»Warum sitzen wir denn hier? Um etwas Neues zu erkunden!« |
Das Fest schien gar nicht mehr aufzuhören – kaum hatte Thomas Vinterberg 1998 mit Festen (Das Fest) das Festival von Cannes gewonnen, und zugleich den ersten Film der dänischen Gruppe „Dogma 95“ gedreht, erhielt er Angebote aus der ganzen Welt: Der erst 28jährige erschien als Wunderkind und Messias für eine ganze Branche, die wie keine zweite ihre Wunderkinder braucht und verbraucht.
Kaum überraschend hat es daher vier Jahre gedauert bis Vinterberg sein Wunschprojekt It’s All About Love fertiggestellt hat. Es ist das absolute Gegenteil von Das Fest, klassische Technicolor-Eleganz hat die Wackelkamera der Dogmatiker
abgelöst und erzählt eine Liebesgeschichte im Zeichen des Weltuntergangs, einen philosophischen Thriller – Tarkowski trifft Hitchcock, könnte man sagen. Es dominieren romantische Motive: Eislandschaften, Doppelgänger und Paranoia – nichts ist so, wie es scheint, und wo die Welt derart ins Wanken gerät, ist nur eines sicher: Es geht um Liebe. Eigentlich immer. Und jetzt erst recht.
Mit Thomas Vinterberg sprach Rüdiger
Suchsland
artechock: Depression, Kälte, »kosmische Unruhen« – ein futuristischer Alptraum. Wie sind Sie denn darauf gekommen?
Thomas Vinterberg: Nach meinem Cannes-Erfolg mit Festen dachte ich immer wieder über diese Art Leben nach, das Menschen wie Sie und ich führen: Wir reisen andauernd herum, füllen unser Leben mit immer neuen Projekten an, immer neuen Flugreisen, Autofahrten, in unser beidem Fall: Filmfestivals. Aber wie präsent sind die Menschen eigentlich in ihrem Leben? Es ist alles so flüchtig. An was können wir uns nach einem Festival überhaupt erinnern, wenn wir nach Hause kommen?
artechock: An ziemlich viel, scheint mir...
Vinterberg: Vielleicht können Sie das. Aber viele Leute können das nicht, glauben Sie mir.
artechock: Was tun Sie, um sich an die Dinge in Ihrem eigenen Leben zu erinnern?
Vinterberg: Ich versuche, ein sehr körperliches Leben zu führen. Ich mache zum Beispiel Karate. (lacht) Wirklich! Das gibt mir ein bisschen Bodenhaftung. Und dann zwinge ich mich, nicht zu beschäftigt zu sein, nicht zuviel zu arbeiten.
Aber: Um das Thema dreht sich mein Film: Darum, das Leute daran sterben, dass sie in ihrem eigenen Leben nicht präsent sind. um uns herum gibt es viele lebende Tote. Besonders auf Filmfestivals.
(lacht).
artechock: Haben Sie irgendein Kriterium, um herauszufinden, wer zu diesen „lebenden Toten“ dazugehört, wer so ein Zombie ist?
Vinterberg: Nun... eine gute Frage! Es ist sehr oft so, wenn ich darüber spreche, dass sich manche Menschen stark angegriffen fühlen. Das verrät sie!
Viele Leute, zumindest diejenigen, die Kinder haben, kennen das Gefühl, dass man zuhause herumsitzt, und weg will, um seine Arbeit zu machen. Und wenn sie dann im Büro oder auf Festivals sitzen, dann sehnen sie sich nach zuhause. Man ist sozusagen zugleich anwesend und abwesend. Dies
entspricht, denke ich sehr dem Lebensgefühl unserer Generation. (Lacht)
artechock: Man kann bei diesem vielen Herumreisen den Verstand verlieren...
Vinterberg: Ja, das meine ich. Ich habe neulich mit einem Freund darüber geredet: Der meinte, dass er es hasst, im Flugzeug zu sitzen: Man kann überhaupt nichts machen, nicht arbeiten, auch nicht richtig lesen. Das ist Zeit, die einfach vergeht. Nichts hat Wert. ... Ich weiß nicht, warum ich jetzt damit angefangen habe – vielleicht, weil darum mein Film geht.
artechock: Sie sind natürlich ein Künstler, sind frei, zu tun, was Sie wollen. Trotzdem hat ihr neuer Film viele Ihrer Fans schockiert: Er ist das absolute Gegenteil vom „Dogma“-Stil, der Festen geprägt hat... Man hat etwas völlig anderes von Ihnen erwartet...
Vinterberg: Zuerst einmal: „Dogma“ ist für mich kein „Stil“. Es war vor allem ein Gang auf dünnem Eis. Ein Forschungstrip auf neuem Terrain. In einer sehr naiven, sehr arroganten, sehr selbstbezogenen Weise. Aber immerhin: Die Eroberung eines neuen Territoriums. Das habe ich daran wirklich gemocht.
Es war so befreiend, künstlerisch herausfordernd. Aber gerade darum dachte ich: Das einfach zu wiederholen,
wäre pathetisch. Mindestens langweilig. Und viel zu sicher. Genau alles das, was ich nicht sein wollte. Ich hatte also gar keine andere Wahl, als mich genau auf die andere Seite der Parabel zu begeben. Das fand ich extrem inspirierend.
Jetzt begreife ich, dass ich damit einige wirklich schockiert habe, dass sie enttäuscht sind. Aber das wiederum überrascht mich, ehrlich gesagt: Denn verdammt noch mal, warum sitzen wir denn hier: Um etwas Neues zu erkunden.
Der allererste
Gedankenschritt dieses neuen Films war: Wie vermeiden wir den Erfolg hinter „Dogma“? Wie entgehen wir der Falle? Wir mussten geradezu gewaltsam darum kämpfen, etwas zu machen, das viele Requisiten hatte, Make-Up, Musik, Kamera- und Bildertricks – das war sehr aufregend.
artechock: Das genau wollte ich fragen: Es war dies also auch eine ganz andere Art, zu arbeiten?
Vinterberg: Ganz und gar. Ich hab es genossen! Im Gegensatz zu »Dogma«, wo alles »hier und jetzt« war, ist in diesem Fall alles Illusion: Nichts ist wahr, es gibt viele Computertricks. Wenn die Schauspieler vermeintlich in New York herumlaufen, haben wir das tatsächlich in Dänemark gedreht. Nichts »stimmt«! Aber innerhalb diesem Rahmen aus Illusion, gibt es genauso eine authentischeb Wahrheit wie in Festen.
Dieser Film spaltet das Publikum: 40 Prozent können nichts damit anfangen, einige bleiben kalt, sie verstehen es nicht. Aber die anderen sind sehr bewegt, gehen mit, heulen, denken wochenlang über den Film nach.
Schauen wir den Tatsachen ins Gesicht: Das ist ein sehr fragiles Projekt. Ein Kunst-Projekt! Mit all seinen Grenzen: Die Geschichte lässt sich kaum erzählen, sie hat keine Lösung; der Film
stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Als ob er etwas suchen würde. Aber wir haben versucht, das Publikum zu eskortieren, einen direkten Weg von A nach B zu erzählen. Aber es gab darin etwas, das stärker und wichtiger war. Darum mag ich den Film so sehr.
artechock: Auch Festen hat anfangs viele Zuschauer verstört. Welche Reaktion würden Sie sich diesmal von den Zuschauern wünschen?
Vinterberg: Aber Festen mochten schon sehr viele von Anfang an. Das war genau so ein emotionaler Weg von A nach B. Ich denke, ich möchte immer eine Kommunikation mit dem Betrachter. Aber diesmal geht es um eine Art tieferen Kontakt mit dem Publikum, vielleicht mit weniger Leuten, aber dafür tiefer. Manche reden über den Film, wie über einen Rotwein, der noch weiter reift. Damit bin ich sehr zufrieden.
artechock: Aber sie wollten nicht provozieren...
Vinterberg: Was ich mir wünschen würde, ist, dass man diesen Film als einen Traum ansehen könnte. Dass man das verstehen könnte, und alle Erwartungen aufgeben könnte. Seid offen! Das wünsche ich mir. Denn dann wir man etwas Besonderes erfahren. Ich würde mir wünschen, dass alle dazu in der Lage wären – aber das sind sie offensichtlich nicht. (Lacht)
Ich war schockiert: Viele Leute möchten nicht akzeptieren, dass sie etwas nicht verstehen; sie können damit nicht umgehen – es sei denn, dass es das Label hat: »Dies ist unverständlich«. Wie David Lynch...
Vinterberg: Ja, der hat das Glück.
artechock: Gibt es eine Philosophie hinter Ihrer Arbeit? Wenn Sie Karate machen: Fühlen Sie sich von asiatischer Philosophie angezogen?
Vinterberg: Ja. Meine Philosophie ist, so stark wie möglich darum zu kämpfen, dass ich wirklich präsent bin. Wirklich da zu sein. Und es funktioniert: Sie kennen das: Wenn Sie im Café sitzen, und auf jemanden warten – dann sind sie plötzlich ganz und gar anwesend. Es ist wie verliebt-sein. Ich jage solche Momente! Hinter alldem steht so ein persönlicher Mix aus Buddhismus, Selbsterfahrung, Karate-Lehren...
artechock: Wie gut sind sie in Karate?
Vinterberg: Ganz ok. Nicht wirklich gefährlich. Man lernt etwas fürs Leben, es hilft beim Filmemachen und beim Interview-geben: Es ist ein Kampf. Besonders mit einem Film, wie diesem. Aber man lernt: Großzügigkeit ist wichtig. Ich versuche, immer großzügig zu bleiben. Das ist Karate!
artechock: Ihr Film ähnelt in manchem Solaris von Steven Soderbergh. Ein Film voller 70er-Jahre-Anspielungen. Mit ähnlichen Atmosphären: Langsam, ein Wegdriften, etwas psychedelisch... In welcher Weise interessieren sie die 70er?
Vinterberg: Nun, ganz gewiss blickt dieser Film in die Vergangenheit zurück: In die 70er, die 60er – ich wollte die Sprache dieses Kinos für mich zurückerobern und zum Leben erwecken.
artechock: Es gibt auch eine Beziehung zu Hitchcock. Eigentlich ist dies ein Thriller, eine Mischung aus Psycho-Traumspiel als Thriller: Ein europäisches, fast philosophisches Traumspiel. Das Kino damals wollte ja Traumfabrik sein...
Vinterberg: Ja, das stimmt unbedingt. Für mich ist der Film eine Reise in die Phantasien meiner Kindheit, und in diese Filme, die ich damals gesehen habe.
artechock: Der Film hat auch einen Paranoia-Aspekt: Was ist Ihre persönliche Paranoia? Können Sie sich mit der Paranoia Ihrer Figuren identifizieren?
Vinterberg: Ich habe vor ein paar Jahren aufgehört mich selbst zu analysieren. Es wurde langweilig. Zu rational. Aber meine Freunde finden auch, dass ich paranoid sei – ich verstehe gar nicht warum. Vielleicht, weil ich schüchtern bin.
artechock: Aber von »lebenden Toten« zu reden, ist in gewissem Sinn etwas Paranoides...
Vinterberg: Ja. Obwohl es für mich eher bedeutet, einen traurigen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen.
Ich arbeite, seit ich 16 bin. Ich war früher sehr ehrgeizig. Heute habe ich das Gefühl, eine Menge Zeit mit Unsinn verschwendet zu haben. Und ich versuche nun, wirklich das zu tun, was ich tun will.
artechock: It’s All About Love ist ein Resultat dieses Versuchs. Was ist Liebe für Sie?
Vinterberg: In diesem Fall jedenfalls Kontinuität. Nicht das Funkenschlagen der Pubertät. Sondern ein Gefühl für Verantwortung. Da ich bereits seit 13 Jahren verheiratet bin, hat es wohl auch etwas mit meiner Ehe zu tun.
Während der Arbeit am Drehbuch habe ich einmal – glauben Sie mir! – bei Ingmar Bergman angerufen. Es war ein sehr witziges Gespräch: Der hat mich für verrückt erklärt, weil ich nicht viel schneller wieder
einen Film gemacht habe. »Man sollte immer schon am nächsten Projekt arbeiten, bevor das letzte fertig ist«, meinte er, und erzählte einmal, wie er einst erst eine Woche später erfahren hatte, dass er in Cannes gewonnen hatte. So sollte es sein. Ich werde mir nie wieder zwei Jahre Zeit lassen.