Westwind

Deutschland/Ungarn 2011 · 92 min. · FSK: ab 6
Regie: Robert Thalheim
Drehbuch:
Kamera: Eeva Fleig
Darsteller: Friederike Becht, Luise Heyer, Franz Dinda, Volker Bruch, Hans-Uwe Bauer u.a.
Absolut authentische Bilder

Der Schmerz eines neuartigen Getrenntseins

Ein spröder, atmo­s­phä­risch dichter kleiner Film, nicht das große DDR-Melodram. Keine welt­po­li­ti­schen Ereig­nisse und Konstel­la­tionen, sondern eine einfache deutsch-deutsche Liebes­ge­schichte (nach wahren Bege­ben­heiten). Robert Thalheim und seine Kamera (Eeva Fleig) bleiben in diesem Film stets auf Augenhöhe der zwei Schwes­tern Doreen und Isa, die ihren Sommer 1988 am Balaton in Ungarn in einem DDR-Jugend­lager verbringen. Gemeinsam trai­nieren die Zwillinge für ihre Ruder­kar­riere im Zweier, betreut und beauf­sich­tigt von ihrem älteren Coach Balisch. Aber von Anfang an stören die zwei Wessi-Jungs Arne und Nico aus Hamburg, mit oran­ge­far­benem Käfer, die naive Ziel­stre­big­keit und sozia­lis­ti­sche Idylle der Vorzei­ge­ath­le­tinnen. Der verbotene Ausflug in die Disco, die neueste Musik, die coolen Jungs reizen doch mehr als das stupide Kraft- und Ausdau­er­trai­ning und die beiden biederen Jugend­be­treuer Klaus und Ronny. So entwi­ckelt sich mit roman­ti­schen Hinder­nissen (Zaun mit Loch zum Küssen, Ausgeh­verbot) eine sehr ernst­hafte Verliebt­heit zwischen Doreen und Arne, die die Schwes­tern aus ihrer lieb­ge­won­nenen Symbiose fallen lässt und schließ­lich eine weit­rei­chende Entschei­dung fordert: soll sich Doreen von Arne über die Grenze schmug­geln lassen und mit ihm nach Hamburg gehen?

Sehr gerad­linig wird diese Geschichte erzählt, mit wenig Text, aber sehr aussa­ge­kräf­tigen Blicken und dem Sound­track der späten Achtziger: Depeche Mode, The Cure. Thalheim hätte sich ruhig ganz auf diesen Sound­track verlassen können, statt manche Szenen noch mit etwas zu drama­ti­scher Hinter­grund­musik zu unter­legen. Perfekt wird aber der jugend­liche Horizont der Schwes­tern einge­fangen, die zunächst ganz im Reinen sind mit ihrem Feri­en­lager, dankbar für ihr karges Zelt, die guten Trai­nings­mög­lich­keiten, ganz eins mit ihrem gemein­samen sport­li­chen Ziel. Natürlich schneidet der real exis­tie­rende Sozia­lismus dabei nicht gerade unglaub­lich gut ab. Der Trainer ist ein ziem­li­cher Schleifer, Klaus ist ein Pseudo-Macho und Ronny ein liebens­werter Teddy, der mit seinen deutschen Liedern am Lager­feuer nicht mit den neuesten Chart-Hits konkur­rieren kann, aber der biedere Charme dieser heimelig-provin­zi­ellen Atmo­s­phäre wird nicht voll­s­tändig der Lächer­lich­keit preis­ge­geben und ihren Vertre­tern wird durchaus Sympathie-Spielraum eingeräumt. So erweist sich der Trainer Balisch am Ende als echter Freund der Schwes­tern, nicht als System-Scherge und der beharr­liche Ronny als Liebes-Alter­na­tive zum Wessi Nico. In kleinen Dingen wird der System­un­ter­schied verdichtet, auf den Punkt gebracht: der von Isa aufge­setzte Walk-Man, ein Geschenk Arnes für Doreen, wird von Balisch als ungeheure Provo­ka­tion empfunden und gleich konfis­ziert. Oder die Ungläu­big­keit Isas, als Nico im Restau­rant sein Steak zurück­gehen lässt, weil es nicht wie bestellt „rare“ zube­reitet ist. Die Schwes­tern sind auch keine Opfer des Systems, sondern eher auf der Gewin­ner­seite, immerhin ist das Trai­nings­lager im Ausland die Belohnung für ihren sport­li­chen Erfolg. Wäre da nicht der Westwind, in Gestalt von ange­sagter Musik, Walk-Man, Disco und Auto­fahrten, hätten sie es bestimmt noch bis mindes­tens 1989 in der DDR ausge­halten. Sie fühlen sich geschmei­chelt, sind belustigt, irritiert – zunächst noch ganz beisammen, dann zunehmend ausein­an­der­di­vi­diert von der unter­schied­li­chen Liebes­dy­namik. Span­nender als die eigent­liche Liebes­ge­schichte zwischen Arne und Doreen wird diese Krise der Zwillinge darge­stellt. Der Schmerz des neuar­tigen Getrennt­seins, die verän­derte Wahr­neh­mung als Indi­vi­duum, das Loslassen der Zweie­ri­den­ti­fi­ka­tion. Frie­de­rike Becht und Luise Heyer spielen dies in einer über­ra­genden Natür­lich­keit und Selbst­ver­s­tänd­lich­keit, so dass alle Szenen, ob das gemein­same Rudern auf dem See oder die immer mutiger werdenden Liebes­blicke, absolut authen­tisch wirken und dem Film eine realis­ti­sche Glaub­wür­dig­keit verleihen. Auch die anderen Rollen sind über­zeu­gend besetzt, können sich aber dreh­buch­be­dingt nicht in gleicher Weise profi­lieren.

Wie in der Literatur können nun auch im Kino eher unspek­ta­ku­läre Stoffe und Erzähl­weisen deutsch-deutsche Themen aufgreifen. Das entlastet die Autoren und wird uns sicher noch einige gute Filme bescheren, die uns Menschen statt Proto­typen zeigen werden.