Frankreich 2023 · 151 min. · FSK: ab 12 Regie: Justine Triet Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari Kamera: Simon Beaufils Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado-Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis u.a. |
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Entspannter Top-Star: Sandra Hüller | ||
(Foto: Plaion Pictures) |
Diese Musikstücke wird man nicht mehr aus seinem Kopf kriegen. Mit einer mächtigen Instrumentalversion von 50 Cents »P.I.M.P.« hebt der Film an. In Endlosschleife und ohrenbetäubend legt es sich über den Auftakt von Justine Triets Anatomie eines Falls, als kraftvoller Gegenspieler von Sandra, der Schriftstellerin, die sich im Wohnraum ihres Chalets eigentlich von einer Studentin interviewen lassen will. Ihr Mann hat die Musik im oberen Stockwerk auf volle Lautstärke gedreht. Später wird ihr sehbehinderter Sohn Daniel, elf Jahre alt, auf dem Klavier immer wieder dazu ansetzen, Isaac Albéniz’ »Suite Española« zu spielen. Die Töne verhaspeln sich, er stockt, er beginnt von vorne, zu sehr im Stakkato, zu schnell, immer wieder.
Wegen der ohrenbetäubenden Musik vertagt Sandra schließlich das Interview. Sandra Hüller spielt diese Sandra, sie trägt den Film vom ersten Moment an, wirkt sehr natürlich, tiefenentspannt, wenn sie alle Facetten ihrer Mimik zeigt, lässige Belustigung ausstrahlt. Das Authentische, das Hüller für ihre Figur transportiert, wird entscheidend sein für die ernste Tonlage, die der Film später einschlägt, wenn sie sich vor Gericht behaupten muss. Und das hat vielleicht auch über die Goldene Palme entschieden, die der Film in Cannes gewann, nur eine von zwei Preisen, die an die beiden Filme mit Sandra Hüller im Wettbewerb gingen (neben Anatomie eines Falls erhielt Jonathan Glazers The Zone of Interest die zweitwichtigste Auszeichnung, den Grand Prix).
Nachdem Sandra, die Schriftstellerin, die Studentin hinausbegleitet hat, sieht man, wie der Sohn mit seinem Hund Snoop (der mit der Dog Palm belohnt wurde) das Haus verlässt, anscheinend für einen Spaziergang in der Sonne. Als er zurückkommt, ist etwas passiert. Samuel, Sandras Mann, liegt im Schnee vor dem Haus, unter seinem Kopf eine Blutlache. Daniel ertastet ihn und wird später wie der blinde Seher aus dem Mythos die Beteiligten zum tatsächlichen Kern des Gerichtsprozesses führen. Sandra ist angeklagt, Samuel mit einem Gegenstand auf den Kopf geschlagen und seinen Tod herbeigeführt zu haben. Präzise Reenactments am vermeintlichen Tatort sollen die Beweise erbringen. Vom Tod seines Vater bis zum Ende des Prozesses wird Daniel immer und immer wieder versuchen, das Stück von Albéniz auf dem Klavier zu spielen. Ganz als gelte es, die Wirklichkeit zu beherrschen. Wenigstens ein bisschen.
Die Musik versetzt den Film in eine von Emotionen durchdrungene Sphäre, die dann wieder vom analytischen Seziermesser der Gerichtsverhandlung und der Wahrheitsfindung durchschnitten wird. Messerscharfe Logik und eine Rhetorik, in der jedes Wort sitzt, konterkarieren die tastende Suche nach der unergründlichen Wahrheit, die bis zum Schluss des Films nicht belastbar wird. Weder gibt es hier die eine Rückblende, die Verlässlichkeit über die Geschehnisse herstellen könnte, noch sind die Figuren eindeutig konturiert, als gut oder böse, als schuldig oder unschuldig. Vor Gericht, wo der Film über weite Strecken spielt, werden neben dem möglichen Tathergang auch die Moral verhandelt und subtil Vorurteile gegenüber der Fremden, der deutschen Schriftstellerin ausgespielt. Sandra hat ihren Mann, den Einheimischen, der an den Ort seiner Kindheit zurückgezogen ist, immer wieder betrogen, mit Männern wie mit Frauen. Eine grundsätzliche moralische Unaufrichtigkeit haftet ihr also an, die ihre Aussagen tönern machen. In den Augen der Anklage ist sie, was Foucault das Monströse, das Anormale genannt hat, eine, die nicht nur die Gesetze der Gesellschaft, sondern auch der Natur übertreten hat. »Ich bin kein Monster«, sagt Sandra zu ihrem Sohn, als sie von einem aufwühlenden Gerichtstag nach Hause zurückkehren.
Das alles erinnert an Otto Premingers Anatomie eines Mordes, auf den sich nicht nur Triets Titel reimt. Auch hier wird eine verkrustet-verklemmte gesellschaftliche Moral vor Gericht verhandelt, auch hier wird von der Staatsanwaltschaft eine Frau in ihrer Schuld umkreist. Hat sie ihre eigene Vergewaltigung provoziert? Geschah der Mord durch den Ehemann aus Eifersucht, Kalkül oder aus einer mentalen Störung heraus? Der Tathergang bleibt bei Preminger am Ende offen.
Auch bei Triet wird die Ehe von Sandra und ihrem Mann vor Gericht verhandelt. Der Staatsanwalt, in scharfsinniger Brillanz von Antoine Reinartz verkörpert, bringt immer neue Fragmente einer zerrütteten Liebe zum Vorschein, die Triet sehr elegant in Rückblenden überführt. Nicht aber die Frage: »Was ist passiert?« wird hier gelöst, vielmehr lenkt sich der Blick auf eine Wirklichkeit, die in ihrem Wahrheitsgehalt ohnehin problematisch ist. Denn Sandra und Samuel (gespielt von Samuel Theis) sind beides Schriftsteller, die ihre Fiktionen dem echten Leben abringen, und dem, was sie selbst für das Reale halten – dass die Figuren wie ihre Schauspieler heißen, überschreitet ebenfalls vielsagend die Schwelle zwischen dem Realen und Fiktionalen. Samuel soll nach einer Schreibkrise mühevoll nach neuem Material für eine Geschichte gesucht und dafür mit seinem Handy Gespräche mit seiner Frau aufgezeichnet haben. Hat er den heftigen Streit, der jetzt im Gerichtssaal zu hören ist, nur provoziert, um ihn später in einem Roman zu verarbeiten? Und wie stark mag seine Verletzung gewesen sein, weil Sandra von ihm eine Idee für einen Roman übernommen hatte?
Der Zugriff auf die Realität durch die Fiktion und umgekehrt ist ein Thema, das Justine Triet bereits in ihrem letztem Film Sibyl interessierte. Im Drehbuch, das sie, wie jetzt auch, zusammen mit Arthur Harari schrieb, geht es um eine Psychotherapeutin, die die Erzählungen ihrer Patienten für ihre eigenen Romane ausnutzt. Wirkte das dort aber noch plump und bediente es einen relativ schlichten Voyeurismus, fügt sich in Anatomie eines Falls die Exploitation des Realen durch die Fiktion völlig organisch in die Handlung ein – und reißt trotzdem die großen philosophischen Fragen auf. Ob wir jemanden geliebt haben oder nicht, ist vor Gericht nicht verhandelbar. Und mehr noch: Wenn die Fiktion vom Realen durchdrungen wird und das Reale in die Fiktion eindringt, werden sie beide ununterscheidbar und unbestimmbar. So schwebt der Film gleichsam über seinem Prozess, den er erzählt: Denn um diese Gemengelage von Realem und Erdachtem geht es in unserem Leben.
»Wie aber verträgt sich ein Ding wie Unbescholtenheit mit der bewundernswerten Vielzahl von Ereignissen in dem Raum der Zeit? Denn eines begibt sich nach dem anderen und bedeutet dies in Gegensatz zu jenem und ist unwiederbringlich dahin in die Zeit: ob einer das beachtet oder nicht, ob er es wünscht oder gutheißt oder es am Ende doch lieber zurücknehmen möchte.«
– Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob»4. Two or more meanings that do not agree but combine to make clear a complicated state of mind in the author.
6. When a statement says nothing and the readers are forced to invent a statement of their own, most likely in conflict with that of the author.«
– William Empson, Seven Types of Ambiguity
Es ist eine im Kern einfache Geschichte, eigentlich nicht viel anders als Uwe Johnsons Rekapitulation über den gewaltsamen Tod von Jakob in seinem Klassiker »Mutmaßungen über Jakob«. Auch in Justine Triets Anatomie eines Falls stirbt ein Mann und wie bei Johnson entscheidet der Blick darüber, ob es eine einfache Geschichte bleibt oder ob es eine komplizierte Geschichte wird und sich damit dem Anspruch einer absoluten Wahrheit mehr und mehr entzieht.
Bei Triet ist es allerdings von vorneherein schon eine komplizierte. Denn als Samuel (Samuel Theis) aus dem Fenster seines Chalets in den französischen Alpen fällt und stirbt, ist er nicht allein wie Jakob, sondern seine Frau Sandra (Sandra Hüller) ist im Haus und ihr elfjähriger blinder Sohn Daniel (Milo Machado Graner) gerade mit seinem Blindenhund spazieren. Es folgen die üblichen Schritte des Rechtsstaats wie Beweisaufnahme und Zeugenbefragungen und schließlich ein Gerichtsprozess. Denn Sandra wird verdächtigt, Samuel aus dem Fenster gestoßen zu haben. Was die Dinge noch einmal komplizierter macht, ist Sandras Beruf. Sie ist eine bekannte Schriftstellerin, die zum autofiktionalen Schreiben tendiert; der Prozess ist also auch ein Prozess darüber, was Literatur und Leben unterscheidet oder nicht unterscheidet. Und es ist ein Prozess vor und mit der Öffentlichkeit und ihren Mutmaßungen über die Wahrheit einer Beziehung und gleich mehrerer Lebenslinien.
Doch Justine Triet, die das Drehbuch für Anatomie eines Falls zusammen mir ihrem Lebenspartner, dem Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Arthur Harari geschrieben hat, setzt weitaus mehr als nur einen Gerichtsfilm in Szene. Wie ein präzises Räderwerk, dessen neue Räder und Funktionen erst mit jeder neuen Szene sichtbar werden, entwickelt Triet eine immer komplexere Beziehungsgeschichte, schlägt wie eine Bildhauerin im Schaffensprozess Stein um Stein ab, um neue Facetten des porträtierten Charakters bloßzulegen. Sie zeigt eine in ihrem künstlerischen Beruf erfolgreiche Frau, die wie Cate Blanchett in Tár unter ihrem Erfolg leidet, weil der Erfolg die privaten Beziehungen zu ihrem Mann und ihrem Sohn verändert. Und sie zeigt einen Mann, der von Schuld zerfressen wird, und ein Kind, das wie in Peter Weirs Der einzige Zeuge die entscheidende Instanz zur Wahrheitsfindung sein könnte. Doch auch das ist, wie schon angedeutet, kompliziert, denn Daniel ist blind und war spazieren, hat die Eltern aber vor seinem Spaziergang noch reden hören oder war es doch ein Streit, wie die Ermittler glauben?
Und was glaubt eigentlich Sandras Strafverteidiger Vincent (Swann Arlaud), ein Freund aus alten Tagen, der Sandra rät, weniger ihren Anspruch auf die Wahrheit zu sehen, als wie sie diese Wahrheit und sich selbst in der Öffentlichkeit repräsentiert? Wie kompliziert das Leben ist, wird einem ja sowieso erst dann klar, wenn man darüber nachdenkt, darüber spricht oder schreibt – in Triets dichtem Drama fließen alle Rezeptionsebenen mit ihren zahllosen Seitenarmen immer zügiger in einen Mahlstrom zusammen, der irgendwann tatsächlich das ganze Leben mit sich zu reißen scheint. Nicht nur die Liebe von Seelenverwandten rauscht hinab, sondern auch die Abgründe eines Paares wie in Bergmans Szenen einer Ehe werden sichtbar. Und ein finaler, aggressiver Streit, der wie Juliette Binoche und Vincent Lindon in Claire Denis’ Mit Liebe und Entschlossenheit den Abgrund noch einmal tiefer erscheinen lässt. Doch anders als bei Denis hören wir diesen Streit zu Anfang nur, gibt es nur einen Audiomitschnitt, den Samuel angefertigt hat, um über diese und andere Alltagsaufnahmen endlich seinen eigenen Roman zu schreiben zu können. Aber auch die so eindeutig erscheinende Tonaufnahme verliert ihre Aussagekraft, als sie durch Bilder und sie begleitende Narrative unterlegt wird.
Triet inszeniert diesen Streit über die Tonaufnahme so souverän wie jedes so leise wie intensiv tickende Voranschreiten ihres emotionalen Räderwerks und macht einmal mehr deutlich, dass das, was auch große Kunst ausmacht – die sieben Seiten der Wahrheit – auch das große Leben definiert, wir am Ende nichts und doch alles wissen, es am Ende um unsere individuelle Entscheidung geht, sich für das überzeugendste Narrativ zu entscheiden.
Das ist durchaus als Kritik am Faktischen gemeint, doch ist es alles andere als »postfaktisch«, liegen jedem Narrativ hier ja valide Fakten zugrunde. Es geht vielmehr um die Form. Damit entfernt sich Triet auch sehr weit von Margarete von Trotta und ihrer vor zwei Wochen in den Kinos gestarteten Ingeborg Bachmann-Exegese, in der es ebenfalls um ein Schriftstellerpaar und einen Kampf um das Überleben in der Beziehung ging und Trotta sich sehr schnell für eine Seite, für die »offensichtliche«, tendenziöse Wahrheit entscheidet. Und gegen die Möglichkeiten narrativer Komplexität, die Triet einfordert und damit auch ganz nah bei Samira El Ouassil und Friedemann Karig ist, die gemeinsam und ein wenig experimentell in ihrem Podcast Piratensender Powerplay, aber noch in ihrer schriftlichen Reflexion Erzählende Affen die Bedeutung von narrativen Denkstrukturen nicht nur für unsere Gegenwart herausstreichen.
Bei all den assoziativen Räumen, die Triets großartiger Film eröffnet, sei allerdings noch einmal betont, dass wir es hier nicht nur mit einem Meta-Gerichtsfilm zu tun haben, sondern auch mit einer großartigen, hyperrealen Beschreibung von Beziehungs- und Alltagsrealität, die ganz nebenbei auch die bekannten, traditionellen Rollenmuster austauscht, der Mann fast in allen Belangen das darstellt und lebt, was sonst die Frau ist.
Es ist eine relative Realität, die von einer umwerfenden Sandra Hüller so filigran und immer wieder furchteinflößend und erschütternd erspielt wird, die von dem fantastischen Kinderschauspieler Milo Machado Graner so zurückhaltend wie neugierig hinterfragt und von dem übrigen Ensemble zu einem fantastischen Ganzen in den erzählerischen Raum gewuchtet wird, dass man sich bereits lange vor dem Ende wünscht, die Anatomie eines Falls möge noch länger als die an sich ja schon langen 151 Minuten dauern.
»Ich bin unschuldig, das weißt du oder...?«
- Aus dem Film
Wir wissen gar nichts. Es könnte sich um einen Unfall, um Selbstmord, aber auch um Mord handeln. Oder um einen MacGuffin, einen dramaturgischen Trick, den die Regisseurin in irgendeiner Drehbuchwerkstatt beigebracht bekommen hat.
Das Ergebnis ist ein Whathappened-Szenario, bei dem sich der Autor dieses Textes manchmal bei der Frage ertappte, wie stark ihn das alles interessiert. Und ob überhaupt. Und warum denn...?
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Der Hauptzeuge ist ausgerechnet ein sehbehindertes Kind – und trotzdem ist der vierte Spielfilm der französischen Regisseurin Justine Triet keineswegs ein klassischer Kriminalfilm. Bei den Filmfestspielen in Cannes gewann Anatomie eines Falls im Mai überraschend die Goldene Palme.
»Anatomie« – dieser Begriff im Titel ist nicht zufällig gewählt: Das Konzept der Anatomie hat mit der Forensik zu tun, der Idee, Fakten so zu sezieren, dass am Ende eine gewisse Form der Objektivität, der Tatsachen-Wahrheit herauskommt. Die Idee dieses Films geht dabei auch auf einen großartigen alten Hollywood-Film aus dem Jahr 1959 zurück. In Otto Premingers Anatomie eines Mordes spielt
James Stewart einen armen Anwalt, der einen Soldaten verteidigt, der des Mordes am angeblichen Vergewaltiger seiner Frau beschuldigt wird. Anatomie d’une chute zeigt ebenfalls eine juristische Anatomie, aber es geht hier nicht so sehr um die Sezierung der juristischen Spiele, sondern um eine Reflexion über die Moral hinter dieser Sezierung der Fakten.
Zudem ist der Titel in der deutschen Übersetzung doppelsinniger als im Original: »Chute« heißt
Sturz oder Absturz. Der »Fall« meint dieses ebenso wie den Kriminalfall oder Gerichtsfall.
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Der hier verhandelte Fall scheint zunächst einfach zu liegen. Er wird von seinem Anfang her zunächst chronologisch erzählt: Eine hervorragende Sandra Hüller spielt eine erfolgreiche Schriftstellerin, die sich auf autobiografische Werke spezialisiert hat. Zu Beginn gibt sie ein Interview, und erweist sich hier als kühle, kalkulierende, ein bisschen arrogante, jedenfalls sehr selbstbewusste Person.
Sie lebt mit ihrem Ehemann, einem im Gegensatz zu ihr nicht
erfolgreichen und frustrierten Schriftsteller zusammen, der seine Frustration zum Teil mit Rotwein ertränkt, zum Teil aggressiv nach außen trägt. Beide haben einen kleinen Sohn, der vor einiger Zeit einen Unfall hatte, der sein Sehvermögen stark beeinträchtigt hat.
Kurz nach dem besagten Interview stürzt der Ehemann vom zweiten Stock des Hauses tödlich ab. Ein Unfall? Im Prinzip könnte es sich auch um Selbstmord handeln, aber es besteht ebenfalls die Hypothese eines Mordes.
Die Schriftstellerin wird jedenfalls nach einiger Zeit unter Mordverdacht gestellt, angeklagt und muss sich darum vor Gericht verantworten. Der einzige wichtige Zeuge in diesem Fall ist der Sohn, der damals im Haus war und der nun in ein erschütterndes Stahlbad über die
so dunklen wie wahren Geheimnisse des Lebens seiner Eltern getaucht wird.
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Der Film entwirrt die Komplexität zwischenmenschlicher und partnerschaftlicher Beziehungen, in die niemand außer den Beteiligten hineinsehen kann. Je länger eine Beziehung dauert, desto seltsamer kann sie werden, zugleich überwinden die Partner vieles gemeinsam. Wir fragen uns bis zum Schluss: Hat sie es getan oder nicht? Wird sie dafür verurteilt werden? Werden wir die Wahrheit herausfinden, wenn wir ihren Charakter genau verfolgen? Und werden wir jemals erfahren, wie es wirklich war?
Obwohl sich etwa anderthalb Stunden des langen Films auf den Prozess konzentrieren, besteht der Clou von Regisseurin Justine Triet darin, das juristische Instrumentarium nur zu benutzen, um mit ihm eine Anatomie des Paares in Rückblicken zu vollziehen, die auch in ihrer moralischen Beflissenheit an Ingmar Bergmans bürgerliche Introspektions-Melo-Dramen und dessen Welterfolg Szenen einer Ehe erinnert. Während des Gerichts-Prozesses werden die Spannungen in der Ehe deutlich, vor allem die Eifersucht des Ehemanns, der im Erfolg seiner Frau die eigene Mittelmäßigkeit widergespiegelt sieht.
Der Sohn war bei den dauernden Streitereien der Eltern dabei und hat alles gehört, aber nichts gewusst. Im Prozess wird sich seine Unschuld und deren Pervertierung als entscheidend erweisen. Der Film ist keine Suche nach der Wahrheit der Tatsachen, sondern nach subjektiven Wahrheiten. Das Ergebnis ist eine Chronik der Geheimnisse der Ehe, aber auch eine Reflexion über den seelischen Schmerz, der mit der Erinnerung an dunkle Ereignisse verbunden ist, und über den moralischen
Schmerz, der damit verbunden ist, sich der Kälte der Justiz und der Ungewissheit der Zeugen zu unterwerfen.
Aber wir kennen die Personen nicht und sehen nur das, was der Film uns zeigen will. Und das ist oft keine einfache Vorstellung. Niemand wäre begeistert, wenn sein Leben, seine Entscheidungen und seine vielen Fehler vor Fremden, aus dem Zusammenhang gerissen und von allen beurteilt, vor Gericht diskutiert würden.
Unbedingt erwähnenswert ist hier auch Vincent (Swann Arlaud), der Anwalt der Autorin, mit dem sie eine langjährige Affäre hat und der das Bild ihres verstorbenen Mannes verdrehen muss, damit alle im Gerichtssaal die Version seines Selbstmords glauben.
Der Film zeigt uns damit also vor allem den (Zer-)Fall der modernen Familie, die oft als Wiege für jede subtile und rücksichtslose Form der Manipulation angesehen wird. Die stets komplizierten zwischenmenschlichen (und in diesem Fall familiären) Beziehungen werden von Justine Triet unter die Lupe genommen. Dabei werden geschickt manche Klischees vermieden.
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Anatomie eines Falls ist ein guter Film, wohltemperiert und maßvoll. Er wird bestimmt noch viele Preise gewinnen. Zum Beispiel beim Europäischen Filmpreis. Denn dies ist genau die Art von mittlerem Realismus, von bürgerlicher Aufgeräumtheit, der bei solchen Akademieabstimmungsgemeinschaften reüssiert. Ein Film, der ebenso wie die hypothetischen Selbstfindungsromane der Protagonistin davon erzählt, wie sich die Realität in Fiktion verwandelt, in
subjektive, perspektivische Deutungen.
Einwenden muss man, dass die Regisseurin eine im Kino schon tausendmal benutzte etwas zu gut geölt abschnurrende Erzählmaschine anwirft, dass alles zum Teil recht konstruiert ist, wie die Struktur einer Fernsehserie – ein Dreiteiler. Und dass ein paar Erzähltricks als allzu offensichtliches Werkzeug zur Lösung des Falles fungieren.
Anatomie eines Falls ist ein dramaturgisch sehr solides Filmprodukt – Ja: »Produkt«. Etwas (Ver-)Käufliches. Eine Handelsware –, das auf eine etwas akademische, bemüht-beflissene Art und Weise erzählt wird, in einer Länge, die mit zweieinhalb Stunden vielleicht zu lang ist für die erzählerische Substanz, die es am Ende enthält.
Um wirklich zu fesseln, dazu macht der Film mit Werten viel zu viel, mit Bildern viel zu wenig. Zuviel Drehbuch, zu wenig Kamera und Montage. Respektvoll aber kühl blickt man auf ein analytisches Konstrukt.
Die mancherorts begeisterte Reaktion auf Triets Film ist übertrieben. Wir müssen abwarten, wie relevant er im Rückblick bleiben wird. Oder ob er sich eher zu einer der schnell vergessenen Cannes-Palmen entwickelt, wie Die Klasse oder Dheepan. Zuvor wird er viele Jahrespreise gewinnen. Zuviel Zeitgeist trübt den Blick.