»Ich habe nichts im Rückblick zu verleugnen!« |
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I Magliari (1959) |
Francesco Rosi, geboren am 15. November 1922, gestorben am letzten Samstag, dem 10.Januar 2015 in Rom, war unter den Regisseuren Italiens der letzte überlebende Vertreter aus der großen Zeit des italienischen Kinos, der Epoche des Neorealismus, in dessen Tradition auch seine eigenen Arbeiten stehen. Rosi begann seine Karriere Ende der 40er Jahre und arbeitete zunächst als Regieassistent vor allem für Luchino Visconti, für dessen Bellissima (1951) er auch das Drehbuch schrieb, aber auch für Michelangelo Antonioni. 1956 drehte er seinen ersten eigenen Film, und wurde seitdem vor allem als Regisseur von Polithrillern und Mafiadramen berühmt, die eine spannende Dramaturgie mit realistisch ernüchternden Portraits der Verhältnisse in seinem Heimatland verbinden. Immer wieder griff Rosi dabei – etwa in Salvatore Giuliano (1961) oder in Il Caso Mattei, für den er 1972 in Cannes die Goldene Palme gewann – reale Vorgänge auf, und inszenierte sie mit dokumentarischer Präzision. 2010 wurde Rosi beim Filmfestival von Locarno für sein Lebenswerk geehrt – aus diesem Anlass entstand vor Ort das vorliegende Interview.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Sie haben einen Ihrer ersten Filme in Hamburg gedreht: I Magliari im Jahr 1959, der von italienischen Einwanderern erzählt. Wie kam es dazu, dass Sie in Deutschland gearbeitet haben? War das nicht eher ungewöhnlich für einen damals noch unbekannten italienischen Regisseur?
Francesco Rosi: Nun, durch den Neorealismus waren wir Italiener seinerzeit schon etwas in Mode [Lacht]. Ja, I Magliari war eigentlich sogar mein allererster richtiger Film, weil zum ersten Mal das Drehbuch auch von mir stammte. Meine zwei vorherigen Filme waren Auftragsarbeiten. Dass ich den Film gedreht habe, war auch ein Zufall: er ist finanziert worden. Damals ging alles viel schneller. Man hat etwas geschrieben, es einem gezeigt, der Geld hatte, und wenn es genug Geld gab, ist man losgefahren, und hat gedreht. Was mich an dem Stoff interessiert hat, ist einfach zu sagen: Das Milieu der Gastarbeiter in Deutschland. Ihr Leben in der Fremde war damals auch für Italien ein Thema, viele Familien, vor allem im Süden hatten irgendeinen Verwandten, der in den Fabriken Nordeuropas arbeitete. Wer Italienisch versteht, merkt, dass die Hauptfiguren da alle in neapolitanischem Dialekt sprechen. Ich wollte von diesen Neapolitanern erzählen, die da ein ziemlich verlorenes Leben führten, und auch von der Nähe zur Kriminalität, davon, wie schwer es ist, in so einem Leben dem Milieu der kleinen Verbrechen zu entgehen. Davon wollte ich erzählen, und außerdem hat der Film ganz normale spannende Themen: Es geht um Gangster und es gibt eine tolle Liebesgeschichte. Kennen Sie die Hauptdarstellerin? Das war Belinda Lee, eine großartige, wunderschöne junge Engländerin, die seinerzeit ein Shooting-Star war. Nur zwei Jahre später ist sie bei einem Autounfall in Amerika gestorben. Sie wäre eine Große geworden.
Ich erinnere mich gut an den Film und an Hamburg. Auch gut zehn Jahre nach dem Krieg war das eine wunderschöne Stadt, mit ihrem gigantischen Hafen. Hafenstädte haben mich immer besonders angezogen. Ich bin schließlich in Neapel geboren, vielleicht liegt es daran, dass viele meiner Filme in Hafenstädten spielen. Und Hamburg hat mich damals auch in seinem Geist an Neapel erinnert. Es war dort eine ausgelassene Stimmung, voller Lebensfreude.
In Salvatore Giuliano gibt es kaum Musik, in I Magliari dagegen einiges mehr. Ich erinnere mich an jene Szene in einer Nachtbar auf der Reeperbahn, Musik hat geholfen, um die ausgelassene Stimmung, die Lebensfreude und Ausgelassenheit der Nacht zu schildern. Viele von uns hatten damals
eine Freundin in Neapel und eine Freundin in Hamburg.
Diese Jahre waren sowieso eine sehr lebensfrohe, ausgelassene Zeit. Das ist heute wohl schwer nachzuvollziehen: Aber die Leute wollten den Krieg vergessen. Auch die Jungen hatten noch irgendwelche Erinnerungen daran, er war auch nach über zehn Jahren noch sehr präsent.
artechock: Ihre Drehbuch Co-Autorin war seinerzeit die berühmte Suso Cecchi d’Amico, die gerade erst vor zwei Wochen mit 96 Jahren gestorben ist...
Rosi: Ein großer Verlust. Sie ist unersetzlich. Suso Cecchi d’Amico ist mit unserer großen Kino-Epoche verbunden, wie keine Zweite. Denn sie hat ja mit allen gearbeitet. Sie war eine herausragende Autorin, voller Sinn für das, was der Film braucht, und sie konnte sich blendend auf die jeweiligen Regisseure, ihre speziellen Bedürfnisse einstellen. Ich kannte Suso schon aus der Zeit, in der ich für Visconti gearbeitet hatte. Wir haben noch zweimal miteinander gearbeitet, unter anderem in Salvatore Giuliano. Andererseits war ich nie so auf einen Co-Autor fixiert, wie das manche anderen Regisseure sind. Ich habe immer wieder gern etwas Neues ausprobiert.
artechock: Sie gelten Filmhistorikern als Regisseur von Politthrillern und Mafiastoffen. Fühlen Sie sich da eigentlich richtig gesehen?
Rosi: Mich hat es immer interessiert, Filme zu machen, die spezifisch repräsentativ für die historische Situation sind, die etwas über ein rein individualistische Handlung hinaus erzählen, denen es gelingt, Analysen und Auseinandersetzungen zu provozieren. Insofern ist das schon richtig gesehen, denn Mafia und politische Korruption gehören leider bis heute zur gesellschaftlichen Wirklichkeit – in Italien, aber auch anderenorts. Es ist sehr schwierig, einen angemessenen Film über die Mafia oder die Camorra zu drehen, denn entweder verklärt man alles zu sehr, arbeitet am Mafia-Mythos, oder man erfasst das Phänomen nicht richtig – denn zu dem gehört ja der Mythos als essentieller Bestandteil dazu.
artechock: Sehen Sie eigentlich Nachfolger der großen italienischen Kinotradition unter den jüngeren Regisseuren? Haben Sie Gomorrha gesehen?
Rosi: Gesehen, und das Buch von Roberto Saviano habe ich auch gelesen. Beide haben den Mut, den Fakten direkt ins Auge zu sehen. Ich komme aus Neapel, ich darf das sagen: Da existiert noch ein richtiger Plebs – Leute ohne Erziehung, ohne Moral, ohne soziale Werte. Gomorra konfrontiert uns damit direkt.
Ich finde es daher einen Skandal, dass die derzeitige italienische Regierung statt den Autor zu unterstützen, dessen Leben immerhin bedroht wird, auch noch mit Dreck bewirft, ihm vorwirft, das Ansehen Italiens zu beschädigen. Das ist auch eine Frage der Moral. Ich rede jetzt nicht von Religion – ich bin Atheist – sondern von ganz einfachen grundlegenden Werten des Zusammenlebens. Unsere Regierung sollte zumindest ein wenig Vorbild für die Jungen sein, positive Werte unterstützen. Aber es ist fatal: Die Regierung lebt im Gegenteil negative Werte vor: Willkür, Gier, man gibt mehr Geld aus, als man hat, wer andere Ansichten vertritt, wird schlecht gemacht, auf Erziehung wird kein Wert gelegt – ich mache mir Sorgen. Und ich bin froh, wenn Filme das aufgreifen, und die Verantwortlichen anklagen
artechock: Welche stilistischen Einflüsse erscheinen Ihnen für Ihr eigenes Werk im Rückblick am wichtigsten? Der von Visconti?
Rosi: Hören Sie: Ich denke, dass jeder Filmautor, dem es gelingt, in seinen Filmen wahrhaftig zu sein, und eine wahrhaftige Beschreibung der Realität seines Landes zu geben, auch einem anderen Regisseur und einem anderen Land etwas gibt. Die Art, in der die Wirklichkeit einer Figur und meines Landes repräsentiert ist, gibt dem Film seine jeweils besondere Bedeutung. Insofern ist Kino universal. Natürlich war es ein Traum, bei einem Meister wie Visconti zu lernen. Aber ich kann Ihnen keine Namen nennen. Ich kann nur antworten, dass ich Filme und Filmemacher mag, die wahrhaftig sind, die die Realität der jeweiligen Situation und ihrer Geschichte nicht verleugnen.
artechock: Haben Sie in Ihrem eigenen Werk einen Lieblingsfilm?
Rosi: Ich habe keine echten Präferenzen. Jeder Film ist Zeugnis einer langen, intensiven Arbeit. Jeder Film steht für einen bestimmten Augenblick meines Lebens, für bestimmte Menschen, und auch für die Epoche, in der er entstand, für einen historischen Zeitpunkt. Und dieser Ausschnitt der Wirklichkeit ist im Film enthalten, hoffentlich für jeden Zuschauer. Wenn ich einen Film wiedersehe, kommt er jedenfalls immer wieder hoch. Ich erinnere mich sehr gut an alle meine Filme. Aber an manche nicht mehr, als an andere. Natürlich könnte ich es mir jetzt leicht machen, und sagen Salvatore Giuliano oder Cadaveri eccelenti liegen mir besonders im Herzen, weil sie sehr bekannt sind. Oder sagen: Die unbekannten Kinder sind mir die liebsten. Aber das wäre beides nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass ich das Glück habe, keinen meiner Filme im Rückblick verleugnen zu wollen. Darüber bin ich sehr froh.