15.03.2012

»Der Schnei­de­tisch eines Films ist wie eine Patho­logie!«

Nina Hoss und Ronald Zehrfeld in BARBARA
Nina Hoss und Ronald Zehrfeld in Barbara
(Foto: Piffl)

Christian Petzold über seinen neuen Film, über Selbstkritik, die DDR als Ärzteroman, die Rolle der Kunst und die unerzählten deutschen Geschichten

Hier im Folgenden nun der zweite Teil unseres Inter­views mit Christian Petzold über seinen Film Barbara. Der erste Teil erschien vorige Woche.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Wie würdest Du Deine Entwick­lung von Die innere Sicher­heit bis Barbara beschreiben? Ist das eine konti­nu­ier­liche Weiter­ent­wick­lung? Oder das Ausloten eines Terri­to­riums, das von Anfang an da war?

Christian Petzold: Es ist ja nicht so, dass ein Film beendet ist, und dann beginnt man den nächsten. Die Filme über­lappen sich. Man nimmt von der Praxis­ar­beit des einen Films etwas mit für den nächsten. Die Idee, wie der nächste Film gebaut, gedacht, bespro­chen, disku­tiert wird, die entwi­ckelt sich am Schnei­de­tisch davor. Das liegt schon in dem Rhythmus drin.

Ich drehe alle einein­halb Jahre einen Film, ich brauche keine zwei Filme pro Jahr, wie andere, weil ich dann nur noch in diesem Milieu aus Dispos, die mir geschrieben werden, Mietwagen, die mir vor die Tür gestellt werden, lebe. Das geht nicht.

artechock: Dein Arbeits-Rhythmus hat etwas mit dem eigenen Leben zu tun?

Petzold: Ja, ich will auch leben ohne Verwer­tungs­ge­danken, Bücher nicht nur lesen, weil ich sie viel­leicht verfilmen will, mit meinen Kindern spazieren gehen, nicht nur, weil das viel­leicht wichtig für sie ist, damit sie mal wieder den Vater zu sehen bekommen.

Der Schnei­de­tisch eines Films ist wie eine Patho­logie: Jeder Gedanke eines Films ist dort zu sehen, und darüber hinaus noch viel mehr, nämlich das Kino selbst: Der Raum, die Zeit, die Verdich­tung, die Dehnung – das ist alles spürbar. Und man hat in diesem Moment schon das nächste Projekt im Kopf, und zugleich zum jetzigen Projekt schon die Kritik vor sich – im Positiven, wie im Negativen. Das verbindet sich immer. Und damit verändert sich jeder Film. Müsste sich zumindest verändern...

Regis­seure, die nicht selber schneiden, sind eher dazu verdammt, immer dasselbe zu machen. Denn das Schneiden eines Films ist eine furcht­bare selbst­kri­ti­sche Arbeit. Und nur, wenn man selbst­kri­ti­sche Arbeiten erträgt, kann man sich verändern. So sehe ich das. Es ist natürlich manchmal so – etwa jetzt bei Barbara – da war der Schnitt eine ungeheuer harmo­ni­sche Arbeit. Weil es überhaupt keine „Baustellen“ gab. Das war zum ersten Mal so. Norma­ler­weise geht immer irgend­etwas schief bei der Auflösung, Kamera, Erzählung... Diesmal ist nichts schief­ge­gangen. Ich habe noch zwei Szenen heraus­ge­nommen, bei denen ich mich als Autor zu stark präsen­tiert habe.

artechock: Darf ich fragen, welche?

Petzold: Bei diesem Jugend­werkhof Torgau, der im Film einmal vorkommt – da gab es noch Innen­bilder. Und dann gab es eine Szene, in der Barbara zwischen­durch ans Meer geht. Das war mir zuviel Caspar-David-Friedrich-Romantik, das wollte ich nicht. Sonst hat alles funk­tio­niert. Jetzt bin ich etwas verwirrt, wie ich beim nächsten Film wieder etwas anderes machen kann.

artechock: Sonst gab es in früheren Filmen noch mehr Aufgaben?

Petzold: Ja, bei anderen Filmen hatte ich eher das Gefühl, die Expo­si­tionen waren zu lang, oder die Sätze, auf die ich stolz war, standen plötzlich wie Bühnen­sätze da, oder die Kamera stellt sich aus. Da musste man im Schnitt noch arbeiten.

In Barbara gibt es eine Frechheit, für die ich ein paar Jahre gebraucht habe, und die mir meine Cutterin Bettina Böhler, mit der ich immer arbeite, abver­langt hat. Zum Beispiel dauernde Jump-Cuts: Sachen raus­schneiden, Zeit wegnehmen.
Man denkt immer: Etwas das vergangen ist, hat ja schon seine Zeit gehabt. Wir dürften nicht in die Zeit hinein­schneiden. Wir dürften Ausschnitte zeigen. Aber innerhalb der Zeit darf man keinen Jump-Cut machen. Ich finde das zwar auch: Man kann nicht einfach 'rein­schneiden. Aber Bettina hat eine Form von Beschleu­ni­gung und Ellipsen in der Zeit gefunden – da hat man das Gefühl: Wir respek­tieren die Historie. Wir können nicht alles erzählen. Die Historie hat ihre eigene Leben­dig­keit, und die ist nicht hand­habbar wie ein Ölgemälde, oder wie eine Anekdote, die von 16 Histo­ri­kern gegen­ge­lesen wurde. Wie bei modernstem Material dürfen wir betonen: Das ist jetzt wichtig, das andere nicht. Das ist eine respekt­volle Respekt­lo­sig­keit. Dafür habe ich manches drin­ge­lassen, was gar nicht im Buch stand, Sachen die mir erst beim Drehen einge­fallen sind: Etwa diese winkenden Jugend­li­chen am Schie­nen­rand.

Das war am 20ten Drehtag. Dieser alte DDR-Schie­nenbus war noch kaputt. Er musste über 600 Kilometer heran­ge­schafft werden, kostete richtig Geld. Und dann ging er unterwegs kaputt – Zylin­der­kopf­dich­tung. Jetzt mussten wir den mit einer Loko­mo­tive ziehen – das bedeutete, alle Origi­nal­töne waren nicht zu gebrau­chen, weil man da die Diesellok hörte. Wir mussten nach­syn­chro­ni­sieren. Und das hat Stunden gedauert. Aber während­dessen kam mir der Einfall: Lasst uns noch ein paar Statisten-Jungs und -Mädchen besorgen. Denn ich hatte überlegt: Was sieht jemand, der ein Land verlässt? Der lässt dort auch seine Jugend zurück, und die kommt nie wieder. Der guckt nicht einfach nur raus, die Land­schaft fliegt vorbei, Musik kommt... Sondern die Land­schaft ist aufdring­lich. Die winkt.

artechock: Ich muss nochmal auf die Beschrei­bung zurück­kommen, die Du eben gegeben hast: Du sprachst vom „Leben ohne Verwer­tungs­ge­danken“. Ich musste da unwill­kür­lich an Dominik Graf denken, den wir beide persön­lich ebenso mögen, wie seine Filme. Aber er ist einer der genau gegen­teilig arbeitet, wie Du: Mit einer Wahn­sinns­dis­zi­plin macht er das Gegenteil wie Du: Er dreht drei Filme im Jahr, er ist auch nicht viel im Schnei­de­raum, sondern bereitet dann oft schon den nächsten Dreh vor, arbeitet also auch arbeits­tei­liger.

Wenn man Eure Filme vergleicht, kann man fest­stellen, dass der Vorteil des einen dann der Nachteil des anderen ist – und umgekehrt. Ich glaube er hat auch eine ganz bestimmte Moral den eigenen Filmen gegenüber, die sich von Deiner unter­scheidet: Er würde wohl sagen, wenn er drei Filme macht, wird viel­leicht einer nicht so gut, aber dafür der andere richtig super, und alles bleibt vielmehr in Bewegung, unter­scheidet sich...

Petzold: Er hat ja in unserer e-Mail-Korre­spon­denz, die bei „Revolver“ veröf­fent­licht wurde, von dem Regisseur Anthony Mann gespro­chen, drei Filme im Jahr und dem Arbeiten mit dem Schrot­ge­wehr. Das bewundere ich total. Diese tiefe Sehnsucht nach einer Form von indus­tria­li­sierter Herstel­lung von Träumen ist auch stark in mir drin. Umgekehrt glaube ich mag er es auch, wie ich arbeite. Kann er aber nicht. Und ich kann nicht wie er arbeiten. Aber das Tolle ist: Im Grunde sind wir ganz nahe beiein­ander. Bei Dominik habe ich immer das Gefühl: Wenn er einen Film beendet hat, zeigt dieser Film schon eine Tür zu dem nächsten. Diese Tür kann aber auch eine Sackgasse sein, und dann probiert man eben eine andere Tür. Das ist ein wunder­barer Lauf durch die Träume. Ich habe immer das Gefühl: Ich muss erst einmal aufwachen und alles verar­beiten.

artechock: Keine Frage: Ihr beide seid für mich auch die inter­es­san­testen Filme­ma­cher in Deutsch­land. Aber daher eine Nachfrage: Du hättest nicht Lust, mal ein Jahr so zu arbeiten, wie Dominik Graf? Drei Filme, darunter einen für irgend­eine Serie wie Tatort oder Poli­zeiruf. Einfach um der Erfahrung willen. Weil das ja auch was mit Dir tut?

Petzold: Ja, das würde ich gerne machen. Aber das geht nicht, weil ich verhei­ratet bin, und zwei Kinder habe, und meine Frau auch Filme macht. Das kann ich in fünf Jahren machen, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann mache ich das. Ich habe sogar so ein Poli­zeiruf-Angebot. Und ich habe mir einmal in zwei, drei Wochen ein paar Ideen aufge­schrieben.

Ich würde für den Poli­zeiruf gerne etwas machen, was an Claude Miller angelehnt ist. Es gibt von ihm doch diesen Film über ein Verhör, das sich über eine ganze Nacht erstreckt. Es geht um einen Päderasten, Romy Schneider spielt mit... Garde à vue von 1981... So etwas Ähnliches kam mir für den Poli­zeiruf in den Sinn. Ein Film, der nur in einem Verhör­raum spielt. Die Idee kommt auch ein bisschen aus dem Poli­zeiruf, den der Dominik gemacht hat...

artechock: Sie wollte tot...

Petzold: Genau. Da ist auch die Schau­spie­lerin fantas­tisch. Und wenn die Produk­ti­ons­be­din­gungen nur 22, 23 Drehtage vorsehen, dann eben eine Film ohne viele Reisen, sondern eine lange Verhör-Nacht und sonst nur Erin­ne­rungs­blitz­lichter. Und die Polizei infiziert sich in dieser Nacht an diesem Fall. Die haben gar keine Gele­gen­heit, andauernd diesen Krimi-Quatsch zu reden – »Wir fahren noch mal zu Schmidts, da stimmt was nicht«... – sondern da redet ein Mann um sein Leben und um seine Ehe und seine Liebe, und über dieses Verhör wird den Poli­zisten bewusst: Wir haben keine Ehe, wir haben keine Liebe, wir haben kein Leben. Und sie bekommen einen wahn­sin­nigen Hass. Denn sie spüren, dass dieser Mann, der aus Liebe gemordet hat, eine Tiefe erreicht, die sie nie erreichen werden. Und dann gibt es den einen Poli­zisten, der den Täter hasst dafür und den zweiten, der ihn bewundert – so eine Konstel­la­tion würde mich inter­es­sieren.

Aber das kommt später. Zur Zeit muss ich sagen: Ich habe keine Zeit. Man muss dafür viel­leicht ein bisschen rück­sichts­loser sein, und das kann ich nicht. Aber beim Abschluss­fest von Barbara habe ich schon gemerkt, wie groß die Lust ist, diese ungeheure Anspan­nung nicht zu verlassen. Und ich habe da gesagt: In 13 Monaten geht es wieder los.

artechock: Du arbeitest immer mit den gleichen Leuten: Hinter der Kamera, im Team, aber auch Nina Hoss. Ich erinnere mich noch, wie Du mir bei der Eröffnung der Berlinale erzähl­test: »Du glaubst gar nicht, was es im Vorfeld für Gegenwind gibt. Erstens: Schon wieder Petzold im Wett­be­werb; zweitens: schon wieder Nina Hoss; drittens: öh, deutscher Film.«... .

Petzold: Komisch... nach der Berlinale ist der Gegenwind weg. Vorher war er ganz schön hart. Absolut.

artechock: Erzähl doch mal: Worin liegen die Vorteile der Dreh­fa­milie? Hast Du nicht Lust, einmal mit ganz anderen Leuten zu arbeiten? Ich sage gar nicht, dass Du das solltest, aber ich will Dein Denken verstehen...

Petzold: Ich habe schon mal darüber nach­ge­dacht. Im Prinzip bleibt die Familie zusammen, und da halte ich die Stelle auch mal offen, wenn einer aussetzen muss. Aber das Inter­es­sante an der Arbeit zum Beispiel mit meinem Kame­ra­mann Hans Fromm ist ja, dass Kritik – ich kriti­siere mich selber, aber manchmal auch, die mit denen ich arbeite – dass diese Kritik keine persön­liche Kränkung ist. Solange das so bleibt, kann ich mit ihm weiter­ar­beiten. Über die kritische Reflexion haben wir eine Sprache. Wenn einer persön­lich gekränkt ist, dann ist es vorbei.

Die Darsteller verändern sich ja – bis auf Nina Hoss, mit der ich fünf Filme gemacht habe. Natürlich sticht sie raus. Und alles, was heraus­sticht, ist angreifbar. Das habe ich vor der Berlinale oft zwischen den Zeilen heraus­gehört. Schon wieder..

artechock: Barbara gibt ja eine Antwort. Mir ging es so, dass ich mit Deinem vorhe­rigen Film Jerichow gewisse Probleme hatte, da stimmte etwas für mich nicht, und schien mir redundant. Aber im neuen Film finde ich, dass in jedem Fall bei Nina Hoss vieles wieder anders ist. Aber nehmen wir mal Antonioni, der hat lange mit Monica Vitti gedreht, und irgend­wann war dann mal Schluss...

Petzold: Ja, die waren aber auch zusammen. Aber Dietrich und Sternberg waren nicht zusammen.

artechock: Das ist dann viel­leicht der schönere Vergleich. Aber was ich ja mit Antonioni meinte. Ohne dass die Filme einen Grund dafür gaben, hat er irgend­wann gedacht: Jetzt ändere ich etwas. Und dann ging er nach England. Und ist dann eigent­lich nie wieder nach Italien zurück­ge­kommen, sondern ging dann weiter nach Amerika, und nach China, und dann wieder Europa. Er hat mit anderen Leuten gear­beitet. Warum? Ich glaube, dass Antonioni irgend­wann begonnen hat, sich mit sich selber zu lang­weilen. Obwohl La notte und Die rote Wüste super waren.

Petzold: Wenn ich mich anfangen würde, zu lang­weilen, ist sofort Schluss. Klar. Aber Antonioni geht ja aus einem ster­benden Kinoland. Er geht a in dem Moment los, wo Cinecitta Insolvenz anmeldet.

artechock: Er geht mit dem Geld kannst Du sagen, aber auch mit der kultu­rellen Revolte... Beruf: Reporter ist ja die Summe des Ganzen...

Petzold: Der unheim­lich biogra­phisch für ihn ist, ja. Aber da wird eben auch ganz tödlich erklärt, dass es eben keinen Iden­ti­täts­wechsel gibt. Das klingt jetzt viel­leicht zu persön­lich: Aber ich habe das Gefühl, dass dieses Land nicht gefilmt ist. Viel weniger, als das Frank­reich der Gegenwart, als das Frank­reich und Italien der Vergan­gen­heit. Ich weiß davon mehr, als vom Deutsch­land der 50er Jahre. Bei Käutner in Unter den Brücken fahren alle drei weg. Und ich habe das Gefühl: Der Käutner auch. Alle die noch irgend­etwas in der Birne hatten, hauten ab. Und versuchen irgendwo ihr Glück. So ist das viel­leicht auch bei Antonioni gewesen. Aber ich habe das Gefühl: Hier ist noch nichts erzählt! Wuppertal ist kaputt, das ist noch nicht gefilmt. Eine Stadt wie Wuppertal ist doch nicht erzählt. Bei Wenders: Eine deutsche Romantik-Figur. Tom Tykwer hatte es sicher­lich bei Der Krieger und die Kaiserin schwer, in seiner Heimat­stadt zu drehen.

Als ich in meine Heimat­stadt gefahren bin, ist mir nichts mehr einge­fallen. Die Empfin­dungen kann ich mitnehmen. Aber ich kann nicht mein Leben dort filmen. Aber ich begreife jede andere Reihen­haus-Stadt: Lever­kusen, Wolfsburg – kein Wunder, dass ich da Filme gedreht habe. Wenn ich deutsche Filme sehe, besonders zur deutschen Geschichte, habe ich das Gefühl: Falsche Bilder werden immer wieder repro­du­ziert. Ich finde, dass da noch eine Riesen­auf­gabe auf einen wartet.

artechock: Ja, ganze Welten sind noch nicht erzählt. Bei Deinen Filmen erzählen mir vor allem Wolfsburg und Yella von gegen­wär­tigen Welten, von Arbeits­welten, die ich nicht kenne. Barbara ist nun Dein erster Kostüm­film, er spielt im Sommer 1980. Was macht Barbara zu einem Film aus unserer Zeit?

Petzold: Mein eigenes Gefühl für den Film ist sehr verschieden. Ich habe das Gefühl einer großen Erleich­te­rung gehabt, weil ich – im positiven Sinne – die Kontrolle verloren habe.

Das fehlt in Deutsch­land ein bisschen: Filme, die sich nicht an Papa richten. Oder diese ganzen Problem­filme, ich will jetzt keine Namen nennen, die sagen: Habt ihr schon mal darauf geachtet, dass es uns auch nicht gut geht? Das geht mir alles auf den Nerv. Ich will, dass die Filme erwachsen sind und selbst­ständig.

Mich hat es auch über­rascht, dass von den 140 Inter­views auf der Berlinale, etwa 80 von Grie­chen­land und dem Euro handelten. Alle sagten: »Sie sprechen über unter­ge­hende Systeme. Wir leben doch auch in einem unter­ge­henden System.« Darauf war ich nicht vorbe­reitet.

artechock: Es ist der humor­vollste Film, den ich von Dir kenne...

Petzold: Die Haupt­dar­steller hatten auch viel Spaß – die grinsen ja nicht auf Befehl.

artechock: Du hast für Barbara genau recher­chiert. Eine Rolle spielt der Jugend­werkhof Torgau, der im Film Vernich­tungs­an­stalt genannt wird. Was hat es damit auf sich?

Petzold: Diese Jugend­werk­höfe... Im Osten wie im Westen gab es Verwahr­an­stalten, in denen Jugend­li­chen, die nicht passen, »passend« gemacht werden sollten. Zu Hundert­tau­senden wurden sie gequält und zerstört – nicht nur auf dem Niveau der Oden­wald­schule. das auch. Im Osten gab es Arbeits­pflicht. Wer nicht arbeitete, wurde »asozial« genannt. Alles war mit Sexua­lität und Popmusik zu tun hatte, wurde von oben abge­richtet. Diese Jugend­werk­höfe waren Erzie­hungs­an­stalten, wo man »das Arbeiten wieder lernt«. Aber Arbeiten hieß immer Rückgrat brechen. Also: stumpfe Arbeit, brutale Sank­tio­nie­rung, Ängste, Biopo­litik in Form von Tages­ab­läufen, die bis ins Kleinste durch­ge­plant waren, und eben Miss­brauch und Miss­hand­lung von morgens bis abends. Ich habe dafür viel recher­chiert. Torgau war ein Begriff, und es war übrigens auch schon eine Anstalt zur Nazi-Zeit. Der Übergang war fließend.

artechock: In deinem Film spielt Kunst eine wichtige Rolle, es gibt ein Gespräch über ein Rembrandt-Bild, Verweise auf andere Malerei, auf Chopin und Bruckner, auf Romane. Kunst ist hier aber nicht etwas wie in Donners­marcks Das Leben der Anderen, das die Menschen besser macht, sondern eine Form, mitein­ander zu kommu­ni­zieren?

Petzold: So würde ich das auch sehen: Kunst ist eine Kommu­ni­ka­ti­ons­form. Es gibt ja die ganz tiefe bürger­liche Sehnsucht, dass die Kunst uns rettet. Als ob man kein Nazi werden könnte, wenn man gut Klavier spielt. Das stimmt nicht. Meiner Ansicht nach hat Kunst zwei Seiten: Kunst ist eine Möglich­keit, den Dingen zu entkommen, sich in einer Art Schutz­blase zurück­ziehen. Barbara, die Klavier spielt. Der Arzt, der einen Turgenjew-Roman liest, und Rembrandt liebt, kann den Verhält­nissen entkommen. Kunst macht eine Tür auf, die aus den Verhält­nissen hinaus­führt.

So geht es mir auch: Wenn ich etwas empfinde beim Lesen oder Musik­hören, dann geschieht dies ohne Verwer­tungs­druck. Ich mache daraus kein Drehbuch, ich will nicht anschaffen gehen, ich will nicht angeben. Es wird dann zu einer Form der Kommu­ni­ka­tion, wenn ich es mitteile und teile. Das ist ein ganz großer Moment des sich-Öffnens: Ich war schon in Gedanken in Den Haag. In einem Unter­drü­ckungs­staat muss man aber sehr vorsichtig damit sein, denn viel­leicht wird man ausge­nutzt. Viel­leicht öffnet sich einer, damit ich mich öffne. Um diesen Aspekt geht es auch bei der Kunst in Barbara. Sie führt zu Kommu­ni­ka­tion. Und diese Kommu­ni­ka­tion ist so vorsichtig. Die Gespräche zwischen den beiden Haupt­fi­guren haben ja auch immer die Struktur von Verhören. Techniken der Macht werden zu Techniken der Liebe.

artechock: Die Rembrandt-Bild­be­trach­tung erzählt uns aber noch etwas anders: Sie erzählt uns, wie wir auf ein Bild zu schauen haben, und das Kunst nicht die natu­ra­lis­ti­sche Wahrheit erzählt. Damit erzählen Sie etwas über Ihren Film, darüber, wie wir uns diese Geschichte anzu­schauen haben...

Petzold: Genau. Das Tolle ist, wie Rembrandt in dem Bild über die Anatomie mit den Mitteln der Malerei eine Störung produ­ziert, und sagt: Es ist diese Falte, dieser Bruch, Freunde, es ist nicht das, was aufgeht, was inter­es­sant ist.