Europe

Place de L'Europe

Deutschland/Frankreich 2021 · 109 min. · FSK: ab 0
Regie: Philip Scheffner
Drehbuch: ,
Kamera: Volker Sattel
Darsteller: Rhim Ibrir, Marwane Sabri, Thierry Cantin, Didier Cuillierier, Sadya Bekkouche u.a.
Filmszene »Europe«
In der Präfektur wird das Schicksal erteilt
(Foto: Grandfilm)

Europa ist nur eine Haltestelle

Philip Scheffner und Merle Kröger loten in ihrem Spielfilm Europe die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation neu aus

Alles scheint sich bestens zu fügen für Zohra, die eine Reihe kompli­zierter Rücken­ope­ra­tionen über­standen hat und nun erstmals in ihrem Leben aufrecht gehen und richtig atmen kann. Nach einer abschließenden Sprech­stunde im Kran­ken­haus weiß sie, dass keine weitere Operation mehr nötig sein wird, sie benötigt nun lediglich Reha-Maßnahmen und physio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lungen, Schwimmen schlägt der Arzt vor.

Mit hoff­nungs­frohem, selbst­ge­wissem Blick verlässt Zohra das Kran­ken­haus und steigt in den öffent­li­chen Bus. Leicht liegt der klare Sommertag in der fran­zö­si­schen Klein­stadt Châtel­ler­ault vor ihr, der Busfahrer, der sie aufgrund der häufigen Fahrten zum Kran­ken­haus schon kennt, beglück­wünscht sie dazu, niemals aufge­geben zu haben.

Ein großes Strahlen der Verheißung liegt über dieser wunder­baren Plan­se­quenz mit der Busfahrt zu Beginn des Films: Zohra ist besten Mutes, nun trotz der alge­ri­schen Herkunft in die fran­zö­si­sche Gesell­schaft wirklich Einlass finden zu können und ein neues Leben vor sich zu haben. An der Halte­stelle »Europe«, in dem traban­ten­stadt­ar­tigen Viertel, in dem sie lebt, steigt sie aus. Es wirkt, als komme sie in einer besseren Welt an.

Die Kraft der Zuver­sicht trägt dann den Film noch länger: sie speist all die Szenen, in denen sich die Kamera quasi-doku­men­ta­risch den alltä­g­li­chen Wegen und Begeg­nungen Zohras anschmiegt und in denen sich ein kleiner funk­tio­nie­render Kosmos des fami­liären und freund­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens entfaltet.

Ein letzter Baustein des Gelingens soll bald hinzu­ge­fügt werden. Ehemann Hocine soll aus Algerien nach­folgen, sobald sie die defi­ni­tive Aufent­halts­er­laubnis bekommt. Die Gewährung sollte eigent­lich nur eine Formsache sein. Doch die Behörden sehen den medi­zi­nisch bedingten Grund eines weiteren Aufent­halts in Frank­reich für nicht mehr gegeben.

Damit ändert sich schlag­artig die Tonalität des Films. Es zeigt sich, dass die positive Stimmung einzig und allein dem Blick Zohras, ihrer Zuver­sicht geschuldet war. Und es verschlägt einem unver­mit­telt den Atem, wie nun alles ins Beklem­mende kippt.

Wie der Schock, den Zohra erfährt, im Film umgesetzt wird, sucht seines­glei­chen.

Philip Scheffner, Merle Kröger (Regie, Drehbuch) und Volker Sattel (Kamera) geben dabei nicht das Prinzip der gerad­li­nigen, klaren Insze­nie­rung auf, sie halten die Aufnahmen weiter dicht an der sicht­baren Realität. Doch sie verrücken nun die Koor­di­naten der Einstel­lungen, indem sie Zohra aus dem Bild und dabei scheinbar aus dem Film verbannen. Diese Auswei­sung der Haupt­figur aus ihrer eigenen Geschichte ist einer der span­nendsten filmi­schen Momente, die man sich vorstellen kann.

Zohra sagt niemandem, dass sie nun eigent­lich »illegal« ist, und entzieht sich mit Ausreden dem geplanten gemein­samen Besuch der Verwandten in Algerien. Sie hütet statt­dessen die Wohnung von Nachbarn, die auch in die Ferien gehen, und führt ein Schat­ten­leben.

Der Film macht sich zunutze, dass es August ist, in dem in Frank­reich alle in die Ferien gehen und das allge­meine Leben still­zu­stehen scheint. Diesen Zustand, in dem alles suspen­diert ist, zeigen Scheffner und Sattel als eine Art Klan­des­t­inität, in der die äußere Wirk­lich­keit als gespens­ti­sche Leere erscheint. Manchmal setzt sich Zohra an die verwaiste Bushal­te­stelle Europe und wartet. Phan­ta­siert sie, träumt sie? Kann sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Ereig­nisse ihrem Willen, ihren Wünschen gehorchen lassen? Dass sie überhaupt wieder in die Bilder des Films ihrer eigenen Geschichte gelangt, kann als kühner Akt der Selbst­be­haup­tung, ja als einer der Selbst­er­mäch­ti­gung gelten. Ob ihr die Wirk­lich­keit dabei zu folgen vermag, bleibt in der Schwebe.

Philip Scheffner und Merle Kröger kommen vom Doku­men­tar­film, Europe ist ihr erster Spielfilm im engeren Sinn. Dass er jedoch auf einer doku­men­ta­ri­schen Basis steht, prägt nicht nur seine Erzähl­weise, sondern rührt auch von seiner Entste­hung her. Der ganze Stoff verdankt sich einer Recherche zu den Lebens­ge­schichten von Geflüch­teten, die Scheffner und Kröger für ihren letzten Film Havarie unter­nahmen. Sie lernten dabei Rhim Ibrir kennen, die sie mit ihrer Geschichte und ihrer Präsenz so sehr beein­druckte, dass sie ausgehend von dem für Havarie letztlich nicht verwen­deten Material ein neues Projekt schufen. Das Doku­men­ta­ri­sche wurde ins Fiktio­nale ausge­weitet, und aus Rhim wurde Zohra. »Für sie ist es wahr, was sie spielt. Der Film hört nicht auf. Selbst wenn sie den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie gespielt hat«, so heißt es ganz am Anfang von Europe über Zohra/Rhim. Das ist kein plumper Effekt der Verfrem­dung, der heute eigent­lich bloß noch eine routi­nierte Konven­tion wäre. Sondern eine Ankün­di­gung, die Grenzen zwischen Fiktion und Doku­men­ta­ri­schem nicht aner­kennen zu wollen. Ein Auftakt, beides in einer Versuchs­an­ord­nung, in einem Gedan­ken­ex­pe­ri­ment in Kontakt zu bringen.

Europe hatte seine Urauf­füh­rung im Forum der Berlinale 2022. Er fügte sich dort bestens in die program­ma­ti­sche Aushand­lung des Verhält­nisses von fiktio­nalem Erzählen und doku­men­ta­ri­scher Form ein. Insbe­son­dere kann er als genuiner Beitrag zum flan­kie­renden Programm des Forum Special »Fikti­ons­be­schei­ni­gung« gesehen werden. Bei der soge­nannten »Fikti­ons­be­schei­ni­gung« handelt es sich um einen Rechts­titel der deutschen Einwan­de­rungs- bzw. Auswei­sungs­behörden, der Aufent­halts­rechte unter bestimmten Umständen vorbe­halt­lich als »fiktive« verleiht. Der Film Europe nimmt diesen abstrus klin­genden Rechts­titel zum Anlass seines Gedan­ken­ex­pe­ri­mentes, nur dass sich hier die Prot­ago­nistin diese »Fikti­ons­be­schei­ni­gung« selbst ausstellt. Es wäre an der Wirk­lich­keit, diese auch anzu­er­kennen.