»Geld ist eine Hure!« |
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»Die Börse: kein Spiel für Amateure.« Oliver Stone spricht aus Erfahrung |
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(Foto: Fox) |
Seit einem Vierteljahrhundert gilt Oliver Stone, 64, als einer der wichtigsten Filmregisseure der USA. Der mehrfach Oscar-prämierte Regisseur ist immer auch ein politischer Provokateur mit einer Vorliebe für brisante, umstrittene Stoffe. Mit dem Vietnam-Drama Platoon wurde er bekannt, später provozierte er mit gewagten Projekten wie Natural Born Killers und U Turn, zugleich widmete er sich in JFK, Nixon und zuletzt mit W immer wieder der US-amerikanischen Zeitgeschichte. Jetzt ist er zu einem seiner größten Erfolge zurückgekehrt: Wall Street von 1987 folgt nun Wall Street: Money Never Sleeps über Börse und Finanzmarkt in Zeiten der Krise. Mit Oliver Stone sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Mr. Stone, lassen Sie uns mit einer ganz persönlichen Frage beginnen: Was machen Sie mit Ihrem eigenen Geld? Liegt es zuhause unter Ihrem Kopfkissen, oder investieren Sie es eigentlich noch selbst?
Oliver Stone: Ja, das tue ich. Aber nicht aus Gier, sondern aus Angst. Ich muss drei Kinder und drei Ex-Frauen versorgen. [Lacht] Ich versuche, über Wasser zu bleiben. Ich streue die Risiken, wie alle. Aber nach vielen Jahren bin ich klug genug, um zu wissen, das ich nicht klug bin – geschäftlich. Wenn man Geld machen will, muss man sich 24/7 darum kümmern, und am Computer sitzen. Das kein Spiel für Amateure. Wenn man denkt, das man klüger als andere ist, betrügt man sich selbst. Leute, die richtig Geld machen, sind wie Gekko. Sie haben Sex mit Geld. Geld ist eine Hure, die niemals schläft. Man darf selbst auch nicht schlafen. Sonst ist sie am Morgen weg. Machen wir uns nichts vor: Geld ist wirklich eine Hure. [Lacht]
artechock: Wann begannen Sie, erstmals über eine Wall Street-Fortsetzung nachzudenken?
Stone: Michael Douglas und mein Produzent Ed Pressman sprachen mich darauf bereits 2006 an. Zu diesem Zeitpunkt hat mich das gar nicht interessiert. Ich hatte keine Lust, diese Kultur des exzessiven Reichtums auch noch abzufeiern. Die Blase dehnte und dehnte sich, die Börse stieg und stieg, die Ungleichheit und die Auswüchse wuchsen immer mehr. Es gab keinen Grund, darüber einen Film zu machen. Nach dem Crash hat sich das geändert. Es war eine schwere Herzattacke für das ganze System. Um ein Haar wäre es krepiert, und wurde am Ende nur gerettet, weil man ihm einen dreifachen Bypass eingesetzt hatte, und einen »Stent«, eine Gefäßprothese. Ich bin nicht sicher, ob das auf Dauer genügt. Plötzlich gab es eine völlig neue Perspektive auf die ganze Finanzszene.
artechock: Ihr Vater war bekanntlich selbst ein Wall-Street-Händler. Haben Sie die Figur des väterlichen älteren Börsenhändlers, den Frank Langella spielt, nach seinem Vorbild entworfen?
Stone: Nein, Franks Charakter ist eher nach Richard Fuld von Lehman Brothers. Er ist zwar nicht so schlimm, aber schlimm genug.
Mein Vater war ein ganz anderer Typ. Er war ein richtiger Broker, und er hatte Volkswirtschaft studiert, er begann in den 30er Jahren zu arbeiten, und arbeitete bis in die 70er Jahre. Er war ein ehrlicher Mann, davon bin ich noch heute überzeugt. Er glaubte daran, dass er seinen Kunden diente. Ironischerweise
arbeitete er am Ende für Sandy Weill, der die Basis für Citi-Group legte, einen der ersten Finanz-Supermärkte, indem er American-Express und Versicherungen und die Citi-Bank zusammenlegte – eine der wichtigsten Kooperationen für die New Economy.
Gegenüber der Generation meines Vaters hat sich die Einstellung völlig geändert: Sie sind arrogant, sie dienen nicht mehr, sondern herrschen. Ich hatte einen alten Schulfreund, ich werde ihnen nicht den Namen sagen, der 1999 im Vorstand von Morgan Stanley war. Ich fragte ihn, ob er für mich etwas Geld investieren könnte. Er sagte: Nein, Du hast einfach nicht genug. Diese arrogante Art hat die ganze Wall Street infiziert.
artechock: Was haben Sie von Ihrem Vater für diesen Film gelernt?
Stone: Mein Vater arbeitete wie gesagt 50 Jahre an der Wall Street und er hat mir Sachen gesagt, wie »Warum macht keiner mal einen guten Film über Wirtschaft?« Ich glaube, diese Frage hat mich tatsächlich zu dem ersten Wall Street-Film motiviert. In gewissem Sinn war die Wirtschaft zur Zeit meines Vaters eine wunderbare Welt. In den 50ern und 60ern habe ich ein bisschen von dieser Welt mitbekommen: Es gab damals eine Ehrlichkeit und eine Integrität und ein Glauben an den Kapitalismus, die ich an meinem Vater sehr gemocht habe. Er hat es ganz ernst gemeint, wenn er sagte: Kapitalismus kann funktionieren! Wenn dieser mit ein bisschen Regulierung und eine gewissen Bescheidenheit einhergeht.
Er hat mir auch ein paar Grundsätze beigebracht, von denen ich bis heute überzeugt bin: Kein Profit ohne Produktion. Solche Ideen sind in den ersten Film eingeflossen. Der Vater sagt dort zu seinem Sohn: Geh raus und produziere etwas. Die Wirtschaftsbranche hat sich seitdem radikal gewandelt. Und das noch einmal und erst recht in den 2000ern. 23 Jahre sind ein langer Zeitraum: Es ist soviel passiert, die Gier hat sich multipliziert.
artechock: Das heißt: In Gordon Gekko finden wir nichts von Ihrem Vater?
Stone: Nichts! Mit der Welt von Gordon Gekko hatte all das gar nichts mehr zu tun. Gordon Gekko ist geradezu die Antithese zu meinem Vater. Er ist ein unmoralischer Bastard. Er ist brillant in dem, was er tut. Er ist ungemein erfolgreich. Schauen Sie nur die Ausgangslage im zweiten Film an: Er kommt aus dem Gefängnis, er hat seine Macht und seinen Einfluss verloren, er hat ein Buch geschrieben, in dem er brillant alle Schattenseiten des aktuellen Wirtschaftssystems analysiert, und er schafft es gleichzeitig trotzdem wieder selbst einen Fuß in die Tür zu kriegen. Er nutzt die Panik der anderen aus, und macht damit ein Vermögen. Das ist schon eine Wendung. Wäre er einfach der gleiche Gordon Gekko gewesen, der er im ersten Film gewesen war, hätte ich das sehr langweilig und öde gefunden.
artechock: Warum hat dieser Bastard uns alle im Publikum derart fasziniert?
Stone: Weil er ein Gewinner war. Moralische Vorwürfe interessieren da keinen. Die Leute lieben Sieger. Nicht, dass ich davon besonders fasziniert wäre. Ich mag ihn nicht. Aber für einen bestimmten Schlag Menschen war er sehr attraktiv. Ich selbst bevorzuge eindeutig die Figuren, die Shia La Beouf und Charlie Sheen spielen. Aber ich bin nicht notwendig repräsentativ für die Mehrheit des Publikums.
artechock: Sonst wären Sie vielleicht selbst Börsenhändler geworden... Aber als Filmemacher geben Sie Gordon Gekko natürlich in diesem Film doch die Chance, sich selbst zu erlösen...
Stone: Er gibt zehn Prozent zurück. Nennen Sie es Erlösung, oder nennen Sie es einen Gekko-Deal. Allemal ist es ein gutes Geschäft, denn er bekommt einen Enkel dafür. Ich weiß nicht, ob er ein besserer Mensch geworden ist, und ob er ein besonders großes Herz hat. Aber er hat jetzt ein bisschen mehr Herz, als früher. Er hat im Gefängnis gelitten.
Wissen Sie: Ich habe in Wirklichkeit viele solche Typen getroffen. Die meisten von ihnen sind völlig amoralisch. Wenn Sie soviel Geld machen wollen, müssen Sie 24/7 (24 Stunden, sieben Tage die Woche) an nichts anderes denken, als an Geld. Sie machen das alles nicht aus Wohltätigkeit, auch wenn Sie nebenbei ein bisschen Charity-Kram machen. Sie machen das wegen des Geldes. Weil Sie davon besessen sind. Weil sie gewinnen wollen. Gewinnen, gewinnen, gewinnen. Diese Typen sind nicht wie Nixon – sie haben keine Selbstzweifel. Sie sind eher wie George W. Bush, aber intelligenter.
artechock: Würden Sie sich als Gewinner bezeichnen?
Stone: Nein, ich bin eine Mischung. Ich habe auch viele Niederlagen erlebt. Aber »Niederlagen sind Siege anderer Art.« – das ist ein Dialogsatz aus meinem Film Alexander. Und es stimmt: Man lernt von den Niederlagen viel mehr, als man wahrscheinlich von Siegen lernt. Aber ab und zu braucht man auch einen Triumph, um sich gut zu
fühlen.
Ich versuche, Kunst zu machen, die meine eigene Lebenswirklichkeit spiegelt. Also habe ich viele Zweifel und Skrupel.
artechock: Von bestimmten Sujets scheinen Sie ja regelrecht besessen zu sein: Direkt bevor Sie sich der Fortsetzung von Wall Street zuwandten, haben Sie Ihre dritte Interview-Dokumentation über Fidel Castro gedreht. Was verbindet beide Themen für Sie?
Stone: Dass sie sich weiterentwickeln. Und dass es nicht so leicht ist, ihnen gegenüber eine eindeutige Meinung zu haben. Mein drittes Interview mit Castro heißt »Castro im Winter«. Es geht um einen Mann in der Abenddämmerung seines Lebens. Er ist 84 Jahre alt, und körperlich geht es ihm nicht gut, aber er ist immer noch geistig hellwach, es war ein wundervolles Interview. Was an Castro doch interessant ist: Er kämpft einerseits sein
ganzes Leben gegen Wall Street. Er ist überzeugt, dass er für viele seiner Landsleute viel Gutes getan hat, und wahrscheinlich hat er recht. So hätte mein Vater umgekehrt auch den Kapitalismus verteidigt: Dass er für viele Leute etwas Gutes tut.
Die Faszination eines Castro liegt ja darin, dass er an die ganzen Lügen nie geglaubt hat.
artechock: Sie betrachten Castro aus US-Perspektive...
Stone: Klar: Castro ist der Stachel im Fleisch, den wir nicht besiegen konnten. Was mich an ihm immer besonders interessiert hat: Er war der einzige, der sich immer dem amerikanischen Imperialismus widersetzt hat. Das ist eine hässliche Geschichte. Castro hat immer schon vieles ausgesprochen, was heute allgemeiner Konsens ist.
artechock: Ich hörte, Sie wollten einen Film über den iranischen Präsident Achmadinedschad machen?
Stone: Dies war eine Komödie der Irrungen. Tatsächlich wollte ich eine Dokumentation machen, ähnlich wie meine Filme über Castro, über die Staatsmänner Südamerikas, über Arafat. Erst hatten sie abgelehnt, dann – ob sie es glauben oder nicht – zugestimmt, da konnte ich dann aber nicht, weil ich gerade meinen Film W über George W. Bush gedreht hatte. Es war ein lächerliches Hin und Her. Ich bin davon überzeugt, dass Bush, wenn er im Irak Erfolg gehabt hätte, den Iran angegriffen hätte. Ich fürchtete einen Krieg. Die ganze Situation ist sehr hässlich, man weiß nicht, wer lügt, und wer die Wahrheit sagt.
artechock: Sie haben mehrere Dokumentarfilme gedreht, zuletzt auch einen Film über den demokratischen Aufbruch in Lateinamerika. Gibt es Ihrer Ansicht etwas, das das die demokratischen Präsidenten Lateinamerikas gelernt haben aus der politisch-ökonomischen Konfrontation mit Wall-Street-Amerika?
Stone: Puhhh! Das ist eine hässliche Geschichte. Die neuen politischen Führer in Lateinamerika, kämpfen ja vor allem gegen den IWF, den Weltwährungsfonds. Der wurde ja im Prinzip aus Lateinamerika hinausgeworfen. Das war eine gute Lektion für sie. Aber leider hat das in den USA niemand mitbekommen. Aber im Prinzip hat sich der IWF in mancher Hinsicht stark verändert. Was daraus in Zukunft wird, kann man noch nicht sagen.
Die osteuropäischen Länder sind scheinbar fügsamer, als die lateinamerikanischen. Aber auch dort wird der IMF inzwischen infrage gestellt. China stellt ihn infrage. Das ganze System von Bretton Woods funktioniert nicht mehr.
artechock: Sollte Europa Ihrer Ansicht nach den IWF stärker in Frage stellen? Haben wir genug aus der letzten Finanzkrise gelernt?
Stone: Hm... Gute Frage. Ich denke: Vielleicht hätten wir die Banken hochgehen lassen sollen. Zur Hölle mit ihnen! Es wäre ein großes Chaos geworden für zwei, drei Jahre, aber heute wären wir in einer besseren Position.
Die guten Banken, etwa die kanadischen, hätten die Krise gut überstanden. Auch europäische Banken: Grupo Santander, Barclays Bank in England, die Wells Fargo Bank in den USA. Es gibt auch gute Banken, und im Grunde ist
denen gegenüber die Rettung der schlechten Banken sehr ungerecht. Es wären sehr interessante Zeiten geworden.
Zudem gibt es auch ein paar neue junge Banken. Warum haben wir eigentlich mit diesen alten trotteligen und unmoralischen Riesenbetrieben zu tun, zu tun, die zu groß sind, um untergehen zu dürfen? »Too big to fail« – das ist ein ganz bescheuerter Ausdruck. Ich finde, sie müssen untergehen.
Es ist auch eine falsche Denkweise, die ich von anderen Bereichen her kenne. Mit dem Motto »too big to fail« verteidigt man auch immer wieder große Militäroperationen, obwohl sie längst gescheitert sind: Vietnam war »too big to fail«, Irak, heute Afghanistan. »Too big to fail« heißt eigentlich nur: Es ist schon gescheitert. Das ist ein Codewort für Desaster.
artechock: Glauben Sie denn, dass das derzeitige Finanzsystem langfristig überhaupt in der Lage ist, seine Probleme zu lösen?
Stone: Ich bin unsicher: Kann Kapitalismus in seiner jetzigen Form funktionieren? Es scheint doch so zu sein, dass das einfach nicht der Fall ist. Kapitalismus scheint unreguliert zu sein und immer größere Exzesse zu erleben. Jedenfalls haben viele Leute diesen Eindruck, und ich gehöre dazu. Computer haben die Macht übernommen. Und es gab auch eine große Kluft zwischen den Analyseabteilungen und den Händlern auf dem Parkett. Von den Forschungsabteilungen haben die nicht viel mitbekommen. Es war wie mit Bush und dem Irak: Sie veränderten die Analyse-Ergebnisse so lange, bis das herauskam, was sie hören wollten. Das ist erschreckend. Mein Vater würde sich im Grab umdrehen.
Ich würde mich über ernsthafte Reformen freuen. Es gibt Ansätze dazu, aber es gibt auch enorme Aufgaben. Ich weiß nicht, wohin das alles führen wird. Es scheint, als wären wir durch das viele Geld trunken geworden. 1987 als ich Wall Street drehte, dachte ich wirklich, das System würde sich selbst korrigieren. Ich glaubte an so etwas wie Selbstheilungskräfte des Marktes, aber davon kann keine Rede sein. Das System hat sich nicht korrigiert. Die Dinge wurden im Gegenteil noch viel viel schlimmer: Seit 1973 sind die Durchschnittseinkommen in den USA inflationsbereinigt in etwa konstant geblieben. Dabei hat die Produktivität deutlich zugenommen. Wo ist das hingegangen? Es gibt eine enorme Kluft zwischen denen, die Geld gemacht haben, und jenen, die keines gemacht haben. Diese Kluft spiegelt sich in den Gehältern der Manager, der CEOs und denen der Aktionäre. Stockholders/Aktionäre und CEOs haben Geld gemacht. Normal arbeitende Menschen nicht. Sie haben Geld verloren, sie haben immer weniger Geld zur Verfügung, sie sind verarmt. In alldem liegt eine ungeheure Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Das sollte sich ändern.
Also, ich glaube, es weiß niemand, wie groß die Selbstheilungskräfte des Marktes sind? Einige Ökonomen würden antworten, dass Zerstörung schöpferisch ist – der Wiener Ökonom Schumpeter sprach von »schöpferischer Zerstörung« – und dass sie erlaubt sein sollte. Dass die Banken untergehen dürfen. Und dass es dem Markt erlaubt wird, dass er sich selbst korrigiert. Das bedeutet freies Unternehmertum. Diese ganzen Leute, die so gern deregulieren wollen, die sollten bitteschön nach ihren eigenen Regeln leben und behandelt werden: Der Markt hat über sie sein Urteil gesprochen. Wer mit dem Schwert lebt und herrscht, soll auch durch das Schwert umkommen.
Ich glaube dass unser jetziges Vorgehen nichts Gutes bewirkt. Der Patient steht nach wie vor unter starken Medikamenten. Die Banken sind krank, und sie tun nichts Gutes für Arbeitsplätze, für Wirtschaft, sie kosten nur Steuergeld.
Psychologoisch ist die Stagnation sehr gefährlich. Die Leute, alle Leute müssen einen Bruch spüren.
In diesem Film geht es ja im Prinzip um Vertrauen. Wir misstrauen den Banken in Amerika. Die Leute fragen sich: Wozu ist eine Bank gut? Sie leiht mir kein Geld, wenn ich sie brauche, sie nimmt viel Geld von mir.
Es ist ein interessantes Zeitalter: Alle Leute sind unsicher. Vielleicht ist eine gewisse Destabilisierung eine gute Sache. Will dann alle etwas lernen. Rüttelt alle mal am System! Was erreichen wir auf die sanfte Tour? Das einzige, was Leute bewegt, ist Angst. Schauen Sie auf die Klimakonferenzen: Wir befinden uns in einem Zustand allgemeiner Stagnation. Erst wenn die Leute wirklich Angst bekommen, wenn sie begreifen, dass es so nicht weitergeht, ändern sie etwas. Die Regierung in den USA tut einstweilen überhaupt nichts.
artechock: Worauf käme es vor allem an?
Stone: Wir haben völlig vergessen, wozu die Börse eigentlich da ist. Sie wurde geschaffen, um Geld für sozialen Nutzen, und für die Unternehmen bereitzustellen, nicht umgekehrt, um das Geld von woanders abzuziehen, wo es mehr gebraucht wird. Ich hasse es zu sagen: Aber 40 Prozent der Profite der US-Unternehmen gingen zuletzt in den Finanzmarkt. Sie wurden also nicht investiert, um die Produktion zu verbessern, oder Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Und im Finanzmarkt selbst verhält es sich ähnlich: Goldman-Sachs hat 70 Prozent ihres Gewinns behalten. Sie haben es nicht an ihre Kunden weitergegeben. Und sie haben ihre eigenen Regeln gemacht. Dass das möglich ist, ist fürchterlich. Dafür wurden sie nicht gemacht. Banken waren früher einmal dazu da, als eine Art Vermittler zu funktionieren. Das war es, was mein Vater gemacht hat: Er war eine Art Vermittler für Geschäfte. Aber heute haben diese Vermittler die Kontrolle übernommen, und alle von sich abhängig gemacht. Das ganze System ist disproportional geworden. Selbst Alan Greenspan hat inzwischen zugegeben, dass alles inzwischen die Form irrationaler Übertreibung angenommen hat.
artechock: Wenn die Banken noch gieriger sind als Gordon Gekko, muss man dann nicht von Wall Street in ganz anderer Form erzählen?
Stone: Man kann das schlecht illustrieren. Banken sind gesichtslos und anonym – schon ihrer Definition nach. In meinem Film gebe ich Ihnen mit George Brolin und Eli Wallach ein Gesicht. Ich bin Dramatiker und glaube an Menschen. Sie geben dem Anonymen ein Gefühl. Ich dieser Hinsicht war JFK mein kompliziertester Film. Wall Street ist aber auch extrem kompliziert. Wir haben trotzdem eine ganze Ebene völlig weggelassen: Wie wollen Sie zum Beispiel Derivate erklären? Der Derivate-Markt ist viel größer, als der Aktienmarkt. Er hat eine Zerstörungskraft, die ist größer, als die der Neutronenbombe – und keiner weiß genau, was es ist, wie man es erklärt. Das gehört in einen Dokumentarfilm.
artechock: Hatten Sie eigentlich je Angst, mit Ihrem Film zu spät zu kommen?
Stone: Nein, denn Wall Street 2 ist kein Film über die Finanzkrise. Es ist ein Film über sechs Leute in dieser Finanzwelt. Wenn Sie den Film in fünf Jahren ansehen, wird er immer noch aktuell sein. Wie der erste Wall Street.
artechock: Wo haben Sie eigentlich gedreht? Hat Wall Street kooperiert?
Stone: Wir waren sehr willkommen durch den ersten Film, weil der so ein großer Erfolg war, und auch den Händlern gut gefiel.
Trotzdem: Die Goldmans dieser Welt verschlossen ihre Türen. Sie waren sehr arrogant. Aber die Royal Bank of Canada war sehr kooperativ. Sie gaben uns ihre Räume, um dort zu drehen. Das hat wohl damit zu tun, dass sie kein schlechtes Gewissen hatten. Sie haben andere, bessere Regeln, und daher in der Krise kaum
Geld verloren.
An einem Abend hatten wir ein sehr interessantes Essen mit 15 jungen Leuten von der Citi-Bank. Sie kamen gerade von der Business-School, und erlebten den größten Crash seit der Depression – es war ihr Pearl Harbour. Es ging ihnen so, wie mir in Vietnam: »Training on the Ground«, sie lernten am Boden.
artechock: Die Schurken in Ihren Filmen sind immer Männer, aber die Helden auch. Interessieren Sie Frauen nicht als Filmfiguren?
Stone: Ich glaube nicht, dass das so stimmt: Cleopatra oder Lucrezia Borgia haben große schurkische Qualitäten. Ich habe nichts gegen Frauen! [Lacht] Zum Beispiel liebe ich die Olympias, die Mutter von Alexander in meinem Film, die von Angelina Jolie gespielt wird. Das ist eine großartige, dramatische Frauenfigur. Schauen Sie sich nur die erweiterte Version von Alexander an. Sie existiert auf DVD und heißt Alexander revisited. Das ist meine Lieblingsversion. Sie ist drei Stunden 43 Minuten lang – so hatte ich den Film geschrieben. Gottverdammt!
artechock: Sie haben schon drei US-Präsidenten portraitiert: Wäre Präsident Obama für sie auch so eine interessante Figur?
Stone: Weniger. Mich interessieren Dramen, nicht Nachrichten. Die Geschichte von Obama hat bisher noch keine Form. Ihm fehlt Charisma. Er hat nicht diesen Clinton-Touch, diese instinktive echte Nähe zu den Menschen. Um ein Populist zu sein, braucht man aber genau das. Das ist sehr schwer zu bekommen. Clinton hatte es. Obama nicht. Er hat das Aussehen, er hat das Hirn, er kann gut reden. Aber hat er das Herz?
artechock: Clinton würde sie also interessieren?
Stone: Ich denke, dass er ein großartiger Charakter war. Aber das heißt nicht, dass ich einen Film über ihn machen will. Ich jage nicht jedem Präsidenten hinterher. [Lacht] George W. Bush ist ein deformierter Charakter, aber ganz bestimmt faszinierend, weil er soviel Erfolg hatte. Er hat verwirklicht, was er wollte: Er verfolgte alle möglichen Leute, er brach alle Verträge, er zerstörte die UN, er brach den Willen der Europäer – es ist nicht zu glauben, dass der Typ mit all dem, was er verbrochen hatte, so einfach davon gekommen ist. Nur weil er so ignorant ist. Wenn man dumm genug ist, wenn man keine Zweifel hat, kann man alle anderen kaputt machen. Nixon hatte zu viele Zweifel, war zu sensibel, deshalb hat er sich selber kaputt gemacht. Ich denke: Stupidität und Dummheit funktioniert.
Alexander ist ein anderer Fall. Er war vielleicht der größte Held von allen. Er hatte Zweifel, aber er konnte mit ihnen umgehen, und sie überwinden, und weitermachen. Das liebe ich so an ihm. Wie Kennedy. Wie Roosevelt. Das sind für mich Helden der Geschichte.
Sie müssen sich nächstes Jahr meine Dokumentation The Untold History of the United States angucken. Ich habe drei Jahre daran gearbeitet, und bin so stolz darauf. Die ist fürs Fernsehen entstanden, in 12 Teilen. Sie erzählt, wie Amerika ein Empire wurde, von 1900 bis 2002. Das hat noch keiner gemacht. Ein sehr ehrgeiziges Projekt, eines der ehrgeizigsten Projekte meines Lebens.
artechock: Von der unerzählten Geschichte der USA abgesehen: Wie sehen Sie die Zukunft Amerikas? Wird das amerikanische Imperium bestehen bleiben?
Stone: Oh nein! Wir sind fertig. Über jedes Maß hinaus ausgedehnt. Wir sind wie Rom. Wir bauen immer höhere Mauern, um die Barbaren vor den Toren zu halten. Aber was ist aus Roms Mauern geworden? Das ist völlig nutzlos. Wir haben tausende von Militärbasen in der ganzen Welt verstreut. Das ist krank. Wir sind krank. Und wir leben mit Regression in unseren Köpfen. Ich denke, es gibt keine Hoffnung.
artechock: Am Ende dieses Films scheinen Sie immerhin etwas Hoffnung in die neuen Medien zu setzen...
Stone: Ja, in alternative Webseiten, wie Wikileaks. Da brauchen um zu funktionieren natürlich „whistleblower“, also irgendeinen, der den Mut hat und die Wahrheit nach außen trägt. Ansonsten haben die Medien ihre Funktion, die Kritik, eingebüßt. Weil die Leute das nicht wollen. Aber da irren sie sich.
Stattdessen gucken sie dauernd Nachrichten: Aber brauchen wir wirklich ununterbrochene, unendliche Nachrichten? Wenn das Leben ein Bewusstseinsstrom ist, müssen dann die Nachrichten auch ein Bewusstseinsstrom sein? Wie wichtig sind Nachrichten? Brauchen wir wirklich andauernde Nachrichten? Denken Sie nicht manchmal, wenn Sie ins Internet schauen, dass Sie verrückt werden? Wo ist der Sinn der Sache? Ob hier ein Diktator gestürzt wird, dort ein Mord geschieht... Wie wichtig sind immer neue Nachrichten? Wem bringt es was? Gibt es nicht einen Punkt, an dem sie ausschalten?
Gedopte Nachrichten, gedopte Banken, gedopter Krieg. Das ist alles verrückt.