»Es ist immer noch ein Tabu, dass Menschen mit Behinderung Sex haben« |
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Victoria Schulz in Stina Werenfels Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern |
Dora (Victoria Schulz) kennt keine Scham. Sie zelebriert und genießt ihr sexuelles Erwachen in vollen Zügen – ganz im Gegenteil zu anderen 18-jährigen. Nach dem Sex mit einem undurchsichtigen Fremden (Lars Eidinger), dem sie sich neugierig und genussvoll hingibt, platzt ihre Mutter (Jenny Schily) ins Hotelzimmer. Dora begrüßt sie freudig, sie liegt noch splitterfasernackt im Bett. Die Jugendliche hat das Down-Syndrom, gerade erst hat sich die Mutter dafür entschieden, die ruhigstellenden Medikamente abzusetzen und ihre Tochter für mündig zu erklären. Ihre Tochter wird schwanger – das ist der Beginn einer heftigen Adoleszenzkrise, bei der Mutter und Tochter zu Konkurrentinnen werden. Mit ihrem Film Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern rüttelt die Schweizer Regisseurin Stina Werenfels an Tabus und Grauzonen und stellt wichtige Fragen nach Moral, Freiheit und Verantwortung im Umgang mit Menschen mit Behinderung.
Anna Steinbauer sprach mit der Regisseurin über Mutterliebe und andere Neurosen.
artechock: Was sind denn nun die sexuellen Neurosen unserer Eltern?
Stina Werenfels: Meine Mutter dachte natürlich sofort, sie sei damit gemeint. Nein, habe ich ihr gesagt, damit bin doch ich gemeint. Früher oder später werden die meisten von uns selber Eltern oder haben eine Neurose gegenüber den eigenen Eltern entwickelt. Vom Sex der Eltern wollen die Nachkommen nichts wissen, obwohl sie ja daraus hervorgegangen sind. Aber mit den Neurosen der Eltern im Fall von Dora verhält es sich so: Wenn Teenager sexuell aktiv werden, schließen sie die Eltern davon aus. Ich dachte immer, das sei die Ablösung der Kinder, aber eigentlich passiert das auch zum Schutz der Eltern. Wenn die Kinder das nicht tun – wie bei Dora, die ihre Mutter nach dem Sex nackt im Hotelzimmer willkommen heißt – dann löst das eine furchtbare Krise in den Eltern aus. Das ist dann die Adoleszenzkrise der älteren Generation, die rückgespiegelt wird. Und letztendlich repräsentieren die Eltern die Gesellschaft mit ihren Moralvorstellungen.
artechock: Der Film Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern basiert auf dem gleichnamigen Theaterst ück von Lukas Bärfuss. Was hat Sie an dem Stoff interessiert?
Werenfels: Bärfuss hat in mehrfacher Hinsicht wichtige Punkte angesprochen: Es ist immer noch ein Tabu, dass Menschen mit Behinderung Sex haben – nicht einfach kuscheln und streicheln, sondern richtig harten Sex. Das tangiert die Diskussion, wieviel Schutz und Kontrolle Menschen mit Behinderung brauchen und wie urteilsfähig sie in der Partnerwahl sind. Dora wählt ja einen Partner, der nicht eben vertrauenswürdig ist und der sich auch komplett der Verantwortung entzieht. Wenn es um Sexualität in Bezug auf Menschen mit Behinderung geht, dann geht es fast immer um die Frage des Missbrauchs. Aus dieser Diskussion heraus ist wiederum ein bevormundender Reflex entstanden, wie denn diese Sexualität auszusehen hat. Darum zeigt sich genau an dieser Stelle, wie ernst eine liberale Gesellschaft das Bekenntnis zur Selbstbestimmung behinderter Menschen nimmt.
artechock: Es dreht sich also alles um die zwei Pole: Missbrauch und missbräuchlicher Schutz…
Werenfels: Wer sagt denn, welche Art von Sex man haben kann und soll? Solange es als angenehm empfunden wird, wird unsereins alles zugestanden. Das war der Punkt, der mich umgetrieben hat und meine Fantasie angeregt hat, zumal ich im selben Jahr der Uraufführung Mutter wurde. Wie würde ich in so einer Situation reagieren? Außerdem war ich eine späte Mutter und musste mir die Frage stellen, wieviel pränatale Diagnostik will ich und was ist, wenn mein Kind mit Behinderung auf die Welt kommt? Ich habe mich gegen die pränatale Diagnostik entschieden, weil ich ein Kind haben wollte und die Entscheidung darüber, welche Art von Leben ich austrage, nicht fällen wollte.
artechock: Ist es also das letzte große Tabu, Behinderte die Sex haben, zu zeigen?
Werenfels: Das meint man. Dahinter steckt aber eigentlich das Tabu der Schwangerschaft von Menschen mit Behinderung, also dass sie wieder Leben hervorbringen. Ich habe die Mutterfigur mit ihrem eigenen Kinderwunsch im Film stärker herausgearbeitet. Im Laufe der Geschichte kommt es dann ja ungewollt zu einer Fruchtbarkeitskonkurrenz mit der eigenen Tochter, das sind weitere Tabus.
artechock: Der Film erzählt ja auch eine Geschichte über Mutterliebe. Ist Kristin eine gute Mutter?
Werenfels: Sie versucht, es gut zu machen, aber alle Entscheidungen bleiben an ihr allein hängen. Sie ist eine moderne Frau und versucht, auch ein Eigenleben zu haben, zu arbeiten. Ich glaube es gibt ein Revival der Überstilisierung der Mutter. Wenn die Zeiten schlechter werden, dann ziehen sich die Frauen aus der Öffentlichkeit zurück. Letzten Endes sind sie dann zuhause und versuchen, dies vor sich selbst und den anderen als eigene Entscheidung darzustellen. Gleichzeitig erwartet man von ihnen, die Kinder erfolgreich auszubrüten, denn sie sind das neue Statussymbol. Das nimmt manchmal schon sehr krankhafte Züge an.
artechock: Das Phänomen „Regretting motherhood“ ist in letzter Zeit vermehrt in den Medien thematisiert worden. Es gibt eine Szene im Film, in der die Mutter sagt, „hätte ich doch abgetrieben“.
Werenfels: Das ist eine der schwierigen Stellen, an der viele Zuschauer zusammenzucken. Sie rührt am Konzept der unverbrüchlichen Mutterliebe. Gleichzeitig fühlen sich wohl auch manche ertappt, denn die Abtreibung von behinderten Föten findet ja bereits routinemässig statt. Die Regretting-Motherhood- Bewegung finde ich interessant, weil ich darin eine Gegenbewegung zum gesellschaftlichen Zwang zur Mutterliebe sehe. Natürlich ist Liebe wichtig für das Kindeswohl. Aber wieso die Mutter damit überfrachten? Dazu scheinen alle zu wissen, wie die „richtige, wahre“ Mutterliebe auszusehen hat. Wir müssen an guten Umständen für die Mutterschaft arbeiten, nicht an einem stupiden biologistischen Konstrukt eines urwüchsigen Mutter-Kind Bündnisses, das der sonst so kluge Rousseau postulierte. Ich stelle mir insgesamt die Frage, warum Mutterschaft ein so hochideologisiertes Feld ist. Mütter teilen selten oder gar nicht die unschönen Erfahrungen miteinander, das habe ich jedenfalls so empfunden. Meine Tochter zum Beispiel hatte ein fulminantes Trotzalter, hat nie durchgeschlafen und war extrem aktiv. Man hätte gleich Pathologisierungen vornehmen können. Das wollte ich nicht, sondern lediglich Erfahrungen austauschen. Doch dann wurden diese stets mit meiner Tätigkeit als Filmemacherin in Verbindung gebracht. Nach dem Motto: Du arbeitest so viel und führst ein „wildes“ Künstlerleben und dann redete ich lieber nicht weiter.
artechock: Wie war es für Victoria Schulz, die geistig behinderte Dora zu spielen?
Werenfels: Ich glaube, unsere Arbeit an Dora war eine Form von Sinnesschule. Die Welt neu sehen, fühlen, riechen, ertasten. Aber auch die Erfahrung zu machen, den Alltag mit einer Behinderung bewältigen zu müssen: eine Form von Weltaneignung. Außerdem war von Anfang klar, dass das eine explizite Rolle ist. Viele junge Schauspielerinnen sind davor zurückgeschreckt. Wir haben auch unter Schauspielerinnen mit Behinderung gesucht. Ich bin aber dann davon abgekommen, weil ich Angst hatte, dass eine missbräuchliche Situation entstehen könnte. Wir haben die Sexszenen mit Lars Eidinger präzise choreografiert und an den Originalschauplätzen geprobt. Es war wichtig, eine Dramaturgie zweier Körper, die eine Geschichte erzählen, zu entwickeln.
artechock: Absurd komisch ist die Szene bei der Frauenärztin, in der Dora ihre Vorstellung von einem perfekten Baby äußert: »Ich möchte ein Mädchen mit blauen Augen und langen blonden Haaren« .
Werenfels: Das ist eine sehr ironische Stelle, vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern. Beim Humangenetiker sagt man Dora: du kannst wählen, was für ein Kind du bekommst. Dora ist nur konsequent und gibt die Bestellung auf. Damit führt sie den Optimierungswahn ad absurdum und uns vor.
artechock: Ist es eher Missbrauch oder eine Liebesgeschichte, was sich zwischen Peter (Lars Eidinger) und Dora abspielt?
Werenfels: Beides, er missbraucht sie, aber er macht ihr auch gleichzeitig ein Geschenk, weil er sie nicht in Watte packt, sondern sie für voll nimmt. Er schont sie nicht. Die Eltern sehen in Dora noch das kleine Mädchen, aber Peter hilft ihr die Ablösung von den Eltern zu vollziehen. Ich wehre mich dagegen, dass Menschen mit Behinderung einzig unter diesem Label abgestempelt werden. Und natürlich darf sie Sex haben und sich verlieben, sie ist ja ein Mensch! Ihr widerfahren dieselben Dinge wir anderen auch. Das macht die Frage nach dem Schutz so ambivalent und brisant.
artechock: Irritierend fand ich den arrangierten Dreier im Hotel. Wollte Peter austesten, wie weit Dora geht?
Werenfels: Es ist ja so, dass es eine ungewöhnliche Liebesgeschichte ist, zwischen einer Frau mit geistiger Behinderung und einem Mann, der bindungsunfähig ist. Er ist zwar kognitiv nicht eingeschränkt, will aber nirgends Verantwortung übernehmen – er ist sozial behindert. Er ist ein Großstadt-Cruiser, der Stimulation sucht, wo diese sich gerade ergibt. Dora beurteilt ihn nicht, sie verlangt nichts von ihm, sie gibt ihm alle Freiheit. Da geht so ein Spalt in diesem Menschen auf, er entwickelt Gefühl. In dem Moment, in dem er sich verliebt, lädt er den Freund zum Dreier ein. Und zerstört alles.