27.07.2023

Kino nur noch an Feiertagen

Bidhan Rebeiro
Bidhan Rebeiro zwischen den bengalischen Regiegrößen Ritwik Ghatak und Mrinal Sen
(Foto: Axel Timo Purr)

Die Krise des Kinos ist eine weltweite Krise, doch die Ursachen sind unterschiedlich. Bidhan Rebeiro über das einstige Kinowunderland Bangladesch, die Heimat Tollywoods und legendärer Regisseure wie Satyajit Ray, wo Film ohne Kino fast schon Realität ist

Bidhan Rebeiro ist ein benga­li­scher Schrift­steller, Film­wis­sen­schaftler, Film­kri­tiker, Doku­men­tar­film-Regisseur und CEO der Konver­genz­me­dien-Plattform Songbad Prokash. Er lebt und arbeitet in Dhaka, Bangla­desch.

Das Gespräch führte Axel Timo Purr

artechock: In Mrittika Rasheds Kurzfilm Krish­na­pakkha (A Burning Soul), den wir vorhin gemeinsam gesehen haben, wird über das Sterben der Kinos in Bangla­desch erzählt. Von 1400 Kinos in den 1990er Jahren sind nur noch 240 Kinos verblieben. Eigent­lich sind es nur 80, die anderen öffnen nur mehr zu reli­giösen Feier­tagen. Liegt das nur daran, wie einige Kritiker in Bangla­desch betonen, dass die Kinos zu kommer­ziell geworden sind, zu viel Sex-lastige Filme gezeigt und Familien aus den Kinos vertrieben haben?

Bidhan Rebeiro: Ich glaube, das ist nur ein Aspekt der ganzen Geschichte, dennoch ein wichtiger. Dabei muss man daran denken, dass jeder mit seinen Filmen überleben will und stets nach neuen Möglich­keiten sucht, das zu erreichen, so wie die Filme in den frühen 1990ern, die betont auf vulgäre Inhalte gesetzt haben. Das waren soge­nannten „Cut-Pieces“, Filme mit Porno­ver­schnitten aus auslän­di­schen Filmen, die mit einhei­mi­schen Filmen zusam­men­ge­führt wurden. Ein ziemlich verzwei­felter Rettungs­ver­such, weil es dem Kino auch damals schon sehr schlecht ging. Denn das Fernsehen, vor allem die vielen kleinen Privat­sender, wurden in den 1990er Jahren immer wichtiger. Daneben gab es den Vertrieb von VCR, VHS, Raub­ko­pien auf Daten­trä­gern, die viel preis­werter als ein Kino­be­such waren. Man musste damit aber auch nicht mehr aus dem Haus und sich dem irrsin­nigen Verkehr, den endlosen Staus in einer Stadt wie Dhakka aussetzen. Deshalb würde ich von drei Faktoren sprechen, die für das Kinosterben verant­wort­lich sind: Die vulgären Inhalte, die »Priva­ti­sie­rung« des Kinos über neue Tech­no­lo­gien und dann das Fernsehen. Das waren die 1990er. Mit dem neuen Jahr­tau­send wurde dann das Raub­ko­pieren noch einmal perfek­tio­niert, waren die neuesten Filme schon einen Tag nach dem Kino-Release auf der Straße verfügbar. Das war unfassbar gut orga­ni­siert. Vom Kino­vor­führer bis zum Vertrieb, jeder ordnete sich diesem korrupten System unter und mit der Verbrei­tung der Smart­phones, dem einfachen Download von Filmen fragte sich der normale Mensch: warum soll ich 70 Taka (1 Taka = 0,0083 Euro) für einen Kino­be­such ausgeben, wenn ich den Film für 20 Taka auf meinen Handy sehen kann? Und dann kommt, wie schon gesagt, noch der Weg durch die Stadt dazu, das Essen, das du kaufen musst, so dass man am Ende bei 120 oder sogar 150 Taka ist. Und darunter leiden die Kinos hier ganz außer­or­dent­lich.

artechock: Gerade im Kontext der niedrigen Löhne hört sich das fast schon unum­kehrbar an...

Rebeiro: Es ist schon ein wenig komplexer, gibt es auch Licht am Horizont, denn inzwi­schen gibt es ja nicht nur Netflix, sondern auch eine ganze Reihe lokaler Streaming-Platt­formen, die sich auf quali­tativ hoch­wer­tigen Content spezia­li­siert haben.

artechock: Dort können dann auch die vielen kleinen Arthouse-Filme abgerufen werden, für die Bangla­desch ja bekannt ist, die aber meist nur auf den großen Lein­wänden der Festivals zu sehen sind?

Rebeiro: Oh ja, ein gutes Beispiel dafür ist der 2021 in Cannes gelaufene Rehana Maryam Noor – der erste Film aus Bangla­desch, der in „Un Certain Regard“ gezeigt wurde – und den man seit kurzem auf einer der OTT-Portale in Bangla­desch streamen kann. Natürlich laufen dort auch die großen Block­buster des indischen und Bangla-Films und die großen Klassiker des benga­li­schen Films, die sich ebenfalls zahl­reiche Streamer und Youtube-Sub-Channels gesichert haben. Zwar trägt das nicht zum Erhalt der kleinen Kinos bei, aber immerhin geht es den Multi­plexen weiterhin recht gut. Neben den indischen und inter­na­tio­nalen Block­bus­tern spielen sie dann und wann für eine Woche auch mal einen der viel­ver­spre­chenden, neuen Arthouse-Filme. Eine inter­es­sante Entwick­lung hat vor allem den Multi­plexen hier in Dhaka geholfen: um die Kinos herum haben sich Food-Courts etabliert, so dass der Enter­tain­ment-Faktor für das Publikum deutlich gestiegen ist oder um präziser zu sein: für die neu entstan­dene Mittel­klasse, die hier dann sowohl gemeinsam essen als auch ins Kino gehen kann.

artechock: Und die ärmeren Schichten?

Rebeiro: Die ärmeren Schichten, die ja eigent­lich immer große Fans des „Masala Commer­cial Films“ waren, diese Filme, die voller Kämpfe, voller Musik und Tanz und natürlich auch Vulga­rismen sind, die können sich das nicht mehr leisten. Und wollen sich das auch nicht mehr leisten, weil es dann doch die Wieder­ho­lung des immer Gleichen ist.

artechock: Nicht anders als Hollywood, die Marvel-Welt, die vielen Fort­set­zungen?

Rebeiro: Exakt, nicht anders ist es hier und deshalb wird auch hier das Narrativ geändert, finden wir plötzlich Frauen im Zentrum der Handlung.

artechock: Und was bleibt den Armen am Ende übrig, wenn sie die Erfahrung der großen Leinwand nicht mehr bezahlen können bzw. wollen?

Rebeiro: Das Fernsehen. Wir haben inzwi­schen 25 Kanäle, die allesamt gut bespielt sind. Zum Beispiel „My TV“, der 24 Stunden lang Kinofilme rauf und runter spielt. Das kann sich jeder auf seinem kleinen Fernseher leisten und ist auch in den kleinen Tea-Stalls sehr beliebt.

artechock: Die Fern­seh­sender halten die alte Kino­kultur gewis­ser­maßen in Ehren, töten aber die Kinos?

Rebeiro: Genau. Es ist eine groteske Verschie­bung. Gewis­ser­maßen lösen die Tea Stalls die Kinos ab. Die Leute sitzen dort und sehen sich bei einem Glas Tee die Filme auf »My TV« an.

artechock: Bangla­desch ist ja nicht nur für sein inter­na­tional bekanntes Filmerbe, über das Sie vor kurzem einen Text veröf­fent­licht haben, sondern auch für seine legen­dären Cinema-Clubs und Societies bekannt, die ein wenig an die kommu­nalen Kinos in Deutsch­land erinnern – versuchen diese alten Initia­tiven diese Entwick­lung nicht auszu­bremsen?

Rebeiro: Um ehrlich zu sein: Die Societies sind auf dem Weg verloren gegangen. Als sie noch aktiv waren, haben sie vor allem Arthouse-Filme aus dem Ausland bekannt gemacht, es war eine Art Weiter­bil­dung, in Zusam­men­ar­beit mit den Botschaften und Kultur­in­sti­tuten der verschie­densten Länder. Das waren die 1980er und 1990er. Dann kamen die neuen Spei­cher­me­dien und die Handys und das Internet mit all seinen Schat­ten­ar­chiven, wo jeder Film kostenlos erhält­lich war und ist. Deshalb geht es auch den Film-Societies heut­zu­tage sehr schlecht. Deshalb versuchen sich einige neu zu erfinden. Wie z.B. die Rainbow Film Society...

artechock:...der Veran­stalter des Dhaka Inter­na­tional Film Festivals?

Rebeiro: Genau, das war so eine dieser Neuer­fin­dungen der eigenen Identität, doch so richtig gut läuft auch das nicht. Ich kann mich noch erinnern, dass früher fast jeder Film auf dem Festival ausver­kauft war, heute passiert das allen­falls bei den großen, bei den ganz neuen Filmen, die aus Bangla­desch kommen. Letztes Jahr gab es zum Beispiel eine sehr gut kura­tierte Retro­spek­tive der Filme von Kenji Mizoguchi, die keiner sehen wollte, mehr als zwei oder drei Besucher war in keinem der gezeigten Filme anwesend. Der Eintritt war zwar kostenlos, aber dann gibt es den schon erwähnten, berüch­tigten Verkehr Dhakas, der es schwer macht, selbst kurze Entfer­nungen zügig zurück­zu­legen und es so viel einfacher ist, die ja alle im Internet verfüg­baren Filme Mizo­guchis einfach herun­ter­zu­laden. Und damit auch noch das Geld spart, das man für den öffent­li­chen Transport aufwenden muss. Außerdem muss ich leider sagen, dass eine Gesell­schaft wie die unsere im Herzen und der Seele langsam aber sicher stirbt. Sie ist weder daran inter­es­siert, gute Bücher zu lesen noch gute Filme zu sehen. Sie wollen das Leichte, das Kurze, Facebook-Posts, Reels, Tik-Tok. Vor allem die jüngeren Gene­ra­tionen, die für das gute Kino eigent­lich völlig verloren sind.

artechock: Das heißt, ein wichtiger Film wie Khandaker Sumons Saatao – Memories of Gloomy Monsoons, der ja über das Leben der jungen Gene­ra­tion erzählt, wird im eigenen Land explizit von den jüngeren Gene­ra­tionen nicht gesehen? Das wäre ein wenig so wie die Tragik des jungen rumä­ni­schen Kinos, das fast ausschließ­lich auf inter­na­tio­nalen Festivals, aber nicht im eigenen Land Erfolge feiert?

Rebeiro: Die einzige Chance wären die Multi­plexe, wo immerhin die junge Mittel­klasse Zugriff hätte. Aber die gehen selten das Risiko ein, einen derar­tigen Film zu spielen. Khandaker Sumons, der Regisseur von Sumons Saatao hatte Glück. Nachdem sein Film den FIPRESCI-Preis auf dem Dhaka Film­fes­tival gewonnen hatte, lief er für eine Woche im Cineplex.

artechock: Aber wenn kaum einer diese Filme sehen will, wie soll ein Regisseur seinen nächsten Film finan­zieren, da es ja in Bangla­desch keine staat­liche Film­för­de­rung gibt?

Rebeiro: Aus genau diesem Grund ist hier in den letzten Jahren das Spenden-Sammeln, also das Crowd-Funding sehr populär geworden.

artechock: Über die klas­si­schen Crowd-Funding-Platt­formen im Internet?

Rebeiro: Ja, aller­dings eher kleine Beträge aus dieser Richtung, der Großteil wird über die lokalen Streamer und die Fern­seh­sender gesammelt, von denen sich einige auf genau diese Bangla-Arthouse-Filme spezia­li­siert haben. Und dann gibt es die Genre-Filme, die immer gut laufen und für die Streamer auch bereit sind, schnell und unbüro­kra­ti­sche Gelder bereit­zu­stellen. Zwar träumen auch diese Regis­seure von anderen Filmen, aber sie wollen einfach überleben. Das gab es schon einmal in den 1960er Jahren, als die großen Filme­ma­cher dieser Zeit ebenfalls und immer wieder kommer­zi­elle Filme drehen mussten, um zu überleben, man denke nur an Ritwik Ghatak...

artechock: Wo wir gerade darauf zu sprechen kommen: Wie steht es denn um das Andenken an diese alte Garde, an Regie­größen wie Satyajit Ray, Subhash Dutta, Ritwik Ghatak, Mrinal Sen oder den viel zu früh gestor­benen und im Westen kaum bekannten Zahir Raihan? Sind sie für die jüngere Gene­ra­tion noch wichtig?

Rebeiro: Wer Filme liebt, sieht sich auch diese Filme noch an, auch junge Leute. Und natürlich junge Filme­ma­cher. Denn diese Filme sind natürlich die besten Lehr­bücher, die es gibt. Aber darüber hinaus kennt kaum einer mehr diese Namen, diese Filme, die ja alle noch in schwarz-weiß gedreht wurden. Man kann deshalb nur hoffen, dass Bangla­desch mit der sehr ehrgei­zigen jungen Gene­ra­tion von Filme­ma­chern wieder an den Ruhm der alten Zeiten aufschließt, die Zeiten eines Satyajit Ray, der ja damals weltweit gefeiert wurde. Und die Chance ist real, denn die junge Generation will erstmals seit langem wieder Grenzen überschreiten....

artechock: Aber sind diese Gren­zü­ber­schrei­tungen nicht für die Regierung gefähr­lich? Für Literatur und eigent­lich alle Medien gibt es doch eine sehr rigide Zensur?

Rebeiro: Im Kino ebenfalls. Und für die Streaming-Platt­formen bereitet die Regierung gerade neue Gesetze vor. Das war bislang die große, freie Spiel­wiese. Das sind schlechte Nach­richten, ich weiß. Aber noch geht es, und noch entstehen da ganz außer­ge­wöhn­liche, sehr mutige Filme!