127 Hours

USA/GB 2010 · 94 min. · FSK: ab 12
Regie: Danny Boyle
Drehbuch: ,
Kamera: Anthony Dod Mantle
Darsteller: James Franco, Amber Tamblyn, Kate Mara, Clémence Poésy, Kate Burton u.a.
Mach es wie die Sonnenuhr...

Keine Zeit

Jeder Filme­ma­cher muss sich bei seiner Arbeit zwangs­läufig auf verschie­denen Ebenen mit der Zeit ausein­an­der­setzen. In welcher Zeit (also Epoche) soll der Film spielen? Verläuft die Handlung auf einem geraden Zeit­strahl in seine natür­liche Richtung oder springt sie vor und zurück? Werden reelle Zeiträume (mit oder ohne tech­ni­sche Mittel wie Zeit­raffer oder Zeitlupe) gedehnt oder verkürzt? Gestaltet man den Film gar in (vermeint­li­cher) Echtzeit? Wie viel Zeit gibt man einzelnen Szenen und dem ganzen Film?

Für einen gelun­genen Film muss jeder dieser Aspekte stimmen, wenn nicht, dann scheitert der Film, weil er z.B. einem zu schlichten und dann, und dann, und dann-Schema folgt oder weil sich bei den munteren Sprüngen durch die Zeit keiner mehr auskennt oder weil Szenen / der Film zu langatmig, zu quälend, zu ermüdend sind oder weil vor lauter hekti­scher Rasanz die Handlung und Spannung auf der Strecke bleibt oder weil die Spielzeit nicht ausreicht, die Geschichte so zu erzählen, wie es nötig wäre oder, oder, oder.

An einem solchen Problem mit der Zeit leidet der neue Film von Danny Boyle, der die Zeit schon in seinem Titel 127 Hours trägt. 127 Stunden (das weiß bzw. ahnt man spätes­tens nach den ersten 30 Minuten des Films) ist die Dauer, die die von James Franco gespielte Figur Aron einge­keilt in einer Fels­spalte verbringen muss, bevor sie sich daraus auf drama­ti­sche Weise befreit. Dass sich Aron befreien wird, daran zweifelt man nie, denn entweder weiß man, dass der Film auf dem Tatsa­chen­be­richt des echten Aron Ralston (der um sein Buch zu schreiben erst mal lebend aus der Spalte raus­kommen musste) basiert oder man ahnt es aufgrund der gesamten Aufma­chung des Films (der Titel, die Werbung, die Stimmung zu Beginn), die einen tragisch tödlichen Ausgang der Geschichte (wie etwa im Film Into the Wild) nie auch nur möglich erscheinen lässt.

Was macht nun aber einen Film inter­es­sant, von dem man schon zu Beginn weiß, wie er (nämlich gut) enden wird?
Nachdem das Was (passieren wird) schon feststeht, kann man sich etwa darauf verlegen, das Wie (es umgesetzt wird) zu schildern. Und tatsäch­lich bieten die Versuche Arons, sich aus seiner Lage zu befreien, manch inter­es­santen Stoff. Unter Ausnut­zung seiner gesamten (beschei­denen) Ausrüs­tung und Aufbie­tung seines gesam­melten Extrem­sport­ler­wis­sens findet er immer wieder Wege, gegen sein Schicksal anzu­kämpfen.
Leider reicht das nicht aus, um wirkliche Spannung zu erzeugen. Zum einen weil man eben weiß, dass es irgend­wann schon klappen wird, zum anderen weil diesen Versuchen die zeitliche Begren­zung fehlt. Zwar schwebt über Aron ständig die Gefahr des Hunger- und Durst­todes, doch scheint diese Bedrohung nie wirklich konkret zu werden, so dass man spätes­tens nach drei vergan­genen Tagen bzw. bei Stunde 72 nicht mehr daran zweifelt, dass Aron mit einer Packung Kekse und einer Flasche Wasser auch die nächsten drei Wochen noch überleben wird. Gäbe es eine drama­tur­gi­sche Deadline (sic!), wie es der Film etwa durch das Voll­laufen der Fels­spalte durch Regen­wasser andeutet, dann würde sich unwei­ger­lich mehr Spannung einstellen (wer dagegen einwirft, dass dies aber nicht der realen Vorlage entspräche, der hat wohl immer noch eine sehr naive Vorstel­lung von der Realitätstreue des Kinos).

Die endlos lange Dauer der Gefan­gen­schaft von 127 Stunden, die einer zeit­li­chen Brisanz zuwider läuft, wäre gleich­zeitig aber auch eine große Chance für den Film.
Denn was geht in einem vor, wenn man fünf Tage an einem Ort fest­steckt, allein, mit unge­wissem Ausgang? Solche Situa­tionen bieten Raum für Entschleu­ni­gung, für Kontem­pla­tion, für tief­grei­fende Refle­xionen. Jan Philipp Reemtsma lieferte hierfür mit seinem Buch »Im Keller« über die Zeit seiner Entfüh­rung ebenso ein gelun­genes Beispiel, wie Gus Van Sant in Gerry, in dem die beiden Personen nicht in einem winzige, sondern einem nahezu endlosen Ort gefangen, isoliert und verloren sind.

Sichtlich bemüht sich auch Danny Boyle, die enorme Dauer der Gefan­gen­schaft, die abschwei­fenden Gedanken und Ängste, die Lange­weile und Verzweif­lung zu vermit­teln, was aber nicht recht gelingen will, da ihm – einmal mehr – die Zeit dazwi­schen kommt.
Schwer zu sagen, ob man 127 Stunden Einsam­keit überhaupt in 90 Minuten Film verdeut­li­chen kann (obwohl, der bereits genannte Gerry schafft ähnliches ganz ausge­zeichnet). Gewiss ist aber, dass es nur gelingen kann, wenn man den Film reduziert und zurück­nimmt. Aron mal eine Minute den Himmel anstarren oder den Fuß in die Sonne halten oder von seiner Familie träumen lassen, bevor er sich wieder 15 Minuten lang in den nächsten Befrei­ungs­ver­such stürzt, dreht das Verhältnis von Passi­vität und Aktivität zum tatsäch­li­chen Ereignis praktisch um. Die ganzen Über­le­gungen und die daraus folgende Läuterung des vormals so eigen­bröt­le­ri­schen, egois­ti­schen, aben­teu­er­süch­tigen Aron, die das Ende des Films unan­ge­nehm über­ziehen, bleibt ange­sichts der ständigen Aktion in der Fels­spalte eine unglaub­wür­dige Behaup­tung.

Die Lehre, die man aus einem Film wie 127 Hours ziehen muss, ist die, dass ein an sich makel­loser Film (guter Regisseur, toller Schau­spieler, perfekte tech­ni­sches Umsetzung, eine faszi­nie­rende Story) scheitern muss, wenn sein zeit­li­ches Gefüge nicht stimmt.