Frankreich 2017 · 86 min. Regie: Raymond Depardon Drehbuch: Raymond Depardon Kamera: Raymond Depardon Schnitt: Simon Jacquet |
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Der Blick der ganz normal Verzweifelten |
Ganz ruhig verhält sich die Kamera zur Situation. Wir sitzen mit ihr in einem nüchternen Raum. Ein Schreibtisch, Stühle. Wer hinter dem Schreibtisch sitzt, hat seinen festen Platz in der französischen Gesellschaft. Wer vor ihm zu sitzen kommt, hat vor genau zwölf Tagen einen neuen Platz außerhalb der Gesellschaft zugewiesen bekommen: Er wurde zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert. Laut französischem Gesetz erhält er nun nach einer Frist von zwölf Tagen eine Anhörung vor einem Richter, der aufgrund einer einmaligen Befragung entscheidet, ob die Einweisung Bestand hat. Wenn dies der Fall ist, verlängert sich die Internierung automatisch auf weitere sechs Monate, dann erst kommt es zu einer erneuten Anhörung. Scheitert diese wieder, folgen noch einmal sechs Monate geschlossene Anstalt. Und so weiter. Die Anhörung nach zwölf Tagen ist vor diesem Hintergrund eine Entscheidung über Leben oder Vegetieren, zwischen gesellschaftlicher Rehabilitation oder der sozialen Aussortierung.
Raymond Depardon, der 1942 geborene Großmeister des Direct Cinema, dessen Prinzip die nicht intervenierende oder interagierende Beobachtung ist, hat diesen Film über »Wahnsinn und Gesellschaft« gemacht. Seinem Film hat er ein Zitat von Foucault vorangestellt: »De l’homme à l’homme vrai, le chemin passe par l’homme fou.« – Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt über den Wahnsinnigen. Der Wahnsinn jedoch hat Methode, das zeigt der Film. Mit nüchternem Stil, der sich außer einer spärlich gesetzten, dezenten Musik von Alexandre Desplat keine Schnörkel erlaubt, seziert Depardon die Mechanismen eines Systems, das kein Mitleid kennt. Zehn Fälle verfolgen wir; oft sind wir empört.
Depardon kommt ursprünglich von der Fotografie her, er war in den Anfängen seiner Berufslaufbahn ein gefeierter Magnum-Fotojournalist, der mit spektakulären Aufnahmen politisch-sozialer Ereignisse Fotografiegeschichte geschrieben hat. Besonders im Gedächtnis geblieben sind seine Wüstenfotos, sein Spielfilm Un homme sans l’Occident (Vom Westen unberührt) (2002) taucht in diese Tuareg-Welt ein. In seinen Dokumentarfilmen hat sich Depardon seit jeher den Geschichten vor Ort gewidmet. Neben einer Serie über die Situation der Bauern in seiner Herkunftsregion Villefranche-sur-Saône – Profils paysans: L’approche (2001), Profils paysans: le quotidien (2005), La vie moderne (2008) – durchleuchtet er, und darin ist er dem amerikanischen Direct-Cinema-Meister Frederick Wiseman ähnlich, geschlossene Systeme und Handlungsräume.
12 Tage knüpft an eine Serie von Filmen an, in denen Depardon die Mechanik der administrativen Apparaturen mit seiner analytischen Methode deutlich werden lässt. Bereits in 10e Chambre (2004) zeigte er den Menschen vor der machtvollen richterlichen Instanz und wie der Staat gegen das ohnmächtige Individuum losgelassen wird. Faits divers (Vermischte Nachrichten) (1983) folgte einer Polizeieinheit bei ihren Interventionen in das reale Leben; auch hier erfuhr man das Einbrechen der Staatsmacht in die Privatheit. Weiter ging es mit Délits flagrants (1994), wo die »auf frischer Tat« (so die Übersetzung des Titels) Ertappten vom Staatsanwalt befragt werden.
Wie im Kammerspiel entfalten seine präzise gefilmten Dokumentationen nahezu klaustrophobische Momente, die spürbar werden lassen, dass man der Gesetzesmacht nicht entkommen kann. So ist es auch in 12 Tage. Zwei Ebenen werden dabei zum Austragungsort der sich im Seelenleben der Protagonisten abspielenden Ereignisse: der Körper und die Sprache. In beiden manifestieren sich die Distinktionsmerkmale von Macht und Ohnmacht. Während die Amtsträger kerzengerade hinterm Schreibtisch sitzen, versuchen sich die Patienten buchstäblich aus ihrer Zwangslage herauszuwinden. Gebeugt sitzen sie auf ihren Stühlen, drehen und wenden ihre Oberkörper, als würden sie flehen und fliehen wollen zugleich.
Die im Verhandlungszimmer verlautbarte Sprache zeigt das ganze Gefälle. Die Amtssprache der französischen Administration ist über die Maßen formelhaft, errichtet mit latinisiertem Satzbau und gespreizter Wortstellung unüberwindbare Kommunikationsbarrieren; auf diese prallen schmerzhaft die Individuen mit ihrem Ringen nach Worten und den Erzählungen unter den Nachwirkungen eines Traumas.
Für das eigentlich Wahnsinnige der »Staatsraison« hält Depardon das System an sich. Daraus macht er durch seine Kamera, die auch in den Richtern und Richterinnen immer wieder Verzweifelte oder zumindest Zweifelnde entdeckt, keinen Hehl. Die Gespräche mit den Patienten erlauben weder dem Beobachter noch dem Insider Urteile, und doch wird hier in Serie geurteilt und über Menschenleben bestimmt. Wir sehen einen kompromisslosen, verqueren Humanismus, der sich unter dem Deckmantel, doch nur das Beste zu wollen, gegen den Menschen in seiner Humanität wendet. Mit 12 Tage hat Depardon ein packendes Meisterwerk profunder, analytischer und konzentrierter Gesellschaftskritik geschaffen.