Kanada 2002 · 116 min. · FSK: ab 18 Regie: Atom Egoyan Drehbuch: Atom Egoyan Kamera: Paul Sarossy Darsteller: David Alpay, Arsinée Khanjian, Christopher Plummer, Charles Aznavour, Marie-Josée Croze u.a. |
Man kann schon eine bittere Ironie darin sehen, dass ausgerechnet der Faschismus und das Dritte Reich, die den ehemals so bedeutenden deutschen (und Teile des europäischen) Film derart zu Grunde gerichtet haben, zu den am häufigsten bemühten Themen des aktuellen deutschen (und auch europäischen) Kinos zählen. Woher dieses Fixierung kommt, ist schwer zu sagen. Es liegt vielleicht daran, dass selbst ansonsten flaue Liebes- und Kriminalgeschichten vor dem Hintergrund des Faschismus eine gewisse emotionelle Tiefe erhalten. Wer als Regisseur seinen Helden gegen die SS antreten läßt, muss sich nicht lange mit psychologischer Figurenzeichnung aufhalten; die Rollen sind bereits klar verteilt.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass im Rahmen der allgemeinen »Erinnerungsarbeit« Filme über das Dritte Reich einfach leichter zu finanzieren sind, dass es einen beinahe garantierten Zuschauerstamm hierfür gibt und sich die Kritik tendenziell etwas milder gegenüber solchen Werken zeigt. Der Kampf gegen das Vergessen ist dann auch oft die wichtigste Rechtfertigung der Filmemacher, wenn in regelmäßigen Abständen ein Streit darüber entbrennt, ob und wie man den Faschismus und vor allem den Holocaust in einem (zwangsläufig kommerziellen) Film zeigen kann bzw. darf. Einen beeindruckenden Beitrag zu dieser Diskussion liefert nun Atom Egoyan mit seinem neuesten Film Ararat.
In Ararat geht es dabei um ein anderes, finsteres Kapitel der neueren Geschichte, dem Genozid an den Armeniern durch die Türken in den Jahre 1915-1918, an den sich heute kaum jemand erinnert und der vielfach immer noch geleugnet wird. Egoyan nähert sich diesem schwierigen Thema mit einem äußerst komplexen Film, der im Grunde von der Entstehung eines Films über diesen Völkermord handelt.
Charles Aznavour als alter, legendärer Regisseur dreht diesen Historienfilm als sehr persönliches Projekt der eigenen Vergangenheitsbewältigung. Leitfaden seines Films ist die Geschichte des Malers Arshile Gorky, der als Kind die Vernichtung seines Volkes miterleben musste. Als Expertin für das Leben Gorkys ist die Kunsthistorikerin Ani als Beraterin an dem Film beteiligt. Ihr Leben ist überschattet vom Tod ihrer beiden Ehemänner und dem schwierigen (sexuellen) Verhältnis ihres Sohns Raffi zu ihrer Stieftochter, die bittere Vorwürfe wegen des Todes ihres Vaters gegen Ani erhebt. Raffi versucht Halt in diesem Chaos durch eine Reise in die Türkei, zu den »Wurzeln« seiner Familie, zu finden. Er kehrt zurück mit einigen geheimnisvollen Filmrollen und trifft am Flughafen auf den Zöllner David, der einen Tag vor der Pensionierung steht und der sich nicht mit der Homosexualität seines Sohns abfinden kann. David beginnt Raffi zu verhören und nach und nach erfahren wir so die Einzelheiten über den vergessenen Völkermord, die Entstehung des Films und den Problemen Raffis und seiner Familie.
Ararat dreht sich also nicht nur um die vergessene, große, menschliche Katastrophe der Armenier, sondern auch um die vielfältigen Probleme und kleinen Katastrophen der einzelnen Figuren, deren Leben der Film geschickt ineinander verwebt. Anfänglich wird Ararat von der Last all dieser Konflikte beinahe erdrückt. Trocken, beinahe akademisch und vor allem filmisch schwach werden bedeutungsschwere Gespräche geführt, wird erklärt, begründet, konfrontiert, gerechtfertigt. Der Film im Film ist streckenweise eine peinliche Schmonzette, die Figurenzeichnung der einzelnen Charaktere wirkt grob und lieblos, die Inszenierung ist spröde und man beginnt sich zu fragen, ob hier der Filmkünstler Egoyan hinter den gebürtige Armenier Egoyan mit seiner Botschaft zurückstehen musste?
Doch wenn man sich schon damit abfinden will, einen politisch und historisch wichtigen, aber künstlerisch mittelmäßig Film zu sehen, beginnt eine erstaunliche Veränderung. Schleichend entzieht Egoyan dem Zuschauer, der angesichts eines solchen Themas ansonsten klare, unumstößliche Verhältnisse gewohnt ist, jede Gewissheit und läßt die Klarheit darüber, welche der Figuren »gut« und welche »böse« ist, welche im Recht ist und welche sich irrt, zunehmend verschwimmen.
Er erreicht dies unter anderem damit, dass er dem Film eine lehrerhafte Aussage verweigert und dafür den Zuschauer auf die private Moral der einzelnen Personen verweist. Da aber jede Person eine eigene Moral, eigene Probleme und eine eigene Erinnerung hat, wird es immer schwieriger (und damit filmisch spannender), sich als Zuschauer ein (zu) einfaches Bild des Geschehens zu machen. Ganz nebenbei werden nun auch aus den bis dahin blassen Figuren des Films echte Charaktere.
Auch die Inszenierung zeigt immer deutlicher ihre Stärken, etwa wenn sich die einzelnen Geschichten nicht nur in der Handlung überschneiden, sondern auch ihre jeweiligen Konflikte gegenüber gestellt, und somit vielfach relativiert werden. So maßregelt in einer Szene der strahlende Hauptdarsteller des Films im Film die Beraterin Ani, die gerade unsanft die Dreharbeiten unterbrochen hat, um mit dem Regisseur Saroyan ein ernstes Wort zu reden. Der Schauspieler wirft Ani vor, dass ihre Probleme im Vergleich zu den Leiden der damaligen armenischen Bevölkerung unwichtig seien. Das mag stimmen, aber zugleich stellt sich hier die Frage, ob der smarte Schauspielerstar aufgrund seiner heldenhaften Rolle als rettender Arzt das Recht hat, sich auf dieses unglaubliche Leid zu berufen, wo er sich vermutlich nur in seiner Arbeit gestört fühlt.
Zweifelsfrei ist es eines von Egoyans Grundanliegen, den Völkermord an den Armeniern dem Vergessen zu entreißen. Erstaunlich aber ist, dass er noch einen Schritt weiter geht und ihm eine grundsätzliche Reflexion über das persönliche, allgemeine und künstlerische Erinnern und welchen Einfluß diese Erinnerungen auf die Menschen haben, gelingt. Auch die im Kino immer aktuelle Frage danach, wie sich die Erinnerung zur Wahrheit verhält, was »die Wahrheit« überhaupt ist und wie wir mit ihr umgehen, wenn wir mit ihr konfrontiert werden, wird hier eindringlich behandelt.
So ist Ararat eben nicht nur ein gesellschaftspolitisch kritischer Film, sondern auch ein Lehrstück über das Kino und den Prozess des Filmemachens. Da ist der Regisseur Saroyan, der mit der schwierige Gradwanderung zwischen privatem Anliegen, eigener Erinnerungen, kommerziellen Anforderungen, seinem Anspruch als Künstler, allgegenwärtiger Einflußnahme und der Vermittlung der historischen Wahrheit kämpft. Da sind aber auch die anderen Menschen, die ganz unterschiedliche Erwartungen an diesen Film und der Arbeit daran haben. Jeder sieht und beeinflußt den Film auf seine Art und wird wiederum von dem Film beeinflußt. Und da ist schließlich auch der Zuschauer, der erkennen kann, wie Filme auf ihn wirken und wie er mit der filmischen Wahrheit umgeht.
In Zusammenhang mit Ararat wird Atom Egoyan gerne mit den Worten zitiert, dass dies ein sehr persönlicher Film sei. Der persönliche Bezug Egoyans ist dabei nicht nur seine armenische Abstammung, sondern zu einem großen Teil auch der Blick auf sein eigenes Schaffen als Filmkünstler.