25.08.2011

»Es ist egal, was wir machen, Haupt­sache, wir machen es zusammen«

Film-Zwillinge
Die Film-Zwillinge:
Doreen (Friederike Becht) und Isabel (Luise Heyer)

Ein Interview mit den Zwillingen Susann und Doreen Schimk über ihre Jugenderlebnisse und was sie mit dem Film Westwind zu tun haben

Westwind erzählt die Geschichte der heute 40-jährigen Zwil­lings­schwes­tern Susann und Doreen Schimk, die in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dresden aufge­wachsen sind. Als Susann 2007 ihrem Kompagnon Jörg Trentmann, mit dem sie in Berlin eine Film­pro­duk­ti­ons­firma führt, ihre Erleb­nisse vom Sommer 1988 schildert, ist der sofort begeis­tert. Schnell steht fest, dass das Produ­zen­ten­paar die emotio­nale Mischung aus großen Gefühlen und exis­ten­zi­eller Entschei­dung auf die Leinwand bringen will. Vier Jahre und einen Filmdreh später verraten Susann und Doreen Schimk unter anderem, in welchen Punkten sich die Verfil­mung vom wahren Leben unter­scheidet und was genau so passiert ist. Eines schon mal vorweg: Doreen und Arne waren noch drei Jahre ein Paar.

Das Gespräch führte Elke Eckert.

artechock: Susann, Sie haben den Film produ­ziert und auch am Drehbuch mitge­ar­beitet. Wie schwierig war es für Sie, gleich­zeitig profes­sio­nell und emotional invol­viert zu sein?

Susann Schimk: Ganz schwierig. Ich fühlte permanent die Verpflich­tung, meiner Familie und vor allem meinem Zwilling gerecht zu werden. Und dann hatte ich ja auch noch ein Produkt abzu­lie­fern, die Herstel­lung zu vertreten sowie die Fertig­stel­lung einzu­halten. Ich war ständig in diesem Zwiespalt, einer­seits als Produ­zentin, ander­seits als Zeit­zeugin aktiv zu sein. Bei den Musik­rechten habe ich z.B. total emotional agiert und weit über das geplante Budget einge­kauft.

artechock: Die Musik der achtziger Jahre spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Film.

Susann: Ja, ich wollte unbedingt einen Liebes­film machen. Die Musik spielt deshalb noch eine stärkere Rolle als ursprüng­lich geplant. Auch wenn unsere Bilder vom Balaton einmalig sind und so noch nicht im Kino waren, gelingt es mit Musik besser, das Lebens­ge­fühl einzu­fangen und gleich­zeitig die Zeit zu verorten.

artechock: Doreen, Sie waren nur als Location Scout in den Produk­ti­ons­pro­zess einge­bunden?

Doreen Schimk: Ja, ich war eigent­lich nur dabei, als es darum ging, in Ungarn die Origi­nal­schau­plätze zu finden. Danach bin ich ab und zu infor­miert worden, z.B. darüber, für welche Schau­spie­le­rinnen man sich entschieden hat. Als ich den Film jetzt gesehen habe, war es für mich sehr, sehr aufregend und wahn­sinnig emotional. Und ich habe auch geweint, weil’s dann eben doch meine Geschichte ist.

artechock: Haben Sie sich gut darge­stellt gefühlt?

Doreen: Das Highlight des Films sind tatsäch­lich die beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen. Ich finde, dass sie unsere Zwil­lings­ge­fühls­welt sehr gut trans­por­tieren, was ich mir eigent­lich gar nicht vorstellen konnte, dass das so funk­tio­niert.

artechock: Susann, wie nah ist der Film denn an der Wirk­lich­keit?

Susann: Ziemlich nah, und doch: Im richtigen Leben waren wir keine Ruderer, sondern Hand­bal­le­rinnen. Aber weil uns dieses Bild »Zwei in einem Boot« gefiel, und auch, weil viele Zwillinge Rudern als Leis­tungs­sport betreiben, haben wir das geändert. Aber wir haben genau in dem Pionier­lager gedreht, in dem wir damals auch waren. Und es gibt auch viele Dialoge, die fast identisch sind, z.B. »Es ist egal, was wir machen, Haupt­sache, wir machen es zusammen.« Oder: »Bloß nicht nach­denken.« Original ist auch die Abschieds­szene, in der der Käfer wegfährt und meine Schwester in die Hutablage krabbelt. Und es gab den Arne, die grünen Bade­an­züge, das Tanzen und diese Neugierde von Ost und West.

artechock: Warum wurde im Film Ihr Name abge­än­dert und der ihrer Schwester nicht?

Susann: Der Dreh­buch­autor Ilja Haller hatte, weil er mich gut kannte, ein Problem damit, aus mir, der Produ­zentin, gleich­zeitig die Filmfigur machen zu müssen. Ich habe wegen meines Vornamens mehrmals bei ihm nach­ge­fragt, gerade weil unsere Mutter sich das so gewünscht hätte. Aber er sagte, er braucht einen anderen Namen, um zur Filmfigur zu finden.

artechock: Einer der emotio­nalen Höhe­punkte des Films ist die Nacht, in der Isabel sich von ihrer Schwester verraten fühlt. Gab es die wirklich?

Susann Das war ein bisschen zuge­spitzt. Weil jedes Melodram das Drama braucht, gestal­teten wir diese Katharsis von Isabel. Isa fürchtet, allein gelassen worden zu sein und reagiert deshalb über. Das ist gar nicht gegen ihre Schwester gerichtet, das ist die pure Hilf­lo­sig­keit. Im richtigen Leben war es eher so: Wir mussten uns trennen, damit wir unzer­trenn­lich bleiben.

artechock: Doreen, welche Erin­ne­rungen haben Sie an Ihre Flucht?

Doreen: Heute sehe ich das so, dass ich mir damals der Tragweite meiner Entschei­dung gar nicht richtig bewusst war. Für mich hat sich durch diese West­deut­schen plötzlich die große Chance ergeben, mein schon immer vorhan­denes Fernweh auszu­leben. Und es war natürlich wahn­sinnig aufregend, weil es in Ungarn immer nur darum ging, ob ich die Flucht schaffe oder ob ich im Gefängnis lande. Es gab ja nur diese zwei Optionen. Ich habe mir komi­scher­weise auch keine Gedanken gemacht, was passiert, wenn die Flucht gelingt. Und nachdem die Flucht dann tatsäch­lich geglückt ist, hab ich dage­standen und wusste gar nicht, was ich eigent­lich wollte.

artechock: Also haben Sie fast mehr damit gerechnet, dass es schief­geht?

Doreen: Nein, ich hab einfach nur versucht, meine Ängste zu verdrängen und stark zu sein. Auch um den Hambur­gern zu zeigen, ich bin sehr entschlossen, ich will das machen. Augen zu und durch.

artechock: Können Sie sich erinnern, wie lange Sie sich im Auto, in der Hutablage, verste­cken mussten?

Doreen: Beim VW-Käfer ist ja der Koffer­raum vorne und der Motor hinten. Und direkt hinter dem Rücksitz und dem Motor ist diese Hutablage. Der Motor kann sehr heiß werden, gerade wenn man länger gefahren ist und dann stehen­bleibt. Und deshalb gab es auch im wirk­li­chen Leben eine Probe­fahrt, um auszu­pro­bieren, wie lange ich das überhaupt aushalte. Wir sind um den Balaton gefahren und haben dann auf einer Autofähre gewartet, mit heiß­ge­lau­fenem Motor. Ich hab ungefähr 20, 25 Minuten ausge­halten und danach war ich hochrot ange­laufen und bin völlig verschwitzt wieder raus. Diese Erfahrung hat dann zu der Entschei­dung geführt, dass ich am Tag der Flucht erst ungefähr fünf Minuten vorm Gren­zü­ber­gang auf einem Feldweg mit meinem Badeanzug in die Hutablage gekrochen bin. Wir hatten natürlich die große Hoffnung, dass am Gren­zü­ber­gang keine 35, sondern nur fünf Autos in der Schlange stehen. Letztlich waren es dann wirklich nur vier oder fünf, da hatten wir Glück. Die Hamburger mussten zwar aussteigen, aber es wurde nicht das komplette Auto durch­sucht. Wir waren dann relativ schnell bei den öster­rei­chi­schen Grenz­sol­daten.

artechock: Wie erinnern Sie sich an die Stunden nach der Trennung, Susann?

Susann: Die waren eine Kata­strophe. Ich musste warten, bis mein Zug fährt. Ich bin nicht zurück ins Pionier­lager, ich bin auch nicht in dieses Hotel, wie im Film, ich bin direkt zum Bahnhof. Dann habe ich mich in diesen Zug gesetzt und bin zurück­ge­fahren, 13 Stunden lang. Zu Hause bin ich auf unsere tränenü­ber­strömte Mutter getroffen, die gerade in ihrem Betrieb einen Anruf aus Wien bekommen hatte – von Doreen. Da bin ich dann erst mal zusam­men­ge­bro­chen, erlöst und erschöpft von der ganzen Anspan­nung.

artechock: Doreen, Sie haben also im wirk­li­chen Leben nach der gelun­genen Flucht nicht Ihre Schwester, sondern Ihre Mutter angerufen. Wissen Sie noch, wie sie reagiert hat?

Doreen: Ich habe aus einem Postamt in Wien meine Mutter angerufen. Davor musste ich mir erst mal öster­rei­chi­sches Geld besorgen und die Vorwahl­nummer der DDR raus­finden. Unsere Mutter hat ungefähr fünfmal nach­ge­fragt, wo ich bin, weil sie gar nicht verstanden hat, was ich gesagt habe. Ich hab ja nicht gesagt, ich bin geflüchtet, sondern, dass ich in Wien bin. Es hat lange gedauert, bis sie das wirklich begreifen konnte, und dann kamen natürlich auch gleich die Tränen.

artechock: Wie lange hat das Gespräch gedauert?

Doreen: Das war relativ kurz, weil ich nur drei oder vier Schilling hatte. Es war einfach nur die Meldung: Ich bin in Wien und mir geht’s gut! Und dann mussten wir auch schon aufhören, auch weil wir Angst hatten, dass dieses Telefonat überprüft wird.

artechock: Wie waren denn die ersten Wochen ohne Ihre Zwil­lings­schwester in Hamburg?

Doreen: Die waren sehr aufregend. Ich hatte eigent­lich kaum Zeit, über alles nach­zu­denken und die Trauer zuzu­lassen. Ich war wie im Rausch. Und in einer komplett neuen Welt, die mich von morgens bis abends einge­nommen hat. Ich wollte alles erleben, was es zu erleben gab. Ich komme ja aus einem ganz kleinen Dorf und jetzt war ich in der Weltstadt Hamburg, das hat mich alles schon sehr beein­druckt. Ich war nur am Staunen, so dass ich überhaupt keinen Platz hatte für diesen Verlust. Das ist dann erst viel später gekommen.

artechock: Glauben Sie, dass Ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn Sie damals nicht geflüchtet wären?

Doreen: Ja, auf jeden Fall! Ich glaube schon, dass die Flucht für mein weiteres Leben sehr prägend war. Ich hab ja danach in London, in Südeng­land und in New York gelebt. Immer wieder hat mich das Fernweh raus­ge­trieben. Ich weiß aber nicht, ob ich, wenn ich in Ostberlin groß geworden wäre, auch diesen Drang zur Flucht gehabt hätte. Ich habe nämlich erst viel später begriffen, dass das auch viel mit dem Aufwachsen in diesem kleinen säch­si­schen Dorf, mit diesen länd­li­chen Wert­vor­stel­lungen zu tun hatte, von denen ich weg wollte.