»Mir geht es um die persönlichen Geschichten« |
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Regisseur Westmeier mit seinen »Drachenmädchen« |
Drachenmädchen ist sein Baby. Und auch wenn es keine leichte Geburt war, kann sich das Ergebnis, für das Inigo Westmeier als Autor, Regisseur, Kameramann und Produzent verantwortlich zeichnet, sehen lassen. Über mehrere Monate hat der Dokumentarfilmer junge Chinesinnen zwischen neun und 17 Jahren aus der Kampfkunstschule Shaolin Tagou begleitet. In dem Internat, das in unmittelbarer Nähe des legendären Shaolin-Tempels steht, der als Ursprungsstätte der chinesischen Kampfkunst gilt, werden 26.000 Schülerinnen und Schüler in Kung Fu und Kick-Boxen ausgebildet. Westmeier zeigt an drei persönlichen Schicksalen, wie hart der Alltag dieser Mädchen ist und welche Wünsche und Hoffnungen sie haben. Etwa 1000 Kilometer liegen zwischen ihnen und ihren Eltern, die ihr ganzes Geld in die Ausbildung der Kinder stecken, damit diese später bei der Polizei oder beim Militär mehr verdienen können als sie selbst. Viele der Mädchen träumen allerdings davon, mit den erlernten Kampfkünsten eine Rolle in einer Kung-Fu-Soap zu ergattern. Doch das bleibt für die meisten ein Traum. Mit dem Dokumentarfilmer Inigo Westmeier sprach Elke Eckert.
artechock: Herr Westmeier, Drachenmädchen ist Ihr erster abendfüllender Kino-Dokumentarfilm als Regisseur. Was war der Auslöser dafür?
Inigo Westmeier: Ich habe ja in Moskau studiert und da auch Filme gedreht, z.B. Allein in vier Wänden, wo es um Kinder in einem russischen Gefängnis ging und ich Kamera und Produktion gemacht habe. Schon damals hat es mich fasziniert, die Kinder und das Zwischenmenschliche in so einem autoritären System, wo jede Minute durchgeplant ist, zu zeigen. Außerdem habe ich mal selber Kung Fu gemacht. Und da kam eines Tages ein kleiner Junge zu Besuch, der einfach so die Wand hoch- und wieder runterrennen konnte. Das fand ich als Kameramann faszinierend, wie der das macht. Dann haben mir die Mönche, bei denen ich in Berlin trainiert habe, von diesem Ursprungsort des Kung Fu und der größten Kampfkunstschule der Welt gleich daneben erzählt. Und dass dort auch Mädchen sind. Das fand ich spannend, nicht Jungs, sondern Mädchen zu filmen, die darum kämpfen, aus der Armut ihrer Familie herauszukommen.
artechock: Wieviele Mädchen werden denn in China in Kung Fu ausgebildet?
Westmeier: Etwa 10 Prozent sind Mädchen. Ich hatte auch von einer Schule in der Nähe dieses Ursprungstempels gehört, auf der nur Mädchen sind, und bin zur Recherche dorthin geflogen. Aber die Schule gab’s nicht mehr, da waren nur noch Ruinen.
artechock: Die Planungs- und Recherchephase vor dem Dreh dauerte etwa zweieinhalb Jahre. Mit welchen Schwierigkeiten hatten Sie in dieser Zeit zu kämpfen?
Westmeier: Ich hatte mich mit meiner Idee beim BR für den Dokumentarfilmpreis beworben und kam da auch in die Endrunde. Direkt davor war ich im Kongo, im Kriegsgebiet. Deshalb war’s nicht einfach, pünktlich zu diesem Pitch zu kommen, um meine Idee persönlich zu präsentieren. Und dann war ich auch noch der einzige aus dem Team, der anwesend war, selbst die Produzentin konnte nicht kommen. Es hat dann leider nicht geklappt. Auch weil die Redakteure fanden, dass es schon genug Kung Fu-Filme gibt. Aber mir ging es ja eigentlich nie um Kung Fu, sondern um die Individuen dahinter und ihre persönlichen Geschichten. Das Kung Fu ist nur die Fassade.
artechock: Was wäre gewesen, wenn Sie den Pitch gewonnen hätten?
Westmeier: Es hätte gleich Geld gegeben und ich hätte sofort anfangen können zu drehen. Aber auch wenn ich nicht gewonnen habe, fand die Redaktion das Projekt sehr interessant und hat mir geraten, es einfach nochmal zu versuchen. Das habe ich gemacht und es waren tatsächlich auch die gleichen, bei denen ich vorher diesen Pitch verloren hatte, die jetzt meinen Film mit mir realisiert haben.
artechock: Gab’s in China Schwierigkeiten beim Dreh?
Westmeier: Nein, eigentlich nicht, da hat sich nichts verzögert. Wir hatten da so eine Service-Produktion beauftragt, als eine Art Vermittler. Das war vor allem in China sehr ratsam, weil die einem hilft, Drehgenehmigungen zu kriegen und auch mit der Schule spricht. Trotzdem wurde mir jeden Tag beim Drehen – und auch schon davor – gesagt, das geht nicht, das ist unmöglich, das kannst du so nicht machen.
artechock: Wer hat das gesagt?
Westmeier: Die Schulleitung zum Beispiel. Es war ja immer einer von der Schule dabei, und einer vom Staat. Es gab also immer zwei, die mitgingen und guckten, was man da so macht.
artechock: Die saßen dann auch während der Interviews immer daneben?
Westmeier: Ja, genau.
artechock: Was wurde denn zum Beispiel als unmöglich abgetan?
Westmeier: Wenn ich zum Beispiel im Essenssaal drehen wollte, hieß es, sie wollten vorher noch ein bisschen putzen. Auch wenn man den Dreck eh nicht im Bild gesehen hätte. Oder sie hatten Bedenken, dass zuviel Beton zu sehen ist. Obwohl die ganze Schule aus Beton besteht (lacht). Ich hab’s dann einfach trotzdem gemacht und dann war’s auch okay. Die Service-Produktion hat mich da auch sehr gut unterstützt. Und ich wusste ja auch schon von meinen früheren Produktionen im Ausland, dass die Hauptattraktion für alle am Anfang dieser komische Weiße mit der Kamera ist. Aber ich wusste auch, dass nach ein paar Tagen das Interesse abnimmt. Und diejenigen, die dauernd dabei sind, vertrauen einem mit der Zeit mehr. Auch die Kinder, die immer mehr von sich aus erzählten. Weil ich ihnen auch die Bilder, die ich aufgenommen hatte, gezeigt habe. Die Schule hat sogar ein bisschen Drehgenehmigungsgeld bekommen. Einer der Aufpasser hat sich davon ein neues Fahrrad gekauft und war dann eher mit seinem Fahrrad beschäftigt als mit meinen Fragen.
artechock: Gab’s denn pro Tag eine zeitliche Begrenzung, bis zu der Sie mit den Mädchen drehen durften?
Westmeier: Nein, das war egal. Wir konnten von fünf Uhr morgens, wenn alle aufstehen, bis zehn Uhr abends, wenn der Tag zu Ende war, drehen. Und das habe ich auch gemacht. Aber ich habe natürlich darauf geachtet, dass wir immer die Personen und damit auch die Teams gewechselt haben. Die Mädchen haben ja in verschiedenen Gruppen trainiert, und ich habe schon geschaut, dass man nicht an einem Tag nur mit einer Gruppe dreht. Sondern immer nur so drei Stunden pro Gruppe, und dann kommt man am nächsten Tag wieder.
artechock: Sie hatten ja am Anfang fünf Protagonistinnen gecastet und auch mit allen eine komplette Geschichte abgedreht. Nach welchen Kriterien haben Sie sich für die drei Mädchen entschieden, die jetzt im Film porträtiert werden?
Westmeier: Ich fand Xin Chenxi, die Kleine, die eigentlich die Beste von allen und im Eliteteam ist, schon bei meiner ersten Recherchereise ganz toll. Weil sie so konzentriert und erwachsen bei der Sache war. Immer wenn sie trainiert hat, machte sie ein ganz ernstes Gesicht. Und dann kam aber auch immer wieder das Kindliche durch. Diesen Kontrast fand ich interessant. Chen-Xi, die Ältere, fand ich toll, weil sie immer so ehrlich geantwortet hat und aus sich herausgegangen ist. Und wichtig für den Film fand ich auch die, die weggerannt ist, weil sie ein bisschen der Gegenpol ist und bei ihr auch keiner von der Schule dabei war. Die Interviews mit ihr haben ja alle in Shanghai stattgefunden. Wir haben auch bei einem ersten Schnitt gesehen, dass es sehr schwierig ist, wenn die Protagonistinnen in etwa gleich alt sind, weil die Zuschauer sie dann leicht verwechseln können. Ursprünglich waren noch eine andere Kleine und eine andere 16-Jährige dabei. Da wusste man manchmal nicht mehr, wer wer ist.
artechock: Hatten Sie nach den Dreharbeiten oder währenddessen den Eindruck, dass sich die Mädchen durch die Kung Fu-Schule verändert haben?
Westmeier: Chen-Xi, die Größere, hat tatsächlich immer mehr trainiert. Am Ende hat sie sich dann sogar für das Ganztagstraining eingeschrieben und dafür die Schule zurückgestellt. Bei der Kleinen denke ich allerdings, dass sie am Schluss immer noch so tough wie am Anfang war. Aber sie hat sich einfach immer mehr geöffnet, und deshalb lernt man sie im Verlauf des Films besser kennen. Und sieht dann eben auch ihre andere Seite. Die zeigt, dass sie noch ein Kind und zerbrechlich ist.
artechock: Kann man sagen, die größte Gemeinsamkeit aller Mädchen ist, dass sie ihre Eltern vermissen?
Westmeier: Es ist auf jeden Fall so, dass alle ihre Familien sehr vermissen. Weil die nie da waren, wenn’s wirklich wichtig war. Und obwohl die Trainer ja fast wie Eltern sind, und auch die ganze Zeit da sind, fehlen die echten Eltern einfach.
artechock: Die 17-jährige Huang tanzt komplett aus der Reihe. Sie flieht aus der Schule, weil sie den Druck nicht mehr aushält, und macht in ihrer Heimat ein Nagelstudio auf. Ist sie nicht eigentlich die Stärkste von allen, weil sie gegen alle Widerstände das macht, was sie gern macht und sich nicht „zurechtbiegen“ lässt?
Westmeier: Ich würde nicht sagen, dass sie deshalb die Stärkste ist. Die beiden anderen sind ja auch sehr stark und versuchen ihr Bestes zu geben.
artechock: Es ist unglaublich, wie selten die Mädchen Kinder sein dürfen. Haben Sie mit ihnen darüber geredet, wie es Kindern in ihrem Alter in Deutschland geht?
Westmeier: Ja, darüber habe ich schon mit ihnen gesprochen, weil es sie auch interessiert hat. Aber das ist dann auch schon sehr weit weg für sie.
artechock: Die neunjährige Xin Chenxi sagt einmal: »Kindheit bedeutet: Kinder haben Feiertage, an den Feiertagen ist man glücklicher.« Wie finden Sie diese Aussage?
Westmeier: Das ist einfach traurig. Aber der Alltag der Mädchen besteht eben vor allem aus hartem Training. Wenn sie dann mal kurz Pause haben, schlafen sie meistens sofort ein, weil sie so k.o. sind. Das habe ich zum Beispiel auf der Busreise zu einem Wettbewerb erlebt. Man könnte ja denken, da ist ein Bus voller Kinder, da ist was los, aber nein, kaum waren sie im Bus, zack, schlafen alle. Sie nutzen einfach jede Möglichkeit, um sich zu erholen.
artechock: Es gibt zwei Sequenzen im Film, in denen die Mädchen einen entspannten, fast schon glücklichen Eindruck machen. In der einen veranstalten sie eine Disco im Schlafsaal, in der anderen zeigen sie sich gegenseitig diverse Verletzungen und Narben. Wie sind die beiden Szenen entstanden?
Westmeier: Das mit der Disco hat die Größere, Chen-Xi, in einem Interview ausgeplaudert. Ich war davon sofort begeistert, aber sie hat sich fast ein bisschen geärgert, dass sie es mir erzählt hat. Aber dann waren alle Mädchen damit einverstanden, dass ich das drehe.
artechock: Und die Narben?
Westmeier: Ich habe ja versucht, jede freie Minute mit den Mädchen zusammenzusein, um zu gucken, was sie machen. Und da haben sie mir dann auch einmal ihre Narben gezeigt, worauf sie ganz stolz waren. Weil sie sich die durch das Training zugezogen hatten. Anfangs lief die Kamera noch nicht. Aber dann habe ich gesagt, oh, das ist ja spannend, das müsst ihr unbedingt nochmal erzählen. Und dann haben sie sich das nochmal gegenseitig erzählt und sich ihre Narben gezeigt.
artechock: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach den Leiter der Kung Fu-Schule am meisten von dem auch von Ihnen interviewten Mönch aus dem benachbarten Shaolin-Tempel?
Westmeier: Für den Mönch steht das Religiöse, der Buddhismus, im Mittelpunkt. Für den Schulleiter ist das Ganze eher eine Industrie: Möglichst viele Kinder, die zahlen und Preise gewinnen. Bei der Riesenmenge kommt ja auch was zusammen. Im Kloster ist schon die ganze Grunddenkweise anders. Man sagt ja eigentlich im Kung Fu: Der wahre Meister kämpft nicht. Die Mönche wissen auch so, wer gewonnen hat. Der Kampf ist immer schon entschieden, bevor er beginnt. In der Schule muss man dagegen gewinnen.
artechock: Ist das auch der Hauptgrund, weshalb Schule und Kloster nicht miteinander können?
Westmeier: Nein, das liegt vor allem daran, dass sich die Schule auch Shaolin nennt. Und das Kloster sagt: Wir sind aber Shaolin, ihr könnt uns nicht einfach unseren Namen wegnehmen.
artechock: Der Leiter der Schule legt viel Wert darauf, dass neben der Kampfkunst auch „elementare, kulturelle Bildung“ vermittelt wird. Wie beurteilen Sie die Lehrinhalte?
Westmeier: Ich kann nur sagen, dass die Studiereinheiten viel, viel weniger Zeit eingenommen haben als das Trainieren. Ich habe ja eine Schulstunde mitgedreht, und das war anscheinend ein Klassiker, da ging’s ums Knochenbrechen. Fundiertes Wissen wird da aus meiner Sicht eher weniger vermittelt.
artechock: Im Film kommen unterschiedlichste Definitionen für Kung Fu vor: Wörtlich und ursprünglich aus dem Chinesischen übersetzt heißt es „Harte Arbeit“ oder „Können durch Anstrengung“. Für den Shaolin-Mönch ist es »die im Lauf der Zeit durch harte Arbeit gewonnene Energie«. Xin Chenxi dachte vor dem Besuch der Schule, dass sie dort „fliegen lernen“ würde. Und für Huang bedeutet Kung Fu nur „mit Händen und Füßen herumschlagen“. Wie würden Sie nach den Erlebnissen des Drehs „Kung Fu“ definieren?
Westmeier: Meine Definition ist auch „Harte Arbeit“, weil der Film insgesamt auch sehr viel Arbeit und sehr schwierig war.
artechock: Sie haben fünf Jahre an der Moskauer Filmhochschule studiert. Wie kam es dazu?
Westmeier: Ich bin ja in Brüssel aufgewachsen, lebte danach in Deutschland und kurz in Amerika, danach wieder in Deutschland, und hatte auch durch Ferienaufenthalte schon viel von der Welt gesehen. Nur von Russland noch gar nichts – und ich wollte Filme machen, um das Zwischenmenschliche zu zeigen. Als mir dann jemand auf einer Party erzählt hat, dass die Schule in Russland unheimlich gut sein soll, habe ich das erstmal ignoriert. Ein paar Monate später bin ich dann aufgewacht und dachte, warum eigentlich nicht nach Moskau. Und dann, drei Tage später, war ich auch schon da.
artechock: Und wie ging’s dann weiter?
Westmeier: Erst mal hatte ich drei Monate Russisch-Intensivunterricht, acht Stunden am Tag plus Hausaufgaben. Mit mir im Unterricht an der Filmhochschule waren zwölf andere Ausländer. Von denen war nach den drei Monaten nur noch ich übrig. Deshalb hatte ich dann jeden Tag, wieder drei Monate lang, Privatunterricht, um mich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Danach habe ich angefangen zu studieren.
artechock: Fünf Jahre waren ja gerade für einen wie Sie eine lange Zeit an einem Ort…
Westmeier: Ich dachte jedes Jahr, okay, das war jetzt der letzte Winter, es reicht, ich geh nach Hause. Aber dann dachte ich mir auch immer: Nur noch EIN Film. Ich habe da meine ersten Filme als Regisseur und Kameramann gemacht, Kurzfilme, schwarz-weiß, 35mm. Es gab in der Schule ganz viele kleine Kinos. Da konnte man gleich sehen, was man gedreht hat, das fand ich toll. Diese Möglichkeit hatten nur die Kamerastudenten. Deshalb – und weil ich auch immer häufiger als Kameramann gebucht wurde – habe ich mich dann ganz auf die Kamera konzentriert.
artechock: Danach sind Sie nach Ludwigsburg gegangen...
Westmeier: Ja, da habe ich dann ein Aufbaustudium gemacht. Weil die Arbeit an der Kamera meine Leidenschaft ist und ich das in Deutschland weitermachen wollte. Es ist eben nochmal ganz anders, hier zu drehen als in Moskau. Das ist wie beim Big Mäc. In Ludwigsburg ging es eher um die Verpackung, wie alles toll aussieht. Aber ich glaube, das Nahrhafte für mich, also die alte Schule, habe ich eher in Russland gelernt.
artechock: Weshalb haben Sie dann auch noch in Berlin die Skript Akademie besucht?
Westmeier: Weil manchmal die Kritik kam, ach, du bist Kameramann, dann kann’s ja nicht sein, dass du irgendetwas von Dramaturgie verstehst. Und da dachte ich: Gut, dann lerne ich das eben auch noch (lacht).