19.11.2009

»Meine Vergan­gen­heit hat mich eingeholt«

Ex-Heimkind Richard Sucker bei einer Lesung
Vergangenheitsbewältigung:
Ex-Heimkind Sucker bei einer Lesung

Richard Sucker, einer der Protagonisten des Dokumentarfilms Die Unwertigen, über seine Zeit als Heimkind, seine Mutter und den Kampf um sein Recht.

Richard Sucker wird im Januar 77 Jahre alt. Wenn er von seinem Kampf­sport, seinen selbst­ge­malten Aqua­rellen und seiner Liebe zur Natur erzählt, wirkt der drahtige Mann zehn Jahre jünger. Trotzdem musste Sucker mit 58 Jahren in Frührente gehen, weil er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. 40 Jahre lang hatte das ehemalige Heimkind versucht, die schlimmste Zeit seines Lebens zu verdrängen. Bis ihn Albträume nicht mehr schlafen ließen und Sucker erkannte, dass er sich mit seiner Vergan­gen­heit ausein­an­der­setzen muss. Der Schrei zum Himmel heißt sein Buch, in dem er von den brutalen Erzie­hungs­me­thoden und der Zwangs­ar­beit erzählt, die er als Kind und Jugend­li­cher in kirch­li­chen Heimen erleiden musste und durch die er sich sein Leben lang trau­ma­ti­siert gefühlt hat. Außerdem sitzt der Nürn­berger als betrof­fener Zeitzeuge mit am Runden Tisch, den der Bundestag zur Aufar­bei­tung des Schick­sals ehema­liger Heim­kinder einge­richtet hat.
Mit Richard Sucker sprach Elke Eckert.

artechock: Sie wurden im Alter von zwei Jahren Ihrer Mutter entzogen. Warum?

Richard Sucker: Meine Mutter wurde von Nachbarn denun­ziert. Deren Aussage nach wurde ich vernach­läs­sigt und schlecht ernährt. Und weil ich ein unehe­li­ches Kind oder – wie die Nazis sagten – ein Bastard war, war ich sowieso ein Unwer­tiger und wurde schon allein deswegen meiner Mutter wegge­nommen.

artechock: Danach waren Sie bis zu Ihrem 18. Lebens­jahr in verschie­denen Heimen unter­ge­bracht. Welche Erin­ne­rungen haben Sie daran?

Sucker: Zwischen 1935 und 1945 war ich in Breslau im Waisen­haus, danach in Reichen­bach bei Görlitz. Aber am schlech­testen ging es mir in Naila, in einem christ­li­chen Kinder­heim der Rummels­berger Anstalten, wo ich nach dem Krieg hinkam. Für mich waren diese Jahre schlimmer als die Kriegs­jahre. Von den Nazis haben wir Jungs wenigs­tens genug zu essen bekommen.

artechock: Sie erzählen im Film, dass Sie im Kinder­heim häufig verprü­gelt wurden.

Sucker: Das Schlimme war, dass wir immer wegen Nich­tig­keiten geschlagen wurden. Wir haben zum Beispiel bei der Feld­ar­beit genagelte Schuhe getragen. Beim Umgraben der Erde mit dem Spaten mussten die Nägel raus­fallen, das ging gar nicht anders. Jeden Morgen mussten wir zur Kontrolle die Schuhe umdrehen. Dann wurden die Nägel gezählt, und für jeden fehlenden Nagel gab es einen Schlag mit dem Ochsen­ziemer auf den nackten Hintern. Ich hab dann sogar im Winter barfuß gear­beitet, aus lauter Angst vor Prügel. Dabei hab ich mir die Füße erfroren.

artechock: Wie oft wurden Sie geschlagen?

Sucker: Es hat täglich Schläge gegeben. Einen Anlass dafür gab es immer. Entweder hatten wir ins Bett gepinkelt oder einer von uns hatte geklaut, weil er Hunger hatte. Wir mussten vom Sonnen­auf­gang bis zum Sonnen­un­ter­gang auf dem Feld arbeiten. Und wenn wir es gewagt haben, nachdem wir tonnen­weise Gelbe Rüben ausge­graben haben, eine davon zu essen, gab’s sofort Prügel. Da ist immer einer rumge­laufen mit einem Stock in der Hand, der uns beob­achtet hat. Wir hatten wirklich Hunger, wir waren ja fast alle unte­rernährt. Und obwohl die Rüben da haufen­weise rumlagen, mussten wir uns melden, wenn wir eine essen wollten. Und dann hat es geheißen: »Jetzt nicht, in der Pause könnt ihr essen.« Da durften wir dann ein paar Rüben nehmen. Wir haben auch oft Durst gehabt, weil wir nichts zu trinken bekommen haben. Bis heute brüsten sich die Rummels­berger Anstalten damit, die größte Land­wirt­schaft bei Naila zu haben. Und die mussten wir als Kinder alleine bear­beiten! Es gab nur einen Erwach­senen, der den Bulldog gefahren hat.

artechock: Haben Sie versucht, aus dem Kinder­heim zu fliehen?

Sucker: Ja, oft. Ich hab es sogar geschafft, auf eine Poli­zei­wache zu entkommen. Doch die haben mich überhaupt nicht angehört, obwohl ich ihnen meinen aufge­platzten Hintern gezeigt habe. Die haben nur gesagt: »Wer weiß, was du ange­stellt hast.« Und dann haben sie im Heim angerufen und ich wurde wieder zurück­ge­holt. Danach gab es die höchste Bestra­fung: Prügel und Einsperren in der Dunkel­kammer. Da stand nur ein Eimer zum Pinkeln drin und eine Decke lag da, schlafen mussten wir auf dem Boden. Oft wurden wir da auch »vergessen«. Irgend­wann hat man sich nicht mehr getraut abzuhauen.

artechock: Im Film erfährt man, dass Sie, als Sie während Ihrer Heimzeit ins Kran­ken­haus mussten, zum ersten Mal richtig glücklich waren und nicht an den Tod dachten. Haben Sie als Kind und Jugend­li­cher versucht, sich das Leben zu nehmen?

Sucker: Ja, gerade in Naila. Ich wollte mich öfter umbringen, ich hab’s nicht mehr ertragen. Einmal wollte ich mich am Fens­ter­gitter aufhängen, da ist der blöde Strick abge­rissen. Und ein anderes Mal bin ich in der Scheune bis ganz unter die Spitze geklet­tert und dann mit dem Kopf zuerst runter­ge­sprungen. Aber unten lag soviel Stroh, mir ist überhaupt nichts passiert.

artechock: Was ist für Sie am schlimmsten, wenn Sie an diese Zeit zurück­denken?

Sucker: Dass ich 17 Jahre lang einge­sperrt war und das alles unter dem Deck­män­tel­chen der Kirche passiert ist. Viele meiner Peiniger hatten überhaupt keine pädago­gi­sche Ausbil­dung. Wahr­schein­lich sind sie zur Diakonie gegangen, weil man dort ein gutes Auskommen hatte. Wir hatten soviel Angst vor unseren »Erziehern«, das war furchtbar. Am meisten vor unserem Heim­leiter, den wir mit »Bruder« anreden mussten. Weil er ja von der Bruder­ge­nos­sen­ge­schaft der Rummels­berger Anstalten war. Ich hab das damals als Kind nicht verstanden, dass ich jemanden, der mich schlägt, auch noch mit »Bruder« anreden muss. Dieser Heim­leiter hat uns zu sich in sein Büro gerufen und uns dann mit dem Ochsen­ziemer verprü­gelt. Und nachdem wir verprü­gelt worden sind, mussten wir in eine Art Gebets­raum, wo wir uns hinsetzen sollten. Ich konnte mich aber nicht hinsetzen, weil mir das Blut aus der Hose gelaufen ist. Da wurde ich gepackt und einfach runter­ge­drückt. Und das waren Christen! Ich bin sofort, als ich draußen war, aus der Kirche ausge­treten.

artechock: Wann haben Sie zum ersten Mal über Ihre Zeit im Heim gespro­chen?

Sucker: Erst als ich 55 Jahre alt war. Da hat mich von einem Tag auf den anderen meine Vergan­gen­heit eingeholt, weil meine Kind­heits­er­in­ne­rungen und damit die Albträume wieder hoch kamen. Ich konnte nicht mehr schlafen und meinen Beruf nicht mehr ausüben. Ich war als Maschi­nenbau-Techniker bei Siemens beschäf­tigt und habe plötzlich falsche Rohr­lei­tungs­be­rech­nungen gemacht, weil ich ständig müde war. Ich hab mich dann meinem Chef anver­traut, zu dem ich einen guten Draht hatte. Er war der erste, dem ich von meiner Kindheit und Jugend erzählt habe. Meine Frau, mit der ich 25 Jahre verhei­ratet war, ist gestorben, ohne dass ich ihr je ein Wort davon erzählt habe. Und meine Tochter hat erst durch mein Buch alles erfahren.

artechock: Haben Sie in all den Jahren versucht, Ihre Mutter zu finden oder Infor­ma­tionen über ihren Aufent­haltsort zu bekommen?

Sucker: Ja, sehr oft, gerade in Rummels­berg. Aber die haben mir nur ein paar Papiere mit teilweise falschen Angaben ausgehän­digt und mir gesagt, dass sie sonst keine Akten mehr haben. Dann habe ich verschie­dene Behörden ange­schrieben, die mir mitge­teilt haben, dass sie mir aus Daten­schutz­gründen nicht helfen können.

artechock: Im Film sind Sie am Grab Ihrer Mutter zu sehen. Wie kam es dazu?

Sucker: Frau Günther-Greene, die Regis­seurin des Films Die Unwer­tigen, hat für mich weiter recher­chiert. Als sie gesagt hat, dass sie einen Film dreht, haben sich bei den Behörden Tür und Tor geöffnet. Dafür bin ich ihr unsagbar dankbar. Von ihr hab ich erfahren, wie meine Mutter heißt und dass sie zum Schluss in der Nähe von Heilbronn in einem Altenheim gewohnt hat. Und sie hat mich auch dorthin gefahren – zu dem Altenheim und dem Grab meiner Mutter, das gleich nebendran war. Als die Kamera aus war, hab ich mich auf einen Stein gesetzt und geheult wie ein Schloss­hund.

artechock: Wann wurden die Szenen am Grab Ihrer Mutter gedreht?

Sucker: Das war vor einem Jahr. Ich war 75 Jahre alt, als ich erfahren habe, wie meine Mutter heißt und wo sie begraben liegt. Und als ich das erste Foto von ihr gesehen hab.

artechock: Wenn Sie von Ihrer Mutter sprechen, schwingt viel Wehmut und Sehnsucht mit. Was haben Sie am meisten vermisst?

Sucker: Ich war auf alle anderen Menschen neidisch – und bin’s heute noch – die sagen, ich besuche meine Mutter. Oder wenn ich Mütter sehe, die Kinder an der Hand haben. Das ist das, was ich vermisse. Ich wollte auch einmal an der Hand geführt werden.

artechock: In den letzten Jahren ist viel passiert: Sie haben eine Auto­bio­gra­phie geschrieben, in einem Doku­men­tar­film von Ihrem Schicksal erzählt und sitzen als Zeuge am Runden Tisch in Berlin. Hat Ihnen das alles dabei geholfen, Ihre Vergan­gen­heit besser zu verar­beiten?

Sucker: Zum Schreiben des Buches hat mir eine Psycho­login geraten. Und sobald ich ange­fangen habe, meine Geschichte aufzu­schreiben, ging’s mir tatsäch­lich besser. Ich hab das ganze Buch in der Nacht geschrieben, ich konnte ja sowieso nicht schlafen. Auf der Suche nach einem Verlag habe ich Frau Eppert vom Verein ehema­liger Heim­kinder kennen­ge­lernt. Die hatte auch ein Buch über ihre Erleb­nisse geschrieben, und dadurch sind wir ins Gespräch gekommen.

artechock: Durch Frau Eppert bekamen Sie auch die Möglich­keit, als Zeuge vor dem Peti­ti­ons­aus­schuss des Bundes­tages auszu­sagen.

Sucker: Ja, Frau Eppert hat den Verein ehema­liger Heim­kinder mitge­gründet und die Petition einge­reicht. Ursprüng­lich war sie eine der Zeuginnen am Runden Tisch. Als sie dann plötzlich krank wurde, hat sie mich gefragt, ob ich an ihrer Stelle nach Berlin fahren will, weil sie mir vertraut hat. Und so bin ich am 26. November vorigen Jahres nach Berlin gefahren. Was ich in den letzten Jahren schon bewirkt habe, macht mir Mut. Und deshalb habe ich gerade auch eine Petition beim Baye­ri­schen Landtag einge­geben.

artechock: Was wollen Sie mit dieser zweiten Petition und Ihrer Aussage am Runden Tisch erreichen – eine offi­zi­elle Entschul­di­gung oder eine finan­zi­elle Entschä­di­gung?

Sucker: Beides. Ich möchte, dass jemand Verant­wor­tung für das Unrecht übernimmt, das mir angetan wurde. Dafür kämpfe ich, auch für andere, die nicht mehr so gesund und fit sind wie ich, und das nicht mehr können. Aber ich möchte auch für meine Arbeit, die ich unter Zwang und unter Schlägen geleistet habe, eine Bezahlung haben. Kein Mensch arbeitet umsonst. Und wir waren noch dazu wehrlose Kinder. Deswegen will ich eine ange­mes­sene Entschä­di­gung haben. Um mir einmal leisten zu können, was ich mir sonst nicht leisten kann, z.B. einen Well­nessur­laub oder ein neues Auto. Ich glaube nicht, dass ich zuviel verlange.