Israel 2012 · 94 min. · FSK: ab 6 Regie: Rama Burshtein Drehbuch: Rama Burshtein Kamera: Asaf Sudry Darsteller: Hadas Yaron, Yiftach Klein, Irit Sheleg, Chayim Sharir, Razia Israely u.a. |
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Intim, ohne sentimental zu sein. |
»Das ist er!« Ein Blick und alles ist passiert. Blicke sind im Kino das wichtigste Element der Kommunikation, hier lauern die Widersprüche, hier wird alles ausgesprochen, was sonst ungesagt bleibt: Das Unbewusste, Verdrängte, Verheimlichte...
Als ihre Mutter und die 18-jährige Shirá im Supermarkt heimlich einen jungen Mann beobachten, sagt ihr die Mutter diesen Satz: »Das ist er!« Es ist dieser Mann aus einer Familie, »die passt«, die die Eltern für Shirá ausgesucht haben. Und Shirá, die in ihrem Leben noch keinen Kinofilm gesehen hat, keine Jugendzeitschrift gelesen, und die daher in Liebesdingen mehr als unerfahren ist, ist sofort überzeugt, hier dem Mann ihres Lebens begegnet zu sein. Sie wird die arrangierte Hochzeit sofort aus innerer Überzeugung annehmen.
Hochzeitsvorbereitungen sind im Kino der Ort, in dem Familien ihren großen Auftritt haben und das innere Zusammenspiel dieser sozialen Mikroorganismen inszeniert wird, und damit auch das Zusammenspiel größerer Einheiten. Rama Burshteins Film FILL THE VOID (deutsch: An ihrer Stelle; hebräisch: »Lemale Et Ha’Chalal«) lässt den Zuschauer in eine den meisten höchst fremde Welt eintauchen: Die einer jüdisch-orthodoxen Familie aus Tel Aviv. Es scheint zumindest zuhause – und das Berufsleben sieht man nicht – ein Matriarchat zu sein. Die Mütter sprechen über alles und entscheiden alles. Der kalte Pragmatismus dieser Mütter, ihr Klartext, die Offenheit und Direktheit, mit der sie reden, wirkt »down to earth«, realistisch, pragmatisch und auf diese spezielle Art sehr schön. Die Frauen haben auch den Schlüssel zum Safe. Dem Ehemann wirft man ihn lässig zu und ruft noch hinterher: »Sag mir, wieviel Du nimmst.« Man feiert Puim. »Never delay a match« heißt es da ahnungsvoll. Aber da ist es schon zu spät...
Als gerade die ersten Hochzeitsvorbereitungen für Shira beginnen, stirbt ihre ältere Schwester Ester unerwartet bei der Geburt des ersten Sohnes. Plötzlich steht die Frage im Raum, was mit dem Witwer und dem kleinen Sohn geschehen soll. Der Mann, das ist für alle klar, kann nicht allein bleiben. Das Kind braucht eine Mutter, der Mann braucht mehr Kinder – alles das ist selbstverständlich.
Auch hier planen und entscheiden die Mütter. Sie stehen stellvertretend für die
Macht der Community, von der dieser Film handelt: Über eine potentielle Braut wird neben der Tatsache, dass sie Witwe ist und zwei Kinder hat, also auch versorgt werden muss, positiv vermerkt, dass sie Hebräisch spricht. Doch bald taucht die Forderung aus Teilen der Familie auf, Shirá solle doch ihn heiraten. So bliebe der kleine Enkel in der Nähe der Großeltern. Wieder einmal müssen auch hier wieder Kinder alles tun, damit es den Eltern gut geht. Auf ihr eigenes Glück verzichten, damit die
Eltern glücklich sind, weil sie doch auf soviel verzichtet haben. So dreht sich der familiäre Teufelskreis immer weiter. Eine harte Wahl steht Shirá bevor: Sie muss wählen zwischen ihrem individuellem Glück und dem der Eltern, der Macht der Gemeinschaft...
FILL THE VOID (An ihrer Stelle) stellt vor allem deren positive Seite ins Zentrum: Die Sicherheit und Geborgenheit, die diese geschlossene Community bietet, die alltäglichen Schönheiten des gemeinsamen Lebens. Schattenseiten werden trotzdem nicht verschwiegen: Der Druck, unter dem alle Frauen stehen. Ob man heiratet, ist gar nicht mehr die Frage, sondern nur wann endlich und vielleicht noch, wen? Und wie viele Kinder man bekommt. Mindestens drei. »Hat man
als Frau überhaupt ein Leben ohne Mann?« wird einmal gefragt.
So führt einen der Film ein in die fremde Welt der chassidischen Juden, der Orthodoxen, die vielen Juden nicht weniger fremd ist, wie allen nichtjüdischen Zuschauern. FILL THE VOID (An ihrer Stelle) fügt sich damit in eine erkennbare allgemeinere Tendenz des Zeitgeists, – nicht nur, aber auch im Kino – das Orthodoxe verschiedenster Couleur interessant zu finden.
Natürlich kann man sich mit gutem Recht fragen, ob man Religion und Orthodoxie denn wirklich so wichtig nehmen muss, wie all diese neuen Filme suggerieren, ob Religion und Rituale etwas irgendwie Wichtiges wären? Etwas mit dem wir uns ernsthaft auseinanderzusetzen hätten? Dabei wäre gerade Orthodoxie uns sofort weitaus unsympathischer, wenn es um islamische Fundamentalisten handelte, oder auch christliche. Auch über FILL THE VOID (An ihrer Stelle) war im Vorfeld zu erfahren, die Regisseurin, die aus New York stammt, sei selbst orthodoxe Jüdin, und habe sich den Film auch von einem Rabbi abnehmen lassen. Wer weiß, ob das stimmt? Glauben aber kann man es.
Aber FILL THE VOID (An ihrer Stelle) bedient andererseits ohne Frage eines der Bedürfnisse, die im Kino besonders wichtig sind: Er zeigt eine fremde Welt, die man sonst nicht sehen kann: Wir sehen Trauerrituale, Besuche beim Rabbi, hören Lieder und Gebete. Wir sehen die Trauer um die Tote, hören »may the god console you«, sehen die Beschneidung des Frischgeborenen, lauschen zu »Höre Israel!«, wir hören Lieder über Zion and Jerusalem, sehen immer wieder
Männer bei Tisch Lieder singen: »If I forget you o Jerusalem...« Und natürlich gibt es am Schluss eine Heirat, eine arrangierte. Obwohl Shira vorher auf die Frage des Rabbi, ob sie glücklich sei, geantwortet hatte: »Its not a matter of feelings.« Und er darauf: »Its only a matter of feelings.«
Trotzdem ist dies ein Film, der eine Ehe propagiert, die durch den Kopf entsteht, nicht durchs Herz. Die Liebe, so wird suggeriert, sei dann nur noch eine Frage der Zeit. Vielleicht ist es ein in
manchem allzu idyllisches Portrait des Lebens orthodoxer Frauen. Widerstand gegen diese Lebensform kommt hier jedenfalls nicht vor.
Vollkommen glücklich ist man also nicht mit diesem Film. In ihrer Inszenierung benutzt Rama Burshtein den Weichzeichner ein wenig zu häufig. Ihre Schauspieler sehen insgesamt etwas zu gut aus. Leider schaut die Regisseurin manchmal weg, wenn es gerade interessant wird, etwa beim Tod der Tochter, oder bei der Beschneidung des Kindes. Trotzdem ist dies insgesamt ein überraschend gelungener Film, ein Beispiel für Kino, das sehr intim ist, ohne sentimental zu sein.