10.03.2022

»Was passiert, wenn der Staat sagt: Du bist nicht mehr da?«

Rhim Ibir
Mitten in Europa
(Foto: Grandfilm)

Regisseur Philip Scheffner und Drehbuchautorin Merle Kröger erzählen in ihrem neuen Film Europe vom Verschwinden einer Migrantin aus der Mitte von Europa. Ein Gespräch darüber, wie man von einer fiktiven Situation erzählen kann, die durch und durch real ist

In Frank­reich heißen sie „Sans papiers“, Doku­men­ten­lose, die ihren Status nicht mehr nach­weisen können, weil sie sich ohne Aufent­halts­er­laubnis in dem Land aufhalten. Philip Scheffner und Merle Kröger erzählen in ihrem neuen Film Europe von einer Migrantin, die ihren »legalen« Status verliert. Sie wollten wissen, was passiert, wenn der Staat sagt: Du bist nicht mehr da – und Migrant*innen zum Verschwinden bringt. Der Film hatte Premiere auf dem Forum der Berlinale, das Treffen fand in einem ziemlich lauten Café am Potsdamer Platz statt. Im Arsenal wäre es ruhiger gewesen, aber Kaffee musste sein: am Vorabend erst war die Premie­ren­feier.

Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: Über Europe heißt es, es sei euer erster Spielfilm. Das hat mich etwas gewundert, denn eure anderen Filme waren immer „zwischen den Stühlen“, zwischen Doku­men­tar­film und Insze­nie­rung.

Philip Scheffner: Schön, dass du das sagst. Da wird jetzt plötzlich eine künst­liche Grenze einge­führt, die wir selbst nie gezogen haben. Das ist völlig schräg.

artechock: Die ersten Bilder haben einen doku­men­ta­ri­schen Gestus, aus dem sich eine Prot­ago­nistin heraus­schält. Gleich im ersten Moment wusste ich: Die kenne ich! Sie hat mit eurem Film davor zu tun und stand mit euch bei der Berlinale-Premiere auf der Bühne. Was hatte Rhim Ibrir mit Havarie zu tun?

Scheffner: Wir waren auf der Suche nach Leuten, die mit dem Boot, das man in Havarie sieht, gefahren sind. Wir haben dann in Algerien jemanden kennen­ge­lernt, der die Überfahrt schon acht Mal gemacht hatte! Der Grund war: Er wollte zu seiner Frau, die in Frank­reich saß. Die Frau war Rhim Ibrir, die wegen ihrer Skoliose und der notwen­digen medi­zi­ni­schen Behand­lung einen Aufent­halts­titel in Frank­reich hatte. Sie war also in Frank­reich, er in Algerien. Das war der Grund für die vielen Über­fahrten. Eine Woche später haben wir Rhim in Châtel­ler­ault besucht, an der Place de L’Europe und haben mit ihr für Havarie doku­men­ta­ri­sche Aufnahmen gemacht.

Merle Kröger: Es war August. Die Place de l’Europe war leer­ge­fegt. Rhim war allein und hatte die Schlüssel für verschie­dene Wohnungen. Und es gab eine Schild­kröte.

Scheffner: Alles war so, wie jetzt in Europe. Wir haben mit Rhim Inter­views gemacht, Gänge gefilmt. Das waren noch Dreh­ar­beiten zu Havarie.

artechock: Ihr hattet euch dann entschieden keine anderen Bilder in den Film hinein­zu­nehmen außer dem Boot, das auf dem Wasser treibt…

Scheffner: Nach der Fertig­stel­lung von Havarie haben die nicht verwen­deten Bilder in uns gegärt. Wir haben uns noch mal das gefilmte Material von Rhim angesehen. Wir fanden: Da ist was, aber irgendwas funk­tio­niert auch nicht. Wir haben dann heraus­ge­funden: Eigent­lich befindet sich Rhim Ibrir in einem vom Staat fiktio­na­li­sierten Zustand. Sie wird fiktio­na­li­siert. Sie hat ein soziales Umfeld, ein Leben, eine Wohnung, eine Arbeit. Sie hat alles. Sie kann Bus fahren, sie kann sich mit Freunden treffen. Und auf einmal sagt der Staat, von einem Tag auf den anderen: All das ist nicht mehr existent! Du bist nicht mehr existent! Das heißt auch: Zwischen ihr und der Welt wird eine Grenze einge­zogen. Sie teilt ihren sozialen Raum nicht mehr mit den anderen. Sie wird jetzt in einem anderen Raum verortet, der rein fiktiv ist. Wenn sie Frank­reich nicht verlässt, muss sie diesen fiktiven Raum auch entwi­ckeln. Sie muss sich Geschichten ausdenken. Sie kann jetzt eben nicht mehr einfach Bus fahren. Das kann man nicht doku­men­ta­risch erzählen, auch wenn die Geschichte von Europe genau Rhims Geschichte erzählt.

artechock: Ein Plot des Lebens also?

Scheffner: …in dem die Fiktion genau ihre Lebens­si­tua­tion kenn­zeichnet und doku­men­ta­ri­sche Arbeits­weisen diesen Zustand verschleiern würden.

artechock: Der Film besteht aus drei Teilen, die drei Stufen zünden: den Realis zu Beginn, den Irrealis im mittleren Teil und den Poten­tialis im letzten Teil. So erzählt ihr von der Wirk­lich­keit, der Unwirk­lich­keit und der Möglich­keit. Gleich­zeitig verändert sich der Status von Rhims Filmfigur. Im ersten Teil ist sie durch­ge­hend präsent, im zweiten ist sie nicht zu sehen, und im dritten scheint sie allein zu sein.

Scheffner: Zum Zeitpunkt der Dreh­ar­beiten war das, was du als Realis bezeich­nest, absolut irreal. Das war reine Fiktion. Irrealis und Poten­tialis waren für Rhim die Realität! Das ganz normale, »reale« Leben, das wir am Anfang zeigen, ist für sie die größte Fiktion von allen.

artechock: Wobei sich die Fiktion von Anfang an extrem mitteilt. Alle sind wahn­sinnig gut gelaunt, alles ist im Zustand des Happy Ends. Das macht auch miss­trau­isch.

Kröger: Wir wollten die Banlieue einmal anders zeigen, ihr etwas Klein­s­täd­ti­sches geben, so wie wir sie erlebt haben. Das, was wir als Vorstadt im Kopf haben, hat in Wirk­lich­keit eine ganz feine Textur an sozialen Bezie­hungen. Fast alle kennen sich, der Busfährer fährt wirklich immer da lang und redet mit allen. Das ist dörflich. Und es hat tatsäch­lich diese wahn­sin­nige Norma­lität, dieses Klein­bür­ger­liche.

artechock: Ihr erzählt mit einer starken Bild­me­ta­phorik vom Verschwinden. Wenn Rhim im zweiten Teil aus dem Film verschwindet, ist das ein ziemlich radikaler Einschnitt, der einen aus dem Erzähl­fluss und auch erst einmal aus der Geschichte rauswirft: Man muss erst einmal die Situation auf der Leinwand durch­bli­cken und hofft die ganze Zeit, dass die Figur zurück­kommt. Wie kamt ihr darauf, das formal so zu erzählen, dass Rhim im zweiten Teil tatsäch­lich überhaupt nicht mehr im Bild erscheint?

Scheffner: Das ist schon in der Recherche entstanden, als wir versucht haben, die Situation zu verstehen: Was passiert, wenn einem eine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung wegge­nommen wird? Wenn einem ein Leben, eine Präsenz wegge­nommen wird? An einem Ort, mit dem man total in Verbin­dung steht. Deshalb spielt in den Aufnahmen der Raum so eine zentrale Rolle. Rhim ist im Raum verortet, man sieht sie im Raum, der sie umgibt. Wir haben im Film nur eine Groß­auf­nahme von ihr, der Rest setzt sie immer in Beziehung zum Raum. Dafür haben wir eine extreme Tiefen­schärfe einge­setzt: Du siehst alles! Du hast nicht diese filmische Blur­ri­ness, die alles so schön macht. Alles ist zu sehen, aber auf einmal ist Rhim nicht mehr da. Das ist wie ein Cut-out aus diesem prägnanten, hellen Ort. Hier gibt es nicht die Möglich­keit, sich im Bild zu verste­cken.

Die grund­le­gende Frage war: Was passiert, wenn der soziale Raum nicht mehr geteilt wird? Wenn der Staat sagt: du bist nicht mehr da! Wir haben die von ihm vorge­ge­bene Perspek­tive ernst genommen. Wenn der Staat sagt, sie darf nicht da sein, dann dürfen wir sie auch nicht zeigen, obwohl wir wissen, dass sie immer noch da ist. Wir können sie auch nicht mehr hören. Der Dialog im sozialen Raum wird auf einmal zu einem reinen Monolog, in dem man sich den Rest erschließen muss. Das ist eine Form, die aus dem Versuch, etwas zu analy­sieren, entstanden ist.

Mir ist wichtig, dass diese Form aber keine Umsetzung ist, ich hasse dieses Wort, das ist fehl­ge­leitet. Als wäre da die Idee und man fragt sich: Wie machen wir das jetzt am besten? So funk­tio­niert Filme­ma­chen für uns nicht. Die Form kam daher, dass wir die Situation analy­siert hatten, daraus haben sich bestimmte Dinge abge­leitet, aus denen sich wiederum andere Konse­quenzen ergeben haben. Und am Schluss stehst du da und sagst: Aha, so sieht also das Bild aus!

artechock: Die Bild­wer­dung eines unsicht­baren Zustands also. Eigent­lich ist es nicht darstellbar.

Scheffner: Wir haben ganz viel mit den Rändern der Kadrie­rung gear­beitet. Im ersten Teil ist alles voller Ton, Leute gehen aus und ins Bild. Und dann wird es immer enger. Im dritten Teil definiert Rhim diesen Raum und diese Grenzen komplett um. Sie kommu­ni­ziert mit einem Raum, den wir jetzt nicht sehen und auch nicht hören und desta­bi­li­siert damit unsere Beob­ach­ter­po­si­tion. Wir sind fest­ge­na­gelt auf die Position, die eigent­lich ihr zuge­schrieben wurde.

artechock: Welchen Status haben dieser dritte Raum und die unsicht­baren Leute, mit denen sie kommu­ni­ziert, für euch?

Kröger: Sie geht in fiktive Räume, die ihr Kraft zum Überleben geben, und um aus ihrer Situation heraus­zu­kommen. Das ist, was die Leute in ihrer Situation tun, sie hauen nicht in der Präfektur auf den Tisch, wie man das im Kino sieht. Der fiktive Raum gibt ihr Schutz und Kraft. Er macht sie auch einsam, aber sie bekommt ihre Kontrolle zurück. Lieber geht sie in diesen Raum, als dass sie sich auflöst in dem sozialen Raum, in dem keiner mehr ist.

Scheffner: Sie ist auch nicht komplett alleine. Sie trifft jemand in diesem Raum, der viel­leicht in einer ähnlichen Situation ist wie sie. Entschei­dend ist: Jetzt agiert sie, sie reagiert nicht mehr. Sie agiert Dinge aus, sie ist sehr aktiv. Sie ist kein Opfer der Situation.

artechock: Ihre Figur ist sehr stark, was auch mit Rhim Ibrirs Präsenz auf der Leinwand zu tun hat. Diese kleine Person, die den Raum durch­schreitet und dabei ganz erfüllt. Und ihr strah­lendes Lächeln! Wie habt ihr mit Rhim Ibrir gear­beitet?

Scheffner: Sie hat ein Gesicht, auf dem sich alles abzeichnet. Sie muss gar nichts machen. Ihre körper­liche Präsenz, ihr Gesicht schreien nach Groß­auf­nahmen, auf die haben wir bewusst verzichtet, weil wir sie nicht vom Raum ablösen wollten. Wir wollten auch die klas­si­sche Perspek­tive auf eine migran­ti­sche Frau verändern. Ich gehe also nicht ganz nah dran, an die migran­ti­sche Frau, die sich wehrt und stolz ist, und mit der ich mich iden­ti­fi­zieren darf, obwohl mein Leben voll­kommen anders ist.

artechock: Die Leere des Raums im dritten Teil erzählt auch, was passiert, wenn die Migranten nicht mehr da sind. Wenn sich die Fiktion der Rechten bewahr­heitet. Wenn alle ausge­wiesen sind, ist dort das Leben weg. Das teilt sich im dritten Teil ganz stark mit. Veran­schau­licht er, was ist, wenn wir diesen Raum leerfegen?

Kröger: Ja, Europa gibt und nimmt. Aber wir entscheiden. Genau so ist es beim Filme­ma­chen: Wir geben und nehmen jemandem die Leinwand. Wie musst du sein, damit dir eine Leinwand gegeben wird? Das hat uns sehr beschäf­tigt.

Scheffner: Rhim Ibrirs radi­kalste Möglich­keit im Film ist, den Film zu verlassen. Das ist das letzte Bild. Nicht die Kamera verlässt sie, sondern sie verlässt uns. Wir bleiben da, an dieser Bushal­te­stelle und müssen irgendwie damit zurecht­kommen.

artechock: Unab­hängig von Rhims realer Geschichte hättet ihr einen ganz klas­si­schen Paul-Laverty-Plot stricken können: Der Weg durch die Instanzen, der Arzt fährt in den Urlaub und ist nicht erreichbar – das schreit danach erzählt zu werden, wie sie versucht, ihn zu erreichen, ihr legt dazu die Fährte aus – und dann verzichtet ihr darauf.

Kröger: Wir haben das angelegt und teilweise auch gedreht, im Schnitt dann aber teilweise noch weiter reduziert. Wir haben das Drehbuch zusammen mit der Community entwi­ckelt, unsere Darsteller sollten sich mit den Szenen wohl­fühlen. Mit allen gab es Diskus­sionen, wir haben aufge­passt, dass sich auch niemand vikti­mi­siert sieht. Jede Nacht haben wir das Drehbuch umge­schrieben.

Scheffner: Das war auch, weil wir wenig impro­vi­sie­rend gedreht haben. Wir wussten, dass wir mit unseren klaren Plan­se­quenzen im Schnitt hinterher nichts mehr lösen können.

artechock: Ab Teil 2 verschwindet auch der Plot. Wir finden nur noch eine stagnie­rende Situation vor, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Verwei­gert ihr euch dem Märchen, das so gerne erzählt wird, dass dann doch alles gut ausgeht?

Scheffner: Tatsäch­lich gibt es das auch bei uns. Es funk­tio­niert aber anders. Es funk­tio­niert mit dem Film und durch den Film, aber nicht im Film. Europe kommt aus einer ganz doku­men­ta­ri­schen Source: Wir überlegen, was die Situation kenn­zeichnet. Wir kommen zur Fiktion. Wir befragen die fiktio­nale Film­sprache, wie sie uns helfen kann, darüber nach­zu­denken. Unser Spielfilm schafft dann in der Realität andere Tatsachen: Du musst eine Situation schaffen, in der du eine Dreh­ge­neh­mi­gung hast, du musst der Person, mit der du drehst, einen Arbeits­ver­trag geben. Arbeit bedeutet Zugang zu einem zumindest tempo­rären Aufent­halt. Am Ende hast du eine Fiktion kreiert, die ganz reale Auswir­kungen hat. So bekam Rhim Ibrir eine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung, obwohl sie, als wir den Film mit ihr machen wollten, keine hatte. Erst durch den Film ist sie überhaupt in Teil 1 ange­kommen. Sie hat eine Wohnung bekommen, weil sie einen Film gedreht hatte, und lebt jetzt wieder in »Europe«.