Kino nur noch an Feiertagen |
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Bidhan Rebeiro zwischen den bengalischen Regiegrößen Ritwik Ghatak und Mrinal Sen | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Bidhan Rebeiro ist ein bengalischer Schriftsteller, Filmwissenschaftler, Filmkritiker, Dokumentarfilm-Regisseur und CEO der Konvergenzmedien-Plattform Songbad Prokash. Er lebt und arbeitet in Dhaka, Bangladesch.
Das Gespräch führte Axel Timo Purr
artechock: In Mrittika Rasheds Kurzfilm Krishnapakkha (A Burning Soul), den wir vorhin gemeinsam gesehen haben, wird über das Sterben der Kinos in Bangladesch erzählt. Von 1400 Kinos in den 1990er Jahren sind nur noch 240 Kinos verblieben. Eigentlich sind es nur 80, die anderen öffnen nur mehr zu religiösen Feiertagen. Liegt das nur daran, wie einige Kritiker in Bangladesch betonen, dass die Kinos zu kommerziell geworden sind, zu viel Sex-lastige Filme gezeigt und Familien aus den Kinos vertrieben haben?
Bidhan Rebeiro: Ich glaube, das ist nur ein Aspekt der ganzen Geschichte, dennoch ein wichtiger. Dabei muss man daran denken, dass jeder mit seinen Filmen überleben will und stets nach neuen Möglichkeiten sucht, das zu erreichen, so wie die Filme in den frühen 1990ern, die betont auf vulgäre Inhalte gesetzt haben. Das waren sogenannten „Cut-Pieces“, Filme mit Pornoverschnitten aus ausländischen Filmen, die mit einheimischen Filmen zusammengeführt wurden. Ein ziemlich verzweifelter Rettungsversuch, weil es dem Kino auch damals schon sehr schlecht ging. Denn das Fernsehen, vor allem die vielen kleinen Privatsender, wurden in den 1990er Jahren immer wichtiger. Daneben gab es den Vertrieb von VCR, VHS, Raubkopien auf Datenträgern, die viel preiswerter als ein Kinobesuch waren. Man musste damit aber auch nicht mehr aus dem Haus und sich dem irrsinnigen Verkehr, den endlosen Staus in einer Stadt wie Dhakka aussetzen. Deshalb würde ich von drei Faktoren sprechen, die für das Kinosterben verantwortlich sind: Die vulgären Inhalte, die »Privatisierung« des Kinos über neue Technologien und dann das Fernsehen. Das waren die 1990er. Mit dem neuen Jahrtausend wurde dann das Raubkopieren noch einmal perfektioniert, waren die neuesten Filme schon einen Tag nach dem Kino-Release auf der Straße verfügbar. Das war unfassbar gut organisiert. Vom Kinovorführer bis zum Vertrieb, jeder ordnete sich diesem korrupten System unter und mit der Verbreitung der Smartphones, dem einfachen Download von Filmen fragte sich der normale Mensch: warum soll ich 70 Taka (1 Taka = 0,0083 Euro) für einen Kinobesuch ausgeben, wenn ich den Film für 20 Taka auf meinen Handy sehen kann? Und dann kommt, wie schon gesagt, noch der Weg durch die Stadt dazu, das Essen, das du kaufen musst, so dass man am Ende bei 120 oder sogar 150 Taka ist. Und darunter leiden die Kinos hier ganz außerordentlich.
artechock: Gerade im Kontext der niedrigen Löhne hört sich das fast schon unumkehrbar an...
Rebeiro: Es ist schon ein wenig komplexer, gibt es auch Licht am Horizont, denn inzwischen gibt es ja nicht nur Netflix, sondern auch eine ganze Reihe lokaler Streaming-Plattformen, die sich auf qualitativ hochwertigen Content spezialisiert haben.
artechock: Dort können dann auch die vielen kleinen Arthouse-Filme abgerufen werden, für die Bangladesch ja bekannt ist, die aber meist nur auf den großen Leinwänden der Festivals zu sehen sind?
Rebeiro: Oh ja, ein gutes Beispiel dafür ist der 2021 in Cannes gelaufene Rehana Maryam Noor – der erste Film aus Bangladesch, der in „Un Certain Regard“ gezeigt wurde – und den man seit kurzem auf einer der OTT-Portale in Bangladesch streamen kann. Natürlich laufen dort auch die großen Blockbuster des indischen und Bangla-Films und die großen Klassiker des bengalischen Films, die sich ebenfalls zahlreiche Streamer und Youtube-Sub-Channels gesichert haben. Zwar trägt das nicht zum Erhalt der kleinen Kinos bei, aber immerhin geht es den Multiplexen weiterhin recht gut. Neben den indischen und internationalen Blockbustern spielen sie dann und wann für eine Woche auch mal einen der vielversprechenden, neuen Arthouse-Filme. Eine interessante Entwicklung hat vor allem den Multiplexen hier in Dhaka geholfen: um die Kinos herum haben sich Food-Courts etabliert, so dass der Entertainment-Faktor für das Publikum deutlich gestiegen ist oder um präziser zu sein: für die neu entstandene Mittelklasse, die hier dann sowohl gemeinsam essen als auch ins Kino gehen kann.
artechock: Und die ärmeren Schichten?
Rebeiro: Die ärmeren Schichten, die ja eigentlich immer große Fans des „Masala Commercial Films“ waren, diese Filme, die voller Kämpfe, voller Musik und Tanz und natürlich auch Vulgarismen sind, die können sich das nicht mehr leisten. Und wollen sich das auch nicht mehr leisten, weil es dann doch die Wiederholung des immer Gleichen ist.
artechock: Nicht anders als Hollywood, die Marvel-Welt, die vielen Fortsetzungen?
Rebeiro: Exakt, nicht anders ist es hier und deshalb wird auch hier das Narrativ geändert, finden wir plötzlich Frauen im Zentrum der Handlung.
artechock: Und was bleibt den Armen am Ende übrig, wenn sie die Erfahrung der großen Leinwand nicht mehr bezahlen können bzw. wollen?
Rebeiro: Das Fernsehen. Wir haben inzwischen 25 Kanäle, die allesamt gut bespielt sind. Zum Beispiel „My TV“, der 24 Stunden lang Kinofilme rauf und runter spielt. Das kann sich jeder auf seinem kleinen Fernseher leisten und ist auch in den kleinen Tea-Stalls sehr beliebt.
artechock: Die Fernsehsender halten die alte Kinokultur gewissermaßen in Ehren, töten aber die Kinos?
Rebeiro: Genau. Es ist eine groteske Verschiebung. Gewissermaßen lösen die Tea Stalls die Kinos ab. Die Leute sitzen dort und sehen sich bei einem Glas Tee die Filme auf »My TV« an.
artechock: Bangladesch ist ja nicht nur für sein international bekanntes Filmerbe, über das Sie vor kurzem einen Text veröffentlicht haben, sondern auch für seine legendären Cinema-Clubs und Societies bekannt, die ein wenig an die kommunalen Kinos in Deutschland erinnern – versuchen diese alten Initiativen diese Entwicklung nicht auszubremsen?
Rebeiro: Um ehrlich zu sein: Die Societies sind auf dem Weg verloren gegangen. Als sie noch aktiv waren, haben sie vor allem Arthouse-Filme aus dem Ausland bekannt gemacht, es war eine Art Weiterbildung, in Zusammenarbeit mit den Botschaften und Kulturinstituten der verschiedensten Länder. Das waren die 1980er und 1990er. Dann kamen die neuen Speichermedien und die Handys und das Internet mit all seinen Schattenarchiven, wo jeder Film kostenlos erhältlich war und ist. Deshalb geht es auch den Film-Societies heutzutage sehr schlecht. Deshalb versuchen sich einige neu zu erfinden. Wie z.B. die Rainbow Film Society...
artechock:...der Veranstalter des Dhaka International Film Festivals?
Rebeiro: Genau, das war so eine dieser Neuerfindungen der eigenen Identität, doch so richtig gut läuft auch das nicht. Ich kann mich noch erinnern, dass früher fast jeder Film auf dem Festival ausverkauft war, heute passiert das allenfalls bei den großen, bei den ganz neuen Filmen, die aus Bangladesch kommen. Letztes Jahr gab es zum Beispiel eine sehr gut kuratierte Retrospektive der Filme von Kenji Mizoguchi, die keiner sehen wollte, mehr als zwei oder drei Besucher war in keinem der gezeigten Filme anwesend. Der Eintritt war zwar kostenlos, aber dann gibt es den schon erwähnten, berüchtigten Verkehr Dhakas, der es schwer macht, selbst kurze Entfernungen zügig zurückzulegen und es so viel einfacher ist, die ja alle im Internet verfügbaren Filme Mizoguchis einfach herunterzuladen. Und damit auch noch das Geld spart, das man für den öffentlichen Transport aufwenden muss. Außerdem muss ich leider sagen, dass eine Gesellschaft wie die unsere im Herzen und der Seele langsam aber sicher stirbt. Sie ist weder daran interessiert, gute Bücher zu lesen noch gute Filme zu sehen. Sie wollen das Leichte, das Kurze, Facebook-Posts, Reels, Tik-Tok. Vor allem die jüngeren Generationen, die für das gute Kino eigentlich völlig verloren sind.
artechock: Das heißt, ein wichtiger Film wie Khandaker Sumons Saatao – Memories of Gloomy Monsoons, der ja über das Leben der jungen Generation erzählt, wird im eigenen Land explizit von den jüngeren Generationen nicht gesehen? Das wäre ein wenig so wie die Tragik des jungen rumänischen Kinos, das fast ausschließlich auf internationalen Festivals, aber nicht im eigenen Land Erfolge feiert?
Rebeiro: Die einzige Chance wären die Multiplexe, wo immerhin die junge Mittelklasse Zugriff hätte. Aber die gehen selten das Risiko ein, einen derartigen Film zu spielen. Khandaker Sumons, der Regisseur von Sumons Saatao hatte Glück. Nachdem sein Film den FIPRESCI-Preis auf dem Dhaka Filmfestival gewonnen hatte, lief er für eine Woche im Cineplex.
artechock: Aber wenn kaum einer diese Filme sehen will, wie soll ein Regisseur seinen nächsten Film finanzieren, da es ja in Bangladesch keine staatliche Filmförderung gibt?
Rebeiro: Aus genau diesem Grund ist hier in den letzten Jahren das Spenden-Sammeln, also das Crowd-Funding sehr populär geworden.
artechock: Über die klassischen Crowd-Funding-Plattformen im Internet?
Rebeiro: Ja, allerdings eher kleine Beträge aus dieser Richtung, der Großteil wird über die lokalen Streamer und die Fernsehsender gesammelt, von denen sich einige auf genau diese Bangla-Arthouse-Filme spezialisiert haben. Und dann gibt es die Genre-Filme, die immer gut laufen und für die Streamer auch bereit sind, schnell und unbürokratische Gelder bereitzustellen. Zwar träumen auch diese Regisseure von anderen Filmen, aber sie wollen einfach überleben. Das gab es schon einmal in den 1960er Jahren, als die großen Filmemacher dieser Zeit ebenfalls und immer wieder kommerzielle Filme drehen mussten, um zu überleben, man denke nur an Ritwik Ghatak...
artechock: Wo wir gerade darauf zu sprechen kommen: Wie steht es denn um das Andenken an diese alte Garde, an Regiegrößen wie Satyajit Ray, Subhash Dutta, Ritwik Ghatak, Mrinal Sen oder den viel zu früh gestorbenen und im Westen kaum bekannten Zahir Raihan? Sind sie für die jüngere Generation noch wichtig?
Rebeiro: Wer Filme liebt, sieht sich auch diese Filme noch an, auch junge Leute. Und natürlich junge Filmemacher. Denn diese Filme sind natürlich die besten Lehrbücher, die es gibt. Aber darüber hinaus kennt kaum einer mehr diese Namen, diese Filme, die ja alle noch in schwarz-weiß gedreht wurden. Man kann deshalb nur hoffen, dass Bangladesch mit der sehr ehrgeizigen jungen Generation von Filmemachern wieder an den Ruhm der alten Zeiten aufschließt, die Zeiten eines Satyajit Ray, der ja damals weltweit gefeiert wurde. Und die Chance ist real, denn die junge Generation will erstmals seit langem wieder Grenzen überschreiten....
artechock: Aber sind diese Grenzüberschreitungen nicht für die Regierung gefährlich? Für Literatur und eigentlich alle Medien gibt es doch eine sehr rigide Zensur?
Rebeiro: Im Kino ebenfalls. Und für die Streaming-Plattformen bereitet die Regierung gerade neue Gesetze vor. Das war bislang die große, freie Spielwiese. Das sind schlechte Nachrichten, ich weiß. Aber noch geht es, und noch entstehen da ganz außergewöhnliche, sehr mutige Filme!