Deutschland 2012 · 94 min. · FSK: ab 6 Regie: Inigo Westmeier Drehbuch: Inigo Westmeier, Benjamin Quabeck Kamera: Inigo Westmeier Schnitt: Benjamin Quabeck |
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Lob der Disziplin |
Ein Vogel im Käfig ist glücklich. Er hüpft beim Füttern freudig herum. Wir empfinden, dass er nicht frei ist, aber er empfindet es anders. Frei oder nicht frei, das ist ein inneres Gefühl – es kommt auf den Blickwinkel an.
(Mönch und Kung-Fu-Koryphäe Shi Yan Zhuang in Drachenmädchen)
Der ethnografische (Film-) Blick auf China hat – im Grunde wenig überraschend – mit Chinas wirtschaftlichen Wachstum stetig zugenommen. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass die Welt verstehen will, warum und wie China es gelingt, das potenzierte Wachstum der letzten Jahre zu generieren und gesellschaftlich in den Griff zu bekommen. Die Ergebnisse sind nicht selten ernüchternd und für den westlichen Blick mögen die Strukturen immer wieder fremder wirken als Ray Bradburys Chroniken über außerirdisches Leben auf dem Mars [1]. Nichtsdestotrotz ist das Spektrum erstaunlich. Allein zur viel kommentierten Thematik der Wanderarbeiter gibt es sowohl markerschütternde investigative Arbeiten wie Lixin Fans Last Train Home als auch skurrile Erzählungen wie Yang Zhangs Nicht ohne meine Leiche, ganz zu schweigen von den dokumentarischen Bestandsaufnahmen westlicher Beobachter, die einen mühsamen Kampf für Drehgenehmigungen aufnehmen und etliche Kompromisse eingehen müssen, bevor der eigentliche Film anvisiert werden kann.
Nicht viel anders ging es auch Inigo Westmeier und seinen Drachenmädchen, in dem Westmeier den Alltag der Mädchen Xin Chenxi (9), Chen Xi (15) und Huang Luolan (17) dokumentiert, die die Kung-Fu-Kampfschule Shaolin Tagou besuchen. Sowohl bezüglich der Genehmigungen als auch der täglichen Drehs, die unter strikter Beobachtung standen, musste Westmeier immer wieder Momente abpassen, in denen die Kontrollen kurzzeitig aussetzten, um ein größeres Maß an Authentizität zu gewährleisten. Wohl auch deshalb darf von Drachenmädchen kein direkter systemkritischer Bezug erwartet werden, auch wenn gerade in den Interviews mit den autokratischen Lehrern, vor allem aber mit dem Leiter der Schule, zumindest der Versuch einer Frage nach der „Lage des Landes“ angemessen erscheint bzw. sich geradezu aufdrängt, stehen doch Aussagen des Leiters wie »Wir sind eine große harmonische Gemeinschaft und festigen dadurch die kollektive Mentalität« immer wieder im Gegensatz zu den Lebenslinien und Erfahrungen der begleiteten Protagonisten.
Dies beginnt schon mit dem eingangs zitierten Shi Yan Zhuang, dessen Shaolin-Tempel und Herz der Kung-Fu-Bewegung der mit 26.000 Schülern größtem Kung-Fu-Ausbildungszentrum Chinas direkt gegenüber liegt. Zwar teilt Zhuang die grundsätzliche Moral von Disziplin und kontrollierter Freiheit, doch die feine Kritik an dem Massenbetrieb ist zumindest zu ahnen. Deutlicher werden die Brüche in der „kollektiven Mentalität“ bei den Schülern selbst. Ihr entbehrungsreicher Alltag, der weder durch adäquate Mahlzeiten noch westlichen Jugendlichen so selbstverständlichen „sinnlosen“ Zeitvertreib abgefedert wird, erlaubt nach körperlichen Exzessen und Verletzungen nicht einmal Tränen; als Westmeier präziser, offener ethnologischen Blick dann doch einmal Tränen in einem kurzen, anscheinend unbeobachteten Moment entdeckt, ist das Staunen bei dem betroffenen Mädchen, die Scham, groß. Es ist Westmeier hoch anzurechnen, diese Momente so ruhig und wenig moralisierend in den Raum zu stellen wie die Interviews mit den Lehrern und Leitern des Instituts. Auch die unkonventionelle Abspaltung von Huang Luolan, dem ältesten Mädchen, das dem Institut den Rücken kehrt und ihr Glück in einem Nagelstudio und bei ihren Eltern in Shanghai sucht, wird als »ein« Weg, aber nicht „der“ Weg aufgezeigt. Und hier wie auch in den Gesprächen mit den Eltern und Großeltern der anderen Kinder wird fast unheimlich spürbar, wie wenig kollektiv China im Grunde funktioniert. Das Kung-Fu-Institut dient nicht nur als systemstabilisierendes Sprungbrett für ein erfolgreiches Berufsleben in Polizei und Armee oder einen Martial Arts-Film, sondern auch als Disziplinaranstalt für schwer erziehbare Jugendliche, die den rigiden Normen der Parteikader, aber auch der hilflosen Familien nicht mehr genügen.
Damit komplettiert sich ein faszinierendes Porträt gegenwärtiger chinesischer Realität, das nicht nur beeindruckendes Dokumentarkino für Erwachsene, sondern auch heilsame Kost für westliche Jugendliche sein dürfte. Vor allem aber ist Drachenmädchen eine faszinierende bildliche und erzählerische Umsetzung der theoretischen Zweifel an Chinas nachhaltigem Aufstieg, so wie sie etwa kürzlich in Daron Acemoglu und James Robinson Why Nations Fail [2] formuliert worden sind.
[1] Bradbury, Ray: Die Mars-Chroniken: Roman in Erzählungen. Zürich, 2008.
[2] Acemoglu/Robinson: Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. New York, 2012.