Abendland

Deutschland 2024 · 121 min. · FSK: ab 12
Regie: Omer Fast
Drehbuch:
Kamera: Lukas Strebel
Darsteller: Stephanie Amarell, Marie Tragousti, Sebastian Schneider, Janina Stopper, Amon Wendel u.a.
Abendland
Angela Merkel gibt es nicht...
(Foto: Piffl Medien)

Der Zeichencharakter Angela Merkels

Omer Fasts Spiel mit Referenzen und Verweisen ist ein knallig-schriller und doch subtiler Witz

»Ich habe sie vor Kurzem gesehen, als ich nachts in Berlin-Mitte spazie­ren­ging. Zwei BMWs fuhren vor ihrer Wohnung vor, zuerst stiegen zwei Body­guards aus und taxierten die Umgebung. Dann stieg Merkel aus einem der Autos, mit einem Klei­der­sack aus der Reinigung über dem Arm. Ich wollte ihr über meinen Film erzählen und sie einladen, wäre aber beim Versuch erschossen worden und deshalb weiß sie nichts davon. Wahr­schein­lich wird das so bleiben.« – Regisseur Omer Fast im Metropol-Interview über Angela Merkel

»Abendland« – ein bedeu­tungs­schwerer Begriff. Abendland ist auch der Titel des dritten Spiel­films des weltweit renom­mierten Video­künst­lers Omer Fast. Er beginnt wie eine Aben­teu­er­ge­schichte und entpuppt sich dann als stel­len­weise witzige, nach­denk­liche Reflexion über Iden­ti­täten und Masken im Alltag.

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Zeitlupe, Sonnen­schein, eine deutsche Vorstadt­sied­lung in Nebel­land­schaft, typische Bundes­re­pu­blik, sphäri­sche Musik, märchen­hafte Stimmung, ein Baum wird gefällt, das Bild dazu läuft rückwärts, vorwärts in die Vergan­gen­heit, zurück in jene Tage, als das Wünschen noch geholfen hat, in jene Tage, als Deutsch­land von einer Kanzlerin regiert wurde, einer Frau, mit der – wenn wir den jetzigen Rezen­senten ihrer Memoiren glauben wollen – die Histo­riker weniger gnädig sein werden als die Menschen der Gegenwart. Wir hören ihre Worte in einer berühmten Ansprache aus dem Off: »Liebe Mitbürger, es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst!«

Corona! Goldene ruhige Jahre, getaucht in milden Sonnen­schein, so nahe und doch so fern.

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»Sie kennen mich!« So lautete ihr sehr erfolg­rei­ches Motto im Wahlkampf 2013 und tatsäch­lich war dieser Satz von Angela Merkel auch sehr wirkungs­voll – Vertrauen verspre­chend, auf den alltags­kon­ser­va­tiven Wunsch nach Fort­set­zung des Beste­henden setzend.

Zutref­fend war er schon damals nicht, denn spätes­tens nach 2013 führten die poli­ti­schen Umwäl­zungen im Zuge von Will­kom­mens­kultur, AfD-Aufstieg und Pandemie zu der Einsicht: Wir kennen Angela Merkel nicht wirklich.

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Das wird nicht besser, wenn wir nun in diesem Kinofilm gleich zwei von ihnen im Wald begegnen, genau gesagt zwei Angela Merkels sich treffen, auch wenn die eine von ihnen »Angie« heißt und die andere »Merkel«, und wenn sich das, was wir von Merkel wissen, als Masken­spiel, als Charak­ter­maske entpuppt.

Es ist eine der in den eindrucks­vollen Bildern liegenden Thesen dieses Films, dass es Angela Merkel nicht gibt. Es gibt natürlich den Menschen; und es gibt die öffent­liche Persona. Das weiß auch Regisseur Omer Fast, der zugleich erkennbar davon ausgeht, dass beide nicht mitein­ander identisch sind, dass also Angela Merkel selber ein Iden­ti­täts­pro­blem hat – was als psycho­lo­gi­scher Befund ohne Frage nicht korrekt ist, aber um Psycho­logie geht es hier am aller­we­nigsten.
Mehr noch als das aber vertritt oder entwi­ckelt Omer Fast in seinem Film Abendland die These, dass Angela Merkel eigent­lich in Anfüh­rungs­stri­chen geschrieben werden muss, und dass diese »Angela Merkel« eine Projek­ti­ons­fläche ist für alles und jedes.

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Vor der Polizei durch einen tiefen Wald, einen deutschen Märchen­wald, fliehend wird sie in ein von der Zivi­li­sa­tion unab­hän­giges Dorf von Akti­visten verschlagen, das jenem »Hambi« im Hambacher Forst zum Verwech­seln ähnlich sieht: Baum­häuser wie bei Natur­völ­kern im brasi­lia­ni­schen Regenwald, Rituale wie in einem kali­for­ni­schen Esoterik-Zentrum der Hippies und ein Demo­kra­tie­ver­s­tändnis wie aus der Steinzeit der Studen­ten­be­we­gung West­deutsch­lands.

Die lustige Pointe ist die, dass Angela Merkel da nun irgend­wann sich selber begegnet und ins Gesicht schaut. Das Spie­gel­sta­dium ist, wie wir aus der Psycho­ana­lyse wissen, eine sehr frühe infantile Phase, eine Phase der Kind­heits­ent­wick­lung, an deren Ende so etwas wie eine Iden­ti­täts­her­aus­bil­dung steht. Sie erlebt Angel Merkel nun in diesem Film – ein knallig-schriller und doch subtiler Witz.

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Dabei ist Abendland kein Film, schon gar kein Doku­men­tar­film über Angela Merkel. Es ist vielmehr ein Spiel mit Refe­renzen und Verweisen, und der Zeichen­cha­rakter Angela Merkels ist in diesem Film ganz offen­kundig: Denn eigent­lich geht es um zwei Menschen, die den ganzen Film über Masken tragen – wie überhaupt alle Menschen in diesem Film Masken tragen. Auch die Poli­zisten, bloß haben die ihre eigenen Masken.

Die Masken tragen auch Filme in sich: King Kong und die weiße Frau; V wie Vendetta; Aladdin und anderer Disney-Kram, also überhaupt die plas­tik­hafte Pop-Kultur der US-Ameri­kaner.

Masken bedeuten natürlich auch Verstel­lung, Gesichts­lo­sig­keit, Indi­vi­dua­li­täts­ab­strei­fung. Sie verweisen auf Kleist: Sein »Mario­net­ten­theater«. Aber war Merkel eine Mario­nette? Wessen?

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Nüchtern erzählt handelt dieser Film von zwei Frauen, die auf unter­schied­liche Weise akti­vis­tisch sind und überhaupt von den Nach­teilen, Abgründen und den vielen Brüchen des poli­ti­schen Akti­vismus. Man kann sich fragen, ob die These des Films nicht auch die ist, dass die Maske unser wahres Gesicht ist und dass ein Abnehmen der Maske uns gar nicht mehr möglich ist.

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Es kann jeden­falls kein Zufall sein, dass dieser Film genau eine Woche nach Erscheinen von Angela Merkels Memoiren heraus­kommt. »Freiheit« – das ist bei Angela Merkel ein Befund und eine Selbst­ver­s­tänd­lich­keit und eine Selbst­be­schrei­bung, aber auch ein Zukunfts­ver­spre­chen. In diesem nicht-narra­tiven, expe­ri­men­tellen, sehr anre­genden, aber auch etwas diffusen Film ist Freiheit einer­seits die künst­le­ri­sche Freiheit des Regis­seurs und Autors Omer Fast. Und ande­rer­seits, wie bei Merkels Memoiren, ein Schreib­fehler: Es müsste »Freizeit« heißen.