»Meine Vergangenheit hat mich eingeholt« |
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Vergangenheitsbewältigung: Ex-Heimkind Sucker bei einer Lesung |
Richard Sucker wird im Januar 77 Jahre alt. Wenn er von seinem Kampfsport, seinen selbstgemalten Aquarellen und seiner Liebe zur Natur erzählt, wirkt der drahtige Mann zehn Jahre jünger. Trotzdem musste Sucker mit 58 Jahren in Frührente gehen, weil er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. 40 Jahre lang hatte das ehemalige Heimkind versucht, die schlimmste Zeit seines Lebens zu verdrängen. Bis ihn Albträume nicht mehr schlafen ließen und Sucker erkannte, dass er sich mit seiner
Vergangenheit auseinandersetzen muss. Der Schrei zum Himmel heißt sein Buch, in dem er von den brutalen Erziehungsmethoden und der Zwangsarbeit erzählt, die er als Kind und Jugendlicher in kirchlichen Heimen erleiden musste und durch die er sich sein Leben lang traumatisiert gefühlt hat. Außerdem sitzt der Nürnberger als betroffener Zeitzeuge mit am Runden Tisch, den der Bundestag zur Aufarbeitung des Schicksals ehemaliger Heimkinder eingerichtet hat.
Mit
Richard Sucker sprach Elke Eckert.
artechock: Sie wurden im Alter von zwei Jahren Ihrer Mutter entzogen. Warum?
Richard Sucker: Meine Mutter wurde von Nachbarn denunziert. Deren Aussage nach wurde ich vernachlässigt und schlecht ernährt. Und weil ich ein uneheliches Kind oder – wie die Nazis sagten – ein Bastard war, war ich sowieso ein Unwertiger und wurde schon allein deswegen meiner Mutter weggenommen.
artechock: Danach waren Sie bis zu Ihrem 18. Lebensjahr in verschiedenen Heimen untergebracht. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Sucker: Zwischen 1935 und 1945 war ich in Breslau im Waisenhaus, danach in Reichenbach bei Görlitz. Aber am schlechtesten ging es mir in Naila, in einem christlichen Kinderheim der Rummelsberger Anstalten, wo ich nach dem Krieg hinkam. Für mich waren diese Jahre schlimmer als die Kriegsjahre. Von den Nazis haben wir Jungs wenigstens genug zu essen bekommen.
artechock: Sie erzählen im Film, dass Sie im Kinderheim häufig verprügelt wurden.
Sucker: Das Schlimme war, dass wir immer wegen Nichtigkeiten geschlagen wurden. Wir haben zum Beispiel bei der Feldarbeit genagelte Schuhe getragen. Beim Umgraben der Erde mit dem Spaten mussten die Nägel rausfallen, das ging gar nicht anders. Jeden Morgen mussten wir zur Kontrolle die Schuhe umdrehen. Dann wurden die Nägel gezählt, und für jeden fehlenden Nagel gab es einen Schlag mit dem Ochsenziemer auf den nackten Hintern. Ich hab dann sogar im Winter barfuß gearbeitet, aus lauter Angst vor Prügel. Dabei hab ich mir die Füße erfroren.
artechock: Wie oft wurden Sie geschlagen?
Sucker: Es hat täglich Schläge gegeben. Einen Anlass dafür gab es immer. Entweder hatten wir ins Bett gepinkelt oder einer von uns hatte geklaut, weil er Hunger hatte. Wir mussten vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang auf dem Feld arbeiten. Und wenn wir es gewagt haben, nachdem wir tonnenweise Gelbe Rüben ausgegraben haben, eine davon zu essen, gab’s sofort Prügel. Da ist immer einer rumgelaufen mit einem Stock in der Hand, der uns beobachtet hat. Wir hatten wirklich Hunger, wir waren ja fast alle unterernährt. Und obwohl die Rüben da haufenweise rumlagen, mussten wir uns melden, wenn wir eine essen wollten. Und dann hat es geheißen: »Jetzt nicht, in der Pause könnt ihr essen.« Da durften wir dann ein paar Rüben nehmen. Wir haben auch oft Durst gehabt, weil wir nichts zu trinken bekommen haben. Bis heute brüsten sich die Rummelsberger Anstalten damit, die größte Landwirtschaft bei Naila zu haben. Und die mussten wir als Kinder alleine bearbeiten! Es gab nur einen Erwachsenen, der den Bulldog gefahren hat.
artechock: Haben Sie versucht, aus dem Kinderheim zu fliehen?
Sucker: Ja, oft. Ich hab es sogar geschafft, auf eine Polizeiwache zu entkommen. Doch die haben mich überhaupt nicht angehört, obwohl ich ihnen meinen aufgeplatzten Hintern gezeigt habe. Die haben nur gesagt: »Wer weiß, was du angestellt hast.« Und dann haben sie im Heim angerufen und ich wurde wieder zurückgeholt. Danach gab es die höchste Bestrafung: Prügel und Einsperren in der Dunkelkammer. Da stand nur ein Eimer zum Pinkeln drin und eine Decke lag da, schlafen mussten wir auf dem Boden. Oft wurden wir da auch »vergessen«. Irgendwann hat man sich nicht mehr getraut abzuhauen.
artechock: Im Film erfährt man, dass Sie, als Sie während Ihrer Heimzeit ins Krankenhaus mussten, zum ersten Mal richtig glücklich waren und nicht an den Tod dachten. Haben Sie als Kind und Jugendlicher versucht, sich das Leben zu nehmen?
Sucker: Ja, gerade in Naila. Ich wollte mich öfter umbringen, ich hab’s nicht mehr ertragen. Einmal wollte ich mich am Fenstergitter aufhängen, da ist der blöde Strick abgerissen. Und ein anderes Mal bin ich in der Scheune bis ganz unter die Spitze geklettert und dann mit dem Kopf zuerst runtergesprungen. Aber unten lag soviel Stroh, mir ist überhaupt nichts passiert.
artechock: Was ist für Sie am schlimmsten, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?
Sucker: Dass ich 17 Jahre lang eingesperrt war und das alles unter dem Deckmäntelchen der Kirche passiert ist. Viele meiner Peiniger hatten überhaupt keine pädagogische Ausbildung. Wahrscheinlich sind sie zur Diakonie gegangen, weil man dort ein gutes Auskommen hatte. Wir hatten soviel Angst vor unseren »Erziehern«, das war furchtbar. Am meisten vor unserem Heimleiter, den wir mit »Bruder« anreden mussten. Weil er ja von der Brudergenossengeschaft der Rummelsberger Anstalten war. Ich hab das damals als Kind nicht verstanden, dass ich jemanden, der mich schlägt, auch noch mit »Bruder« anreden muss. Dieser Heimleiter hat uns zu sich in sein Büro gerufen und uns dann mit dem Ochsenziemer verprügelt. Und nachdem wir verprügelt worden sind, mussten wir in eine Art Gebetsraum, wo wir uns hinsetzen sollten. Ich konnte mich aber nicht hinsetzen, weil mir das Blut aus der Hose gelaufen ist. Da wurde ich gepackt und einfach runtergedrückt. Und das waren Christen! Ich bin sofort, als ich draußen war, aus der Kirche ausgetreten.
artechock: Wann haben Sie zum ersten Mal über Ihre Zeit im Heim gesprochen?
Sucker: Erst als ich 55 Jahre alt war. Da hat mich von einem Tag auf den anderen meine Vergangenheit eingeholt, weil meine Kindheitserinnerungen und damit die Albträume wieder hoch kamen. Ich konnte nicht mehr schlafen und meinen Beruf nicht mehr ausüben. Ich war als Maschinenbau-Techniker bei Siemens beschäftigt und habe plötzlich falsche Rohrleitungsberechnungen gemacht, weil ich ständig müde war. Ich hab mich dann meinem Chef anvertraut, zu dem ich einen guten Draht hatte. Er war der erste, dem ich von meiner Kindheit und Jugend erzählt habe. Meine Frau, mit der ich 25 Jahre verheiratet war, ist gestorben, ohne dass ich ihr je ein Wort davon erzählt habe. Und meine Tochter hat erst durch mein Buch alles erfahren.
artechock: Haben Sie in all den Jahren versucht, Ihre Mutter zu finden oder Informationen über ihren Aufenthaltsort zu bekommen?
Sucker: Ja, sehr oft, gerade in Rummelsberg. Aber die haben mir nur ein paar Papiere mit teilweise falschen Angaben ausgehändigt und mir gesagt, dass sie sonst keine Akten mehr haben. Dann habe ich verschiedene Behörden angeschrieben, die mir mitgeteilt haben, dass sie mir aus Datenschutzgründen nicht helfen können.
artechock: Im Film sind Sie am Grab Ihrer Mutter zu sehen. Wie kam es dazu?
Sucker: Frau Günther-Greene, die Regisseurin des Films Die Unwertigen, hat für mich weiter recherchiert. Als sie gesagt hat, dass sie einen Film dreht, haben sich bei den Behörden Tür und Tor geöffnet. Dafür bin ich ihr unsagbar dankbar. Von ihr hab ich erfahren, wie meine Mutter heißt und dass sie zum Schluss in der Nähe von Heilbronn in einem Altenheim gewohnt hat. Und sie hat mich auch dorthin gefahren – zu dem Altenheim und dem Grab meiner Mutter, das gleich nebendran war. Als die Kamera aus war, hab ich mich auf einen Stein gesetzt und geheult wie ein Schlosshund.
artechock: Wann wurden die Szenen am Grab Ihrer Mutter gedreht?
Sucker: Das war vor einem Jahr. Ich war 75 Jahre alt, als ich erfahren habe, wie meine Mutter heißt und wo sie begraben liegt. Und als ich das erste Foto von ihr gesehen hab.
artechock: Wenn Sie von Ihrer Mutter sprechen, schwingt viel Wehmut und Sehnsucht mit. Was haben Sie am meisten vermisst?
Sucker: Ich war auf alle anderen Menschen neidisch – und bin’s heute noch – die sagen, ich besuche meine Mutter. Oder wenn ich Mütter sehe, die Kinder an der Hand haben. Das ist das, was ich vermisse. Ich wollte auch einmal an der Hand geführt werden.
artechock: In den letzten Jahren ist viel passiert: Sie haben eine Autobiographie geschrieben, in einem Dokumentarfilm von Ihrem Schicksal erzählt und sitzen als Zeuge am Runden Tisch in Berlin. Hat Ihnen das alles dabei geholfen, Ihre Vergangenheit besser zu verarbeiten?
Sucker: Zum Schreiben des Buches hat mir eine Psychologin geraten. Und sobald ich angefangen habe, meine Geschichte aufzuschreiben, ging’s mir tatsächlich besser. Ich hab das ganze Buch in der Nacht geschrieben, ich konnte ja sowieso nicht schlafen. Auf der Suche nach einem Verlag habe ich Frau Eppert vom Verein ehemaliger Heimkinder kennengelernt. Die hatte auch ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben, und dadurch sind wir ins Gespräch gekommen.
artechock: Durch Frau Eppert bekamen Sie auch die Möglichkeit, als Zeuge vor dem Petitionsausschuss des Bundestages auszusagen.
Sucker: Ja, Frau Eppert hat den Verein ehemaliger Heimkinder mitgegründet und die Petition eingereicht. Ursprünglich war sie eine der Zeuginnen am Runden Tisch. Als sie dann plötzlich krank wurde, hat sie mich gefragt, ob ich an ihrer Stelle nach Berlin fahren will, weil sie mir vertraut hat. Und so bin ich am 26. November vorigen Jahres nach Berlin gefahren. Was ich in den letzten Jahren schon bewirkt habe, macht mir Mut. Und deshalb habe ich gerade auch eine Petition beim Bayerischen Landtag eingegeben.
artechock: Was wollen Sie mit dieser zweiten Petition und Ihrer Aussage am Runden Tisch erreichen – eine offizielle Entschuldigung oder eine finanzielle Entschädigung?
Sucker: Beides. Ich möchte, dass jemand Verantwortung für das Unrecht übernimmt, das mir angetan wurde. Dafür kämpfe ich, auch für andere, die nicht mehr so gesund und fit sind wie ich, und das nicht mehr können. Aber ich möchte auch für meine Arbeit, die ich unter Zwang und unter Schlägen geleistet habe, eine Bezahlung haben. Kein Mensch arbeitet umsonst. Und wir waren noch dazu wehrlose Kinder. Deswegen will ich eine angemessene Entschädigung haben. Um mir einmal leisten zu können, was ich mir sonst nicht leisten kann, z.B. einen Wellnessurlaub oder ein neues Auto. Ich glaube nicht, dass ich zuviel verlange.