Großbritannien/USA 2015 · 119 min. · FSK: ab 6 Regie: Thomas Vinterberg Drehbuch: David Nichols Kamera: Charlotte Bruus Christensen Darsteller: Carey Mulligan, Matthias Schoenaerts, Michael Sheen, Tom Sturridge, Juno Temple u.a. |
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Wie das Flackern und Flimmern einer Flamme |
Es ist eine subtile, wunderbare Vorfreude, die vielleicht am ehesten der Freude auf Weihnachtsgeschenke in der Kindheit ähnelt. Wir wissen zwar um die Möglichkeiten, was wir bekommen, sind dann aber doch überrascht, denn sowohl die Verpackung als auch die verschlungenen Pfade unseres Wunschdenkens haben unsere Fantasie in die wunderbarsten Bahnen gelenkt. Genau diese Vorfreude darf auch für Thomas Vinterbergs neuen Film Am grünen Rand der Welt in Anspruch genommen werden. Denn was kann man nicht alles von einem Regisseur wie Vinterberg erwarten? Einem, der vom Dogma-bahnbrechenden Fest bis zu seiner zermürbenden Die Jagd in fast schon dostojewskischer Art und Weise die dunklen Seiten menschlicher Psychologie in unserer Gegenwart auszuloten verstand? Dessen Regie gerade in ihrer stringenten Ambivalenz aus jedem Stoff eine Überraschung zauberte. Und der sich nun entschieden hat, einen Klassiker der englischen Literatur zu verfilmen, eben Thomas Hardys 1874 erschienen Roman »Far from the madding crowd«.
Es liegt nahe, bei dieser Konstellation an Fassbinder und Effi Briest zu denken. Auch Vinterberg ist für seine Neigung zu Grenzüberschreitungen bekannt, auch ihn interessiert die Gegenwart mehr als das Vergangene. Aber Hardys Roman – obwohl nur zwanzig Jahre vor Fontanes »Effi Briest« entstanden – liest sich eher wie eine kühne Fortsetzung von Effi – allerdings ohne deren tragischen, einsamen Tod. Denn bei Hardy ist die weibliche Heldin, Bathsheba Everdene, zwar auch auf sich gestellt und versucht sich in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten, dies jedoch mit einer süffisanten, zarten und neugierigen Leichtigkeit, die Fontane völlig fremd war. Und weil Hardy sich nicht für die Tragödie, sondern eine erfolgreiche Emanzipation über gleich drei Männerbeziehungen entschied, ist Hardys Buch weiterhin so aufregend »modern«, dass sich nicht nur Suzanne Collins, die Autorin der Hunger Games, dazu entschied, ihrer Heldin Katniss den Familiennamen und etliche Attribute von Hardys Heldin Bathsheba zu geben, sondern auch Thomas Vinterberg sich für eine weitere Verfilmung dieses schon so oft verfilmten Stoffes entschied.
Vinterberg profitiert dabei nicht nur von der reichen literarischen Vorlage und einem exzellenten Drehbuch (David Nicholls), dass geschickt die Schwerpunkte alter Verfilmungen neu zu setzen vermag, sondern auch von einem Ensemble, das bis in die letzte Nebenrolle delikat besetzt ist. Seien es Bathsheebas »Männer« Sergant Frank Troy (Tom Sturridge), William Boldwood (Michael Sheen) und Gabriel Oak (Matthias Schoenarts), die die im Auflösen begriffenen Hierarchien der damaligen englischen Gesellschaft mitreißend repräsentieren oder sei es – allen voran – Carey Mulligan als Bathsheba Everdene. Es ist kaum zu glauben, welche Komplexität Mulligan Hardys Heldin verleiht und dabei die letzte Verfilmung dieses Stoffes (1967) mit Julie Christel in der Hauptrolle blutleer und blass wirken lässt.
Es ist fast so, als gieße Mulligan die Erfahrungen aus ihren großen Rollen der letzten Jahre in diese eine Frauenrolle. Mal ist sie die Jenny aus An Education, dann Kathy aus Never Let Me Go, Irene aus Drive, Sissy aus Shame und Daisy aus The Great Gatsby. Immer wieder erinnert Mulligans Spiel dabei an das Flackern und Flimmern einer Flamme, das mal zur einen, dann zur anderen Seite schlägt, mal ruht, dann wieder rußt, und jedes Mal ist es ein neues Gesicht, ein neuer Mensch, eine neue Zukunft.
Diese brilliant verkörperte Wechselhaftigkeit des Daseins, eines Charakters, der sich mit jedem neuen Partner, mit jeder neuen gesellschaftlichen Konstellation im guten wie im schlechten zu erneuern vermag, erklärt letztlich auch, was Vinterbergs Am grünen Rand der Welt aus der Historie in die Gegenwart hebt und zu einem wahrhaft beglückenden Film macht: denn der aufrichtige Kampf für die eigene Emanzipation und Identität ist, ob für Mann oder Frau, für jede Beziehung auch heute noch einer der wichtigsten – ein Geschenk, auf das die Vorfreude nicht groß genug sein kann.