»Was passiert, wenn der Staat sagt: Du bist nicht mehr da?« |
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Mitten in Europa | ||
(Foto: Grandfilm) |
In Frankreich heißen sie „Sans papiers“, Dokumentenlose, die ihren Status nicht mehr nachweisen können, weil sie sich ohne Aufenthaltserlaubnis in dem Land aufhalten. Philip Scheffner und Merle Kröger erzählen in ihrem neuen Film Europe von einer Migrantin, die ihren »legalen« Status verliert. Sie wollten wissen, was passiert, wenn der Staat sagt: Du bist nicht mehr da – und Migrant*innen zum Verschwinden bringt. Der Film hatte Premiere auf dem Forum der Berlinale, das Treffen fand in einem ziemlich lauten Café am Potsdamer Platz statt. Im Arsenal wäre es ruhiger gewesen, aber Kaffee musste sein: am Vorabend erst war die Premierenfeier.
Das Gespräch führte Dunja Bialas
artechock: Über Europe heißt es, es sei euer erster Spielfilm. Das hat mich etwas gewundert, denn eure anderen Filme waren immer „zwischen den Stühlen“, zwischen Dokumentarfilm und Inszenierung.
Philip Scheffner: Schön, dass du das sagst. Da wird jetzt plötzlich eine künstliche Grenze eingeführt, die wir selbst nie gezogen haben. Das ist völlig schräg.
artechock: Die ersten Bilder haben einen dokumentarischen Gestus, aus dem sich eine Protagonistin herausschält. Gleich im ersten Moment wusste ich: Die kenne ich! Sie hat mit eurem Film davor zu tun und stand mit euch bei der Berlinale-Premiere auf der Bühne. Was hatte Rhim Ibrir mit Havarie zu tun?
Scheffner: Wir waren auf der Suche nach Leuten, die mit dem Boot, das man in Havarie sieht, gefahren sind. Wir haben dann in Algerien jemanden kennengelernt, der die Überfahrt schon acht Mal gemacht hatte! Der Grund war: Er wollte zu seiner Frau, die in Frankreich saß. Die Frau war Rhim Ibrir, die wegen ihrer Skoliose und der notwendigen medizinischen Behandlung einen Aufenthaltstitel in Frankreich hatte. Sie war also in Frankreich, er in Algerien. Das war der Grund für die vielen Überfahrten. Eine Woche später haben wir Rhim in Châtellerault besucht, an der Place de L’Europe und haben mit ihr für Havarie dokumentarische Aufnahmen gemacht.
Merle Kröger: Es war August. Die Place de l’Europe war leergefegt. Rhim war allein und hatte die Schlüssel für verschiedene Wohnungen. Und es gab eine Schildkröte.
Scheffner: Alles war so, wie jetzt in Europe. Wir haben mit Rhim Interviews gemacht, Gänge gefilmt. Das waren noch Dreharbeiten zu Havarie.
artechock: Ihr hattet euch dann entschieden keine anderen Bilder in den Film hineinzunehmen außer dem Boot, das auf dem Wasser treibt…
Scheffner: Nach der Fertigstellung von Havarie haben die nicht verwendeten Bilder in uns gegärt. Wir haben uns noch mal das gefilmte Material von Rhim angesehen. Wir fanden: Da ist was, aber irgendwas funktioniert auch nicht. Wir haben dann herausgefunden: Eigentlich befindet sich Rhim Ibrir in einem vom Staat fiktionalisierten Zustand. Sie wird fiktionalisiert. Sie hat ein soziales Umfeld, ein Leben, eine Wohnung, eine Arbeit. Sie hat alles. Sie kann Bus fahren, sie kann sich mit Freunden treffen. Und auf einmal sagt der Staat, von einem Tag auf den anderen: All das ist nicht mehr existent! Du bist nicht mehr existent! Das heißt auch: Zwischen ihr und der Welt wird eine Grenze eingezogen. Sie teilt ihren sozialen Raum nicht mehr mit den anderen. Sie wird jetzt in einem anderen Raum verortet, der rein fiktiv ist. Wenn sie Frankreich nicht verlässt, muss sie diesen fiktiven Raum auch entwickeln. Sie muss sich Geschichten ausdenken. Sie kann jetzt eben nicht mehr einfach Bus fahren. Das kann man nicht dokumentarisch erzählen, auch wenn die Geschichte von Europe genau Rhims Geschichte erzählt.
artechock: Ein Plot des Lebens also?
Scheffner: …in dem die Fiktion genau ihre Lebenssituation kennzeichnet und dokumentarische Arbeitsweisen diesen Zustand verschleiern würden.
artechock: Der Film besteht aus drei Teilen, die drei Stufen zünden: den Realis zu Beginn, den Irrealis im mittleren Teil und den Potentialis im letzten Teil. So erzählt ihr von der Wirklichkeit, der Unwirklichkeit und der Möglichkeit. Gleichzeitig verändert sich der Status von Rhims Filmfigur. Im ersten Teil ist sie durchgehend präsent, im zweiten ist sie nicht zu sehen, und im dritten scheint sie allein zu sein.
Scheffner: Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war das, was du als Realis bezeichnest, absolut irreal. Das war reine Fiktion. Irrealis und Potentialis waren für Rhim die Realität! Das ganz normale, »reale« Leben, das wir am Anfang zeigen, ist für sie die größte Fiktion von allen.
artechock: Wobei sich die Fiktion von Anfang an extrem mitteilt. Alle sind wahnsinnig gut gelaunt, alles ist im Zustand des Happy Ends. Das macht auch misstrauisch.
Kröger: Wir wollten die Banlieue einmal anders zeigen, ihr etwas Kleinstädtisches geben, so wie wir sie erlebt haben. Das, was wir als Vorstadt im Kopf haben, hat in Wirklichkeit eine ganz feine Textur an sozialen Beziehungen. Fast alle kennen sich, der Busfährer fährt wirklich immer da lang und redet mit allen. Das ist dörflich. Und es hat tatsächlich diese wahnsinnige Normalität, dieses Kleinbürgerliche.
artechock: Ihr erzählt mit einer starken Bildmetaphorik vom Verschwinden. Wenn Rhim im zweiten Teil aus dem Film verschwindet, ist das ein ziemlich radikaler Einschnitt, der einen aus dem Erzählfluss und auch erst einmal aus der Geschichte rauswirft: Man muss erst einmal die Situation auf der Leinwand durchblicken und hofft die ganze Zeit, dass die Figur zurückkommt. Wie kamt ihr darauf, das formal so zu erzählen, dass Rhim im zweiten Teil tatsächlich überhaupt nicht mehr im Bild erscheint?
Scheffner: Das ist schon in der Recherche entstanden, als wir versucht haben, die Situation zu verstehen: Was passiert, wenn einem eine Aufenthaltsgenehmigung weggenommen wird? Wenn einem ein Leben, eine Präsenz weggenommen wird? An einem Ort, mit dem man total in Verbindung steht. Deshalb spielt in den Aufnahmen der Raum so eine zentrale Rolle. Rhim ist im Raum verortet, man sieht sie im Raum, der sie umgibt. Wir haben im Film nur eine Großaufnahme von ihr, der Rest setzt sie immer in Beziehung zum Raum. Dafür haben wir eine extreme Tiefenschärfe eingesetzt: Du siehst alles! Du hast nicht diese filmische Blurriness, die alles so schön macht. Alles ist zu sehen, aber auf einmal ist Rhim nicht mehr da. Das ist wie ein Cut-out aus diesem prägnanten, hellen Ort. Hier gibt es nicht die Möglichkeit, sich im Bild zu verstecken.
Die grundlegende Frage war: Was passiert, wenn der soziale Raum nicht mehr geteilt wird? Wenn der Staat sagt: du bist nicht mehr da! Wir haben die von ihm vorgegebene Perspektive ernst genommen. Wenn der Staat sagt, sie darf nicht da sein, dann dürfen wir sie auch nicht zeigen, obwohl wir wissen, dass sie immer noch da ist. Wir können sie auch nicht mehr hören. Der Dialog im sozialen Raum wird auf einmal zu einem reinen Monolog, in dem man sich den Rest erschließen muss. Das ist eine Form, die aus dem Versuch, etwas zu analysieren, entstanden ist.
Mir ist wichtig, dass diese Form aber keine Umsetzung ist, ich hasse dieses Wort, das ist fehlgeleitet. Als wäre da die Idee und man fragt sich: Wie machen wir das jetzt am besten? So funktioniert Filmemachen für uns nicht. Die Form kam daher, dass wir die Situation analysiert hatten, daraus haben sich bestimmte Dinge abgeleitet, aus denen sich wiederum andere Konsequenzen ergeben haben. Und am Schluss stehst du da und sagst: Aha, so sieht also das Bild aus!
artechock: Die Bildwerdung eines unsichtbaren Zustands also. Eigentlich ist es nicht darstellbar.
Scheffner: Wir haben ganz viel mit den Rändern der Kadrierung gearbeitet. Im ersten Teil ist alles voller Ton, Leute gehen aus und ins Bild. Und dann wird es immer enger. Im dritten Teil definiert Rhim diesen Raum und diese Grenzen komplett um. Sie kommuniziert mit einem Raum, den wir jetzt nicht sehen und auch nicht hören und destabilisiert damit unsere Beobachterposition. Wir sind festgenagelt auf die Position, die eigentlich ihr zugeschrieben wurde.
artechock: Welchen Status haben dieser dritte Raum und die unsichtbaren Leute, mit denen sie kommuniziert, für euch?
Kröger: Sie geht in fiktive Räume, die ihr Kraft zum Überleben geben, und um aus ihrer Situation herauszukommen. Das ist, was die Leute in ihrer Situation tun, sie hauen nicht in der Präfektur auf den Tisch, wie man das im Kino sieht. Der fiktive Raum gibt ihr Schutz und Kraft. Er macht sie auch einsam, aber sie bekommt ihre Kontrolle zurück. Lieber geht sie in diesen Raum, als dass sie sich auflöst in dem sozialen Raum, in dem keiner mehr ist.
Scheffner: Sie ist auch nicht komplett alleine. Sie trifft jemand in diesem Raum, der vielleicht in einer ähnlichen Situation ist wie sie. Entscheidend ist: Jetzt agiert sie, sie reagiert nicht mehr. Sie agiert Dinge aus, sie ist sehr aktiv. Sie ist kein Opfer der Situation.
artechock: Ihre Figur ist sehr stark, was auch mit Rhim Ibrirs Präsenz auf der Leinwand zu tun hat. Diese kleine Person, die den Raum durchschreitet und dabei ganz erfüllt. Und ihr strahlendes Lächeln! Wie habt ihr mit Rhim Ibrir gearbeitet?
Scheffner: Sie hat ein Gesicht, auf dem sich alles abzeichnet. Sie muss gar nichts machen. Ihre körperliche Präsenz, ihr Gesicht schreien nach Großaufnahmen, auf die haben wir bewusst verzichtet, weil wir sie nicht vom Raum ablösen wollten. Wir wollten auch die klassische Perspektive auf eine migrantische Frau verändern. Ich gehe also nicht ganz nah dran, an die migrantische Frau, die sich wehrt und stolz ist, und mit der ich mich identifizieren darf, obwohl mein Leben vollkommen anders ist.
artechock: Die Leere des Raums im dritten Teil erzählt auch, was passiert, wenn die Migranten nicht mehr da sind. Wenn sich die Fiktion der Rechten bewahrheitet. Wenn alle ausgewiesen sind, ist dort das Leben weg. Das teilt sich im dritten Teil ganz stark mit. Veranschaulicht er, was ist, wenn wir diesen Raum leerfegen?
Kröger: Ja, Europa gibt und nimmt. Aber wir entscheiden. Genau so ist es beim Filmemachen: Wir geben und nehmen jemandem die Leinwand. Wie musst du sein, damit dir eine Leinwand gegeben wird? Das hat uns sehr beschäftigt.
Scheffner: Rhim Ibrirs radikalste Möglichkeit im Film ist, den Film zu verlassen. Das ist das letzte Bild. Nicht die Kamera verlässt sie, sondern sie verlässt uns. Wir bleiben da, an dieser Bushaltestelle und müssen irgendwie damit zurechtkommen.
artechock: Unabhängig von Rhims realer Geschichte hättet ihr einen ganz klassischen Paul-Laverty-Plot stricken können: Der Weg durch die Instanzen, der Arzt fährt in den Urlaub und ist nicht erreichbar – das schreit danach erzählt zu werden, wie sie versucht, ihn zu erreichen, ihr legt dazu die Fährte aus – und dann verzichtet ihr darauf.
Kröger: Wir haben das angelegt und teilweise auch gedreht, im Schnitt dann aber teilweise noch weiter reduziert. Wir haben das Drehbuch zusammen mit der Community entwickelt, unsere Darsteller sollten sich mit den Szenen wohlfühlen. Mit allen gab es Diskussionen, wir haben aufgepasst, dass sich auch niemand viktimisiert sieht. Jede Nacht haben wir das Drehbuch umgeschrieben.
Scheffner: Das war auch, weil wir wenig improvisierend gedreht haben. Wir wussten, dass wir mit unseren klaren Plansequenzen im Schnitt hinterher nichts mehr lösen können.
artechock: Ab Teil 2 verschwindet auch der Plot. Wir finden nur noch eine stagnierende Situation vor, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Verweigert ihr euch dem Märchen, das so gerne erzählt wird, dass dann doch alles gut ausgeht?
Scheffner: Tatsächlich gibt es das auch bei uns. Es funktioniert aber anders. Es funktioniert mit dem Film und durch den Film, aber nicht im Film. Europe kommt aus einer ganz dokumentarischen Source: Wir überlegen, was die Situation kennzeichnet. Wir kommen zur Fiktion. Wir befragen die fiktionale Filmsprache, wie sie uns helfen kann, darüber nachzudenken. Unser Spielfilm schafft dann in der Realität andere Tatsachen: Du musst eine Situation schaffen, in der du eine Drehgenehmigung hast, du musst der Person, mit der du drehst, einen Arbeitsvertrag geben. Arbeit bedeutet Zugang zu einem zumindest temporären Aufenthalt. Am Ende hast du eine Fiktion kreiert, die ganz reale Auswirkungen hat. So bekam Rhim Ibrir eine Aufenthaltsgenehmigung, obwohl sie, als wir den Film mit ihr machen wollten, keine hatte. Erst durch den Film ist sie überhaupt in Teil 1 angekommen. Sie hat eine Wohnung bekommen, weil sie einen Film gedreht hatte, und lebt jetzt wieder in »Europe«.