembrandt-Bildbetrachtung erzählt uns aber noch etwas anders: Sie erzählt uns, wie wir auf ein Bild zu schauen haben, und das Kunst nicht die naturalistische Wahrheit erzählt. Damit erzählen Sie etwas über Ihren Film, darüber, wie wir uns diese Geschichte anzuschauen haben...
Petzold: Genau. Das Tolle ist, wie Rembrandt in dem Bild über die Anatomie mit den Mitteln der Malerei eine Störung produziert, und sagt: Es ist diese Falte, dieser Bruch, Freunde, es ist nicht das, was aufgeht, was interessant ist.