20.03.2003

»Warum sitzen wir denn hier? Um etwas Neues zu erkunden!«

Szenenbild IT'S ALL ABOUT LOVE

Thomas Vinterberg über It’s All About Love, die Dogma-Falle und einen Anruf bei Ingmar Bergman

Das Fest schien gar nicht mehr aufzu­hören – kaum hatte Thomas Vinter­berg 1998 mit Festen (Das Fest) das Festival von Cannes gewonnen, und zugleich den ersten Film der dänischen Gruppe „Dogma 95“ gedreht, erhielt er Angebote aus der ganzen Welt: Der erst 28jährige erschien als Wunder­kind und Messias für eine ganze Branche, die wie keine zweite ihre Wunder­kinder braucht und verbraucht.

Kaum über­ra­schend hat es daher vier Jahre gedauert bis Vinter­berg sein Wunsch­pro­jekt It’s All About Love fertig­ge­stellt hat. Es ist das absolute Gegenteil von Das Fest, klas­si­sche Tech­ni­color-Eleganz hat die Wackel­ka­mera der Dogma­tiker abgelöst und erzählt eine Liebes­ge­schichte im Zeichen des Welt­un­ter­gangs, einen philo­so­phi­schen Thriller – Tarkowski trifft Hitchcock, könnte man sagen. Es domi­nieren roman­ti­sche Motive: Eisland­schaften, Doppel­gänger und Paranoia – nichts ist so, wie es scheint, und wo die Welt derart ins Wanken gerät, ist nur eines sicher: Es geht um Liebe. Eigent­lich immer. Und jetzt erst recht.
Mit Thomas Vinter­berg sprach Rüdiger Suchsland

artechock: Depres­sion, Kälte, »kosmische Unruhen« – ein futu­ris­ti­scher Alptraum. Wie sind Sie denn darauf gekommen?

Thomas Vinter­berg: Nach meinem Cannes-Erfolg mit Festen dachte ich immer wieder über diese Art Leben nach, das Menschen wie Sie und ich führen: Wir reisen andauernd herum, füllen unser Leben mit immer neuen Projekten an, immer neuen Flug­reisen, Auto­fahrten, in unser beidem Fall: Film­fes­ti­vals. Aber wie präsent sind die Menschen eigent­lich in ihrem Leben? Es ist alles so flüchtig. An was können wir uns nach einem Festival überhaupt erinnern, wenn wir nach Hause kommen?

artechock: An ziemlich viel, scheint mir...

Vinter­berg: Viel­leicht können Sie das. Aber viele Leute können das nicht, glauben Sie mir.

artechock: Was tun Sie, um sich an die Dinge in Ihrem eigenen Leben zu erinnern?

Vinter­berg: Ich versuche, ein sehr körper­li­ches Leben zu führen. Ich mache zum Beispiel Karate. (lacht) Wirklich! Das gibt mir ein bisschen Boden­haf­tung. Und dann zwinge ich mich, nicht zu beschäf­tigt zu sein, nicht zuviel zu arbeiten.
Aber: Um das Thema dreht sich mein Film: Darum, das Leute daran sterben, dass sie in ihrem eigenen Leben nicht präsent sind. um uns herum gibt es viele lebende Tote. Besonders auf Film­fes­ti­vals. (lacht).

artechock: Haben Sie irgendein Kriterium, um heraus­zu­finden, wer zu diesen „lebenden Toten“ dazu­gehört, wer so ein Zombie ist?

Vinter­berg: Nun... eine gute Frage! Es ist sehr oft so, wenn ich darüber spreche, dass sich manche Menschen stark ange­griffen fühlen. Das verrät sie!
Viele Leute, zumindest dieje­nigen, die Kinder haben, kennen das Gefühl, dass man zuhause herum­sitzt, und weg will, um seine Arbeit zu machen. Und wenn sie dann im Büro oder auf Festivals sitzen, dann sehnen sie sich nach zuhause. Man ist sozusagen zugleich anwesend und abwesend. Dies entspricht, denke ich sehr dem Lebens­ge­fühl unserer Gene­ra­tion. (Lacht)

artechock: Man kann bei diesem vielen Herum­reisen den Verstand verlieren...

Vinter­berg: Ja, das meine ich. Ich habe neulich mit einem Freund darüber geredet: Der meinte, dass er es hasst, im Flugzeug zu sitzen: Man kann überhaupt nichts machen, nicht arbeiten, auch nicht richtig lesen. Das ist Zeit, die einfach vergeht. Nichts hat Wert. ... Ich weiß nicht, warum ich jetzt damit ange­fangen habe – viel­leicht, weil darum mein Film geht.

artechock: Sie sind natürlich ein Künstler, sind frei, zu tun, was Sie wollen. Trotzdem hat ihr neuer Film viele Ihrer Fans scho­ckiert: Er ist das absolute Gegenteil vom „Dogma“-Stil, der Festen geprägt hat... Man hat etwas völlig anderes von Ihnen erwartet...

Vinter­berg: Zuerst einmal: „Dogma“ ist für mich kein „Stil“. Es war vor allem ein Gang auf dünnem Eis. Ein Forschungs­trip auf neuem Terrain. In einer sehr naiven, sehr arro­ganten, sehr selbst­be­zo­genen Weise. Aber immerhin: Die Eroberung eines neuen Terri­to­riums. Das habe ich daran wirklich gemocht.
Es war so befreiend, künst­le­risch heraus­for­dernd. Aber gerade darum dachte ich: Das einfach zu wieder­holen, wäre pathe­tisch. Mindes­tens lang­weilig. Und viel zu sicher. Genau alles das, was ich nicht sein wollte. Ich hatte also gar keine andere Wahl, als mich genau auf die andere Seite der Parabel zu begeben. Das fand ich extrem inspi­rie­rend.
Jetzt begreife ich, dass ich damit einige wirklich scho­ckiert habe, dass sie enttäuscht sind. Aber das wiederum über­rascht mich, ehrlich gesagt: Denn verdammt noch mal, warum sitzen wir denn hier: Um etwas Neues zu erkunden.
Der aller­erste Gedan­ken­schritt dieses neuen Films war: Wie vermeiden wir den Erfolg hinter „Dogma“? Wie entgehen wir der Falle? Wir mussten geradezu gewaltsam darum kämpfen, etwas zu machen, das viele Requi­siten hatte, Make-Up, Musik, Kamera- und Bilder­tricks – das war sehr aufregend.

artechock: Das genau wollte ich fragen: Es war dies also auch eine ganz andere Art, zu arbeiten?

Vinter­berg: Ganz und gar. Ich hab es genossen! Im Gegensatz zu »Dogma«, wo alles »hier und jetzt« war, ist in diesem Fall alles Illusion: Nichts ist wahr, es gibt viele Compu­ter­tricks. Wenn die Schau­spieler vermeint­lich in New York herum­laufen, haben wir das tatsäch­lich in Dänemark gedreht. Nichts »stimmt«! Aber innerhalb diesem Rahmen aus Illusion, gibt es genauso eine authen­ti­scheb Wahrheit wie in Festen.
Dieser Film spaltet das Publikum: 40 Prozent können nichts damit anfangen, einige bleiben kalt, sie verstehen es nicht. Aber die anderen sind sehr bewegt, gehen mit, heulen, denken wochen­lang über den Film nach.
Schauen wir den Tatsachen ins Gesicht: Das ist ein sehr fragiles Projekt. Ein Kunst-Projekt! Mit all seinen Grenzen: Die Geschichte lässt sich kaum erzählen, sie hat keine Lösung; der Film stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Als ob er etwas suchen würde. Aber wir haben versucht, das Publikum zu eskor­tieren, einen direkten Weg von A nach B zu erzählen. Aber es gab darin etwas, das stärker und wichtiger war. Darum mag ich den Film so sehr.

artechock: Auch Festen hat anfangs viele Zuschauer verstört. Welche Reaktion würden Sie sich diesmal von den Zuschauern wünschen?

Vinter­berg: Aber Festen mochten schon sehr viele von Anfang an. Das war genau so ein emotio­naler Weg von A nach B. Ich denke, ich möchte immer eine Kommu­ni­ka­tion mit dem Betrachter. Aber diesmal geht es um eine Art tieferen Kontakt mit dem Publikum, viel­leicht mit weniger Leuten, aber dafür tiefer. Manche reden über den Film, wie über einen Rotwein, der noch weiter reift. Damit bin ich sehr zufrieden.

artechock: Aber sie wollten nicht provo­zieren...

Vinter­berg: Was ich mir wünschen würde, ist, dass man diesen Film als einen Traum ansehen könnte. Dass man das verstehen könnte, und alle Erwar­tungen aufgeben könnte. Seid offen! Das wünsche ich mir. Denn dann wir man etwas Beson­deres erfahren. Ich würde mir wünschen, dass alle dazu in der Lage wären – aber das sind sie offen­sicht­lich nicht. (Lacht)

Ich war scho­ckiert: Viele Leute möchten nicht akzep­tieren, dass sie etwas nicht verstehen; sie können damit nicht umgehen – es sei denn, dass es das Label hat: »Dies ist unver­s­tänd­lich«. Wie David Lynch...

Vinter­berg: Ja, der hat das Glück.

artechock: Gibt es eine Philo­so­phie hinter Ihrer Arbeit? Wenn Sie Karate machen: Fühlen Sie sich von asia­ti­scher Philo­so­phie angezogen?

Vinter­berg: Ja. Meine Philo­so­phie ist, so stark wie möglich darum zu kämpfen, dass ich wirklich präsent bin. Wirklich da zu sein. Und es funk­tio­niert: Sie kennen das: Wenn Sie im Café sitzen, und auf jemanden warten – dann sind sie plötzlich ganz und gar anwesend. Es ist wie verliebt-sein. Ich jage solche Momente! Hinter alldem steht so ein persön­li­cher Mix aus Buddhismus, Selbst­er­fah­rung, Karate-Lehren...

artechock: Wie gut sind sie in Karate?

Vinter­berg: Ganz ok. Nicht wirklich gefähr­lich. Man lernt etwas fürs Leben, es hilft beim Filme­ma­chen und beim Interview-geben: Es ist ein Kampf. Besonders mit einem Film, wie diesem. Aber man lernt: Groß­zü­gig­keit ist wichtig. Ich versuche, immer großzügig zu bleiben. Das ist Karate!

artechock: Ihr Film ähnelt in manchem Solaris von Steven Soder­bergh. Ein Film voller 70er-Jahre-Anspie­lungen. Mit ähnlichen Atmo­sphären: Langsam, ein Wegdriften, etwas psyche­de­lisch... In welcher Weise inter­es­sieren sie die 70er?

Vinter­berg: Nun, ganz gewiss blickt dieser Film in die Vergan­gen­heit zurück: In die 70er, die 60er – ich wollte die Sprache dieses Kinos für mich zurück­er­obern und zum Leben erwecken.

artechock: Es gibt auch eine Beziehung zu Hitchcock. Eigent­lich ist dies ein Thriller, eine Mischung aus Psycho-Traum­spiel als Thriller: Ein europäi­sches, fast philo­so­phi­sches Traum­spiel. Das Kino damals wollte ja Traum­fa­brik sein...

Vinter­berg: Ja, das stimmt unbedingt. Für mich ist der Film eine Reise in die Phan­ta­sien meiner Kindheit, und in diese Filme, die ich damals gesehen habe.

artechock: Der Film hat auch einen Paranoia-Aspekt: Was ist Ihre persön­liche Paranoia? Können Sie sich mit der Paranoia Ihrer Figuren iden­ti­fi­zieren?

Vinter­berg: Ich habe vor ein paar Jahren aufgehört mich selbst zu analy­sieren. Es wurde lang­weilig. Zu rational. Aber meine Freunde finden auch, dass ich paranoid sei – ich verstehe gar nicht warum. Viel­leicht, weil ich schüch­tern bin.

artechock: Aber von »lebenden Toten« zu reden, ist in gewissem Sinn etwas Para­no­ides...

Vinter­berg: Ja. Obwohl es für mich eher bedeutet, einen traurigen Sach­ver­halt zur Kenntnis zu nehmen.
Ich arbeite, seit ich 16 bin. Ich war früher sehr ehrgeizig. Heute habe ich das Gefühl, eine Menge Zeit mit Unsinn verschwendet zu haben. Und ich versuche nun, wirklich das zu tun, was ich tun will.

artechock: It’s All About Love ist ein Resultat dieses Versuchs. Was ist Liebe für Sie?

Vinter­berg: In diesem Fall jeden­falls Konti­nuität. Nicht das Funken­schlagen der Pubertät. Sondern ein Gefühl für Verant­wor­tung. Da ich bereits seit 13 Jahren verhei­ratet bin, hat es wohl auch etwas mit meiner Ehe zu tun.
Während der Arbeit am Drehbuch habe ich einmal – glauben Sie mir! – bei Ingmar Bergman angerufen. Es war ein sehr witziges Gespräch: Der hat mich für verrückt erklärt, weil ich nicht viel schneller wieder einen Film gemacht habe. »Man sollte immer schon am nächsten Projekt arbeiten, bevor das letzte fertig ist«, meinte er, und erzählte einmal, wie er einst erst eine Woche später erfahren hatte, dass er in Cannes gewonnen hatte. So sollte es sein. Ich werde mir nie wieder zwei Jahre Zeit lassen.