Lars von Triers Antichrist

Antichrist

DK/D/F/S/I/PL 2009 · 108 min. · FSK: ab 18
Regie: Lars von Trier
Drehbuch:
Kamera: Anthony Dod Mantle
Darsteller: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg
Im Hort des Bösen

Der Schmerz ist ein dunkler Wald

Charlotte Gains­bourg als Desperate Housewife

Der Wald als Hort des Bösen. Die Frau als eine Heilige mögli­cher­weise. In seinem neuesten Kino-Vexier­spiel entfaltet Lars von Trier die Geschichte eines namen­losen Ehepaars, das seinen Sohn verloren hat. Zugleich auch ein Horror­film, sozusagen von Triers Blair Witch Project, ein Film über Agonie und Verzweif­lung, der in abgrün­digste Destruk­tion mündet.

Es beginnt alles wunder­schön: Händels berühmte Arie »Lascia ch'io pianga« aus der Oper Rinaldo ertönt: Vom grausamen Schicksal ist darin die Rede und von der Sehnsucht nach Freiheit. Vom Leiden und von Angst... »Leave me to weep over my cruel fate And leave me to long for liberty. May sorrow break the bonds of my anguish, if only for pity’s sake...«. Das Bild auf der Leinwand ist in Schwarz­weiß gehalten, mit klaren, kräftigen Kontrasten. In Zeitlupe sieht man in Nahauf­nahmen ein Paar beim Sex unter der Dusche, ein paar porno­gra­phi­sche Nahauf­nahmen inbe­griffen, dazu Spielzeug, ein Kinder­zimmer... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: »Schmerz«, »Trauer«, »Verzweif­lung« heißen sie...
Ein Glas stürzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich inmitten all der Schönheit die Kata­strophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als Sünden­fall.

Jenseits von Eden

»Dogma 95 stellt sich in Oppo­si­tion zum indi­vi­du­ellen Film durch das unan­greif­bare Regelwerk, dem wir den Namen „KEUSCHHEITSGELÜBDE“ gegeben haben. Außerdem gelobe ich als Filme­ma­cher, von persön­li­chem Geschmack Abstand zu nehmen! Ich bin kein Künstler mehr. Ich verspreche davon abzusehen, ein „Werk“ zu schaffen. Mein höchstes Ziel ist es, von meinen Mitwir­kenden und meinen Szenerien die Wahrheit einzu­for­dern.«
Manifest 4: 1995 zu dem Film Idioten

Ohne Frage: Lars von Trier macht das gut. Zugleich es ist ungemein präten­tiös: Der Teddy, der in Zeitlupe in den Schnee fällt... Die bezau­bernde Kirchen­musik dazu... Die Wasch­ma­schine, die läuft.

Und doch: Dies alles war nur der Prolog, die ersten Minuten zu Lars von Triers neuem Film Anti­christ. In der strengen Struktur von vier Akten, plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verliert, und das sich in einem Teufels­kreis aus Trauer, Schuld­vor­würfen und Wahn verstrickt. In der letzten halben Stunde aber beginnt der eigent­liche Skandal des Films, der viele Kritiker bei seiner Premiere bei den Film­fest­spielen von Cannes staunen, schweigen, kopf­schüt­teln und mitunter auch einfach nur schäumen ließ.
Bis dahin ist dies ein zähes Bezie­hungs­drama: intensiv gespielt von Charlotte Gains­bourg und Willem Dafoe aber durchaus im gewohnten Stil des europäi­schen Auto­ren­kinos zeigt es fast kammer­spiel­artig die Selbst­zer­flei­schung des Paares, erzählt von miss­glückter cogni­tiver Psycho-Therapie und einer Wanderung in einen symbolüber­frach­teten Wald namens »Eden«.

Der Teufel im Weib

Dann aber sagt ein Fuchs »Chaos reigns«, was man sich im Kino ja öfters wünscht. Als das Chaos zu regieren beginnt, wandelt sich der Film in einen Horror­film mit Splat­ter­ele­menten. Schon zuvor hatte man expli­ziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejaku­lieren, einen Bohrer das Bein des Mannes durch­bohren, worauf durch die Wunde ein Stahl­stift getrieben und daran ein Mühlstein fest­ge­bunden wird. Ebenfalls ohne Narkose schneidet sich die Frau mit einer Schere die Klitoris ab – und dies sind nur die Grau­sam­keits­höhe­punkte des Films.

Der Hinter­grund des Ganzen: Die Frau und Mutter stellt sich als Hexe heraus – oder eben nicht, s.u. –, der Tod des Kindes als Frucht reli­giösen Wahns – und wie im klas­si­schen Horror­film kämpft der Mann, als er endlich erkannt hat, was Sache ist, ums Überleben...
Was genau in Eden passiert, liegt im Auge des Betrach­ters: Der »Anti­christ« des Titels, das könnte die Frau und Mutter sein, eine Hexe im reli­giösen Wahn. Es könnte auch der Gatte sein – stell­ver­tre­tend für all jene Männer, die über Jahr­hun­derte wie auch diesmal Frauen quälten, sexuell frei­zügige, eman­zi­pierte Weiber zu Hexen stem­pelten, folterten, verbrannten. Hier setzt sich die Frau einmal zur Wehr.
Aber der Schmerz ist ein ganz dunkler Wald. Und darum könnte sich der »Anti­christ« sogar im Kind selbst verbergen, das am Anfang so ruhig fast lächelnd und mit über­le­genem Blick sich in die Tiefe stürzte...

Provo­ka­tionen auf höchstem Niveau

»Wir wollen uns nicht länger mit ›gut gemeinten Filmen mit huma­nis­ti­scher Botschaft‹ begnügen, wir wollen mehr – mehr von der echten Ware, der Faszi­na­tion, dem Erlebnis – kindlich und rein wie alle wahre Kunst. Wir wollen in eine Zeit zurück­kehren, als die Liebe zwischen den Filme­ma­chern und dem Film noch jung war, als die Schaf­fens­freude noch jedem Filmbild anzu­merken war! Wir wollen hete­ro­se­xu­elle Filme für, über und von Männern sehen. Wir sind auf der Suche nach Sinn­lich­keit.«
Manifest 1: 1984 zu Element of Crime

Blut und Sex nahe an der Porno­gra­phie hatte Lars von Trier schon im Vorfeld ange­kün­digt – ob das nun als Drohung gemeint war, oder als Verspre­chen, darüber kann man sich bei diesem Mann eigent­lich nie sicher sein. Schon immer war von Trier gut gewesen für Provo­ka­tionen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister in diesem Fall verlauten, würde er seine eigene Seele entblößen, so tief wie nie, könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken.

Tatsäch­lich: Anti­christ ist eine erschüt­ternde Erfahrung. Eine erschöp­fende auch. Manchmal geht er einem einfach auf die Nerven. Im Rückblick kann man dann sagen: Das war Absicht. Von Trier wollte uns Betrachter einlullen, uns vorbe­reiten auf die Aufgaben, die noch kommen. Man kann aber auch sagen: Der Film hat keine Ökonomie.

Das Böse in die Welt zurück – als Natur

Anti­christ ist gepflas­tert mit Zeichen in barocker Fülle und Plas­ti­zität: Man sieht spre­chende Füchse, erschla­gene Vögel, ein Reh dem eine Todgeburt aus dem Bauch heraus­hängt, Goya-Zeich­nungen anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester. Man hört einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft. Die Natur erscheint in dieser Perspek­tive als eine Kirche des Satans, das Leben ist dem Tod immer verfallen. Das Böse, der Anti­christ kehrt somit wieder in die Welt zurück – als Natur, als eine kosmische Kraft. Von Trier liest dies in die biblische Welt der Apoka­lypse hinein. Das rationale Verfahren greift nicht mehr im Angesicht des Ver-rückten.

Der Film ist auch gepflas­tert mit Verweisen auf die und aus der Kultur­ge­schichte: Auf den »Hexen­hammer«, auf Nietzsche. Von Trier entfaltet eine Phan­tas­ma­gorie der Angst, des Schre­ckens. Aber er hat auch einen Film voll reli­giöser Demut gedreht. Er greift auf die Symbol­welten der Reli­giö­sität zurück. Am Ende liest man die Widmung: »Für Andrej Tarkovski«. »Sein Werk ist mir extrem wichtig.« kommen­tiert von Trier, »Keiner vermochte Natur so darzu­stellen wie Tarkowski. Wieder und wieder habe ich seinen Film Der Spiegel gesehen. Tarkow­skis Bilder rühren an mein Innerstes, aber ich kann nicht beschreiben, was dort liegt. Ich habe nie versucht, seine Filme zu analy­sieren. Es ist, als ob man sehr gute Musik auflegt. Ich bin sicher, dass er sehr religiös war.«
Schließ­lich kann man sagen: Von Trier will hier den Geschlech­ter­kampf mit den Mitteln des Horror­films zu erzählen. Der Regisseur ist bekannt­lich kein reli­giöser Mensch, er hat sich hier wie sonst nur angewöhnt, das Nicht-zu-vertei­di­gende zu vertei­digen.

Lebens­phi­lo­so­phie

»Es gibt nur EINE Entschul­di­gung, um die Hölle durch­zu­stehen, die der Entste­hungs­pro­zess eines Filmes bedeutet, und andere zu zwingen, sie durch­zu­ma­chen: die fleisch­liche Befrie­di­gung, die in dem Bruchteil einer Sekunde entsteht, wenn die Kino­laut­spre­cher und der Projektor gemeinsam dafür sorgen, dass die Illusion von Bewegung und Ton sich ihren Weg bahnt, um dieses EINE zu schaffen: einen mira­ku­lösen Hunger nach Leben! Dieses fleisch­liche Erlebnis, wenn die Filmmagie sich wirklich einfindet und sich wie ein zitternder Orgasmus ihren Weg durch den Körper bahnt. Es ist meine Jagd nach DIESEM Erlebnis, die immer bestehen wird und immer in meiner Arbeit und meinem Streben existiert hat. Gott allein möge mich für meine alche­mis­ti­schen Versuche, Leben aus Zelluloid zu erschaffen verur­teilen. Eines jedoch ist gewiss, das Leben außerhalb des Kinos wird nie etwas Vergleich­bares finden, denn es ist SEIN Werk und daher göttlich.«
Manifest 3: 1990 zu Europa

Aber auf die Frage, warum er diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich: Ist Lars von Trier ein Frau­en­feind oder doch ein heim­li­cher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Nur die Ableitung von alldem aus der Biogra­phie Lars von Triers ist etwas zu primitiv.

Unter anderem ist das natürlich egozen­trisch, arrogant und manie­riert. Aber einmal mehr entpuppt sich von Trier als Kino-Hexer, der sein Publikum verzau­bert und dabei in Rage versetzt. Von Trier erzählt von dem Zusam­men­hang vom Schönen und vom Bösen als Erzähl­kraft, und von der Bedeutung des Rätsel­haften, der Phantasie…

Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: Das Ausreizen mensch­li­cher Extreme und die Konfron­ta­tion mit ihnen. Und die aller­in­ter­es­san­teste Erfahrung nach der Begegnung mit Anti­christ ist nun die Unsi­cher­heit darüber, was man von dem Film zu halten hat. Wenn Kunst das leistet, ist sie schon gewonnen.

Die Manifest-Texte sind zitiert nach dem lesens­werten Artikel »Alchi­mis­ti­sche Versuche, Leben zu schaffen. Zu den Inspi­ra­ti­ons­quellen des dänischen Meis­ter­re­gis­seurs Lars von Trier« von Josef Schnelle im aktuellen Film­dienst.