FIN/RUS/EST/D 2021 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Juho Kuosmanen Drehbuch: Andris Feldmanis, Juho Kuosmanen, Livia Ulman Kamera: Jani-Petteri Passi Darsteller: Seidi Haarla, Juri Borisow, Julia Aug, Dinara Drukarowa, Sergej Agafonow u.a. |
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Dead End in Murmansk | ||
(Foto: eksystent) |
Im Abteil Nr. 6 ist dicke Luft. Das kommt nicht nur von Ljohas Selbstgedrehten. Laura, eine Finnin, die sich wahnsinnig auf diese Reise in den hohen Norden von Russland gefreut hatte, weil sie endlich in Murmansk die berühmte Felsenmalerei sehen will – sie studiert in Moskau Archäologie – ist der Wodka saufende Russe ein Dorn im Auge. Sie ist geradezu erschüttert von seinen schlechten Manieren und erbost über seine Anmachversuche. Als er sie fragt, was »ich liebe dich« auf Finnisch heißt, sagt sie »vittu sinua«, fick dich.
Es sind die 1990er Jahre, tiefer Winter. Russland hat gerade seinen Eisernen Vorhang aufgemacht, es ist die Zeit von Perestroika und Glasnost. Laura ist mit Natalia liiert, die in ihrem Wohnzimmer in Moskau gerne Salons abhält – sie ist eine Vertreterin der freigeistigen Intelligentsija. Aus dieser Sphäre fährt Laura nun mit der Murmanbahn 1500 Kilometer durch den Winter gen Norden, an den Arktischen Ozean. Im Liegewagen lassen sich die Pritschen tagsüber hochklappen, was eine strenge Schaffnerin überwacht. Laura will sie nicht helfen, als diese darum bittet, ein anderes Abteil zu bekommen. Hier gibt es keine Solidarität mit der Ausländerin und schon gar nicht mit einer Frau, die Angst vor einem Mann hat.
Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen, den man von Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki (2016) kennt, hat mit Abteil Nr. 6 eine zwar denkbar stereotype Ausgangslage geschaffen, übernimmt aber nur den Blick von Laura, der unsicheren Finnin, die herausgeworfen wird aus ihrem geschützten Moskauer Cocon mit Universität und lesbischer Liebe. In Murmansk erwartet sie eine eisige Landschaft, und Natalia geht nicht ans Telefon, wenn sie auf den vielen Halts in den Bahnhöfen in eine Telefonzelle eilt, um sie anzurufen. Seidi Haarla spielt die bodenständig wirkende Finnin, ihre Laura muss sich immer wieder innerlich sammeln und zusammenreißen. Als Frau ganz allein in den hohen Norden zu fahren, hatte sie unterschätzt. Der Norden ist Wildnis, das wird mit jedem Kilometer, den sie sich von Moskau entfernt, immer klarer. Ljoha, der als Bergarbeiter in Murmansk malocht, ist hierfür nur der Vorgeschmack. Yuriy Borisov spielt ihn, er war schon bei Andrey Zvyagintsev in Elena (2011) zu sehen. Als russischer Schauspieler wurde er jetzt Trigger für einen Film-Boykott durch die Multiplex-Kinokette CineStar, die ihn aus falsch verstandener Ukraine-Solidarität heraus canceln wollte. Nach heftigen Protesten des deutschen eksystent-Verleihs und des Produzenten Achtung Panda! wurde schleunigst zurückgerudert und irgendetwas von Versehen gemurmelt. Der Eindruck, dass hier plumpe Reflexe am Werk sind, bleibt.
Dabei seziert der Film sehr genau, wie Vorurteile wirken. Denn plumpe Reflexe gegenüber dem Russen lassen sich anfänglich auch bei der Finnin finden. Erst allmählich, in einem langsamen, spannungsvollen Pas de deux hören sie auf, sich gegenseitig zu belauern und mit Blicken in dem engen Abteil, in dem sie Tag und Nacht eine Zwangsgemeinschaft bilden, zu bekämpfen. Juho Kuosmanen zeigt hier eine große Regiekunst, dafür hat er in Cannes den Grand Prix der Jury erhalten.
In diesem Railmovie aber ist die Fahrt nicht das einzige Ziel. In einer lange ausklingenden Coda lässt Kuosmanen seine Protagonisten noch in Murmansk aus dem Zug steigen. Laura geht in ihr Hotelzimmer, sie ist jetzt auf sich zurückgeworfen, im stillen Dialog mit ihrem dicken Buch über die Felsenmalerei, die sie sehen will. Der Kameramann Jani-Petteri Passi fängt die Halbinsel Kola ein, zeigt die verschneite Leere, die dick vermummten Menschen, den Schnee, das Eis. Hier ist nichts außer der Bahnhofstation, kleinen Straßen, dem Einstieg in das Bergwerk. Und um es vorwegzunehmen: Hier ist auch keine Felsenmalerei.
Spannungsvoll an diesem nördlichsten Nicht-Ort ist, dass Murmansk heute ein wichtiger Knotenpunkt Russlands ist. Hier lässt die chinesische Poly Group einen Kohlehafen bauen, der den nördlichen Seeweg mit der maritimen Seidenstraße verbinden und Transporte von Asien nach Europa über die arktische Route ermöglichen soll – davon ist in den Neunzigern, der Zeit, in der der Film spielt, freilich nichts zu erahnen. Hier ist nur Leere und Abgeschiedenheit zu sehen. Murmansk war früher das Ende der Welt – und wird es nach dem Ukraine-Krieg vielleicht wieder sein.
Aber weil Abteil Nr. 6 in den Neunzigern spielt, als für den Osten gerade eine neue Zukunft anbricht, erzählt der Film wie jedes andere Rail- oder Roadmovie auch von einer Initiation. Laura wird ihre Verklemmtheit und Steifheit abwerfen, wird sich dem russischen Winter hingeben. Das ist mutig und enthält einen großen Versöhnungsgedanken. Hoffentlich bricht bald wieder die Zeit für Glasnost und Perestroika an.
In der Mitte von Abteil Nr. 6 gibt es eine sehr schöne subjektive Einstellung der Hauptfigur Laura (gespielt von Seidi Haarla). Sie blickt aus dem Fenster auf irgendeinen Provinzbahnhof, der ganz in Nebel getaucht ist, so dass er fast darin verschwindet. Gerade hat Laura etwas verloren, das ihr sehr wichtig war und womit sie unersetzliche Erinnerungen verbunden hatte. Hier in der Mitte des Films treffen sich auch Vergangenheit und Zukunft der Hauptfigur. Dieser Moment ist eine Metapher für Lauras Blick auf eine Vergangenheit, an die sie bisher gebunden war, und die Entscheidung, sie loszulassen, sie zurückzulassen, wo sie hingehört.
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Dies ist ein Film über eine Reise. Die Reise eines ungleichen Paares mit der Eisenbahn durch den schier unendlichen russischen Raum.
Jede Reise, jedenfalls jede richtige Reise, ist mehr als nur eine Ortsverlagerung. Es geht vielmehr darum, das bisherige Leben zumindest für eine Weile hinter sich zu lassen – die Vorurteile, Probleme, Bindungen, Sorgen – und Platz zu schaffen für das, was jede Reise mit sich bringt: Erfahrungen, Überraschungen, Entdeckungen, Veränderungen. Reisen bedeutet, eine alte Welt zu verlassen und sich auf eine neue Welt einzulassen, die sich bald präsentieren wird. Dieses Verständnis von Reise ist auch der Ausgangspunkt für den schönen zweiten Spielfilm des finnischen Filmemachers Juho Kuosmanen, der vor einigen Jahren mit seinem Debüt, dem Boxerfilm Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki, bekannt wurde.
Jetzt kommt sein neuer Spielfilm ins Kino: Abteil Nr. 6 erzählt von einer Zugreise von Moskau nach Murmansk. Man könnte diesen Film als ein ungewöhnliches Roadmovie bezeichnen. Denn Autos kommen hier zwar nur am Rande vor: Gefahren wird aber – mit dem Zug. Schon dies öffnet die Dimension klassischer Reisemythen.
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Im Vorfeld des Starts gab es unter einigen Kinobetreibern vor allem der »Cinestar«-Kinokette Boykottaufrufe und -aktionen gegen diesen Film, der immerhin bei den Filmfestspielen von Cannes einen Preis gewann. Als Ursache genügte einigen modernen Barbaren der Schauplatz Russland und die russischen Darsteller des Films – Grund war natürlich vor allem Angst um das eigene ach so wertvolle Label. »Russenfreund« möchten jetzt viele nicht mehr genannt werden. Immerhin wurde diese vernagelte Aktion nach einer angemessen scharfen Aktion des eksystent-Filmverleihs und Gegenprotesten in den sozialen Netzwerken schon bald zurückgenommen.
Man muss schon sehr borniert sein, wenn man bei diesem Film den Schatten des aktuellen Krieges und der aktuellen Regierung in Moskau nicht hinter sich lassen kann und sich nicht einfangen und bezaubern lässt von der sehr speziellen Aura des Landes und der Region, der Kultur und der Menschen, denen man in ihr begegnet.
Genau diesen Zauber empfindet ja auch die Hauptfigur selbst. Sie ist fremd in Russland, und insofern eine Stellvertreterin für alle Zuschauer, denn sie weiß zwar mehr, aber wie sich im Laufe des Films herausstellt, lange nicht genug.
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Sie heißt Laura, ist Finnin, und studiert in Moskau in den 1990er Jahren Archäologie. Sie begibt sich auf diese Reise von Moskau nach Murmansk, um dort berühmte Felszeichnungen zu sehen.
Auf der sehr langen Zugfahrt zu diesem Ziel teilt sie das Abteil bald mit Vadim (Yuriy Borisov), der in jeder Hinsicht dem westeuropäischen Klischee eines typischen Russen entspricht: Er ist laut und scheinbar rücksichtslos, trinkt viel zu viel, ein Macho, der weder moralische Grenzen noch die Privatsphäre seiner Mitreisenden anerkennt.
Auf den ersten Blick ist Vadim eines jeden Reisenden schlimmster Albtraum. Regisseur Kuosmanen rekonstruiert auch sonst ganz gut die
Klaustrophobie des Eingesperrtseins, nicht nur im Abteil, sondern in einem Zug – einem ziemlich begrenzten Raum – mit jemandem, der gelinde gesagt unausstehlich ist.
Unerwartet oder vielleicht eher sehr getreu der Plot-Formel solcher Art Filme entpuppt sich Vadim als Wesen von seltsamer emotionaler Zerbrechlichkeit und einiger Geheimnisse, und da zivilisierte bürgerliche Europäer wie Laura ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich gegenüber Unterklassen schlecht benehmen, bekommt das auch die junge Archäologin, nachdem sie Vadim genau das gesagt hat, was alle im Kino denken.
Umso unerklärlicher ist die plötzliche Nähe zwischen den
beiden. Aber bis zum Ende des Films fällt es schwer zu glauben, dass zwischen diesen gegensätzlichen Charakteren andere Gefühle als Befremdung und belustigte Distanz entstehen könnten. Wir müssen an eine Zufallsromanze glauben. Überzeugt sind wir nie.
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Dieser Plot mag trotzdem wie eine nordisch-russische Version von Richard Linklaters Before Sunrise klingen – und Abteil Nr. 6 ist in gewisser Weise genau das. Eine bittersüße Reise im Wodkadunst: Stark, tief in den Magen treffend und mit einer großen Wirkung, zwischen Rausch und Kater.
Eines der interessantesten Elemente des Films ist, dass Laura eine Kamera mit sich führt, mit der sie einen Großteil ihrer Reise filmt. Und anhand einiger Aufnahmen des »Materials« des Protagonisten macht der finnische Regisseur deutlich, dass für ihn (und für diesen Spielfilm) das Kino und das Reisen dasselbe aktive Prinzip haben: die Idee, sich einer neuen Erfahrung, einer neuen Welt zu öffnen, neue Sichtweisen, neue Bilder, eine neue Art der Interaktion mit der Welt zu suchen und sich ihr hinzugeben.
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Die Grundhaltung des Films, seine »Philosophie«, wenn man es so bezeichnen möchte, könnte man als »passiven Konformismus« bezeichnen. Die Enttäuschungen, die das Leben so mit sich bringt, werden im Geschmunzel aufgehoben. Es ist ein sprachlicher Code, den wir gewohnt sind, als »typisch finnisch« oder »nordische Melancholie« zu decodieren. Aber der Ton, den der Film zwischen seinen Figuren anschlägt, ist durchzogen von Quietismus, vom Einverständnis damit, dass das Leben einen besiegt hat.
Diese Reise bis ans »Ende der Welt« öffnet zwar einen neuen Kosmos. Aber ein bisschen leer, ein bisschen traurig und alltäglich ist dieser am Ende schon.