Taiwan 2019 · 156 min. Regie: Chung Mong-Hong Drehbuch: Chung Mong-Hong, Chang Yao-sheng Kamera: Chung Mong-Hong Schnitt: Lai Hsiu-hsiung Darsteller: Chen Yi-wen, Samantha Ko, Wu Chien-ho, Greg Han Hsu, Liu Kuan-Ting u.a. |
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Eine fast perfekte Balance zwischen Realität und Poesie | ||
(Foto: Netflix) |
„Das Gerechteste, was es gibt, ist die Sonne.“ – A-Hao in A Sun
Es lebt noch, das gute alte „Radio Trottoir“, die mündliche Weiterempfehlung für das Kino, für einen ganz besonderen Film. Wie so vieles, ist es sogar schon vor Corona ins Virtuelle „gerettet“ worden. Denn im Kino haben „kleine“ Filme ja schon lange nicht mehr die Zeit, sich zu „entfalten“, über jene regelmäßigen Kinogeher, die einen Film, der sie begeistert hat, dann enthusiastisch an Freunde und Bekannte „weitergereicht“ haben und ein anfangs kurzatmiger Film dann plötzlich einen sehr langen Atem bewiesen hat. American Beauty (1999) von Sam Mendes ist vielleicht der berühmteste Fall dieser Art. Aber das ist lange her. Seitdem ging es nur bergab, hat ein „kleiner“ Film, wenn er denn bei der Vielzahl der Starts (vor Corona) überhaupt noch einen Platz in einem Kino erhalten hat, kaum mehr als eine Woche, um weiterempfohlen zu werden. Das reicht für nichts, nicht mal für einen Flop.
Auch dem taiwanesischen Film A Sun wäre es sicherlich nicht viel anders gegangen. Trotz wichtiger Preise auf dem taiwanesischen Golden Horse Film Festival Ende 2019, den Asian Film Awards 2020 und zahlreichen anderen Festival-Teilnahmen. Doch ein euphorischer Text des amerikanischen Filmkritikers Peter Debruge in Variety und die Entscheidung von Netflix, Chung Mong-hongs zweieinhalbstündigen Film in seinen Katalog mit aufzunehmen, machte den Film auch über das limitierte Festivalpublikum bekannt, wurde in Foren und Online-Magazinen weiterempfohlen. Inzwischen ist A Sun nicht nur zum besten ausländischen Film der 14th Houston Film Critics Society gewählt worden, sondern hat am 9. Februar auch die Oscar-Shortlist-Nominierung in der Kategorie Bester Internationaler Film erhalten.
Ganz anders als die überragenden, ebenfalls akribisch Familienschicksale nachzeichnenden Filme vom chinesischen Festland der letzten Zeit, anders etwa als z.B. Wang Xiaoshuais Bis dann, mein Sohn oder Lulu Wangs The Farewell, in denen die Familie immer auch Teil einer nationalen Identitätssuche, also letztendlich ein sehr politischer Körper ist, spricht diese Geschichte aus Taiwan eine sehr andere Sprache. Politik und Nation spielen keine offensichtliche Rolle, die Protagonisten sind eine Kernfamilie, wie sie auch im Westen leben könnte. Vereinzelt, fast einsam. Eine Mutter, Qin (Smantha Ko), die sich um die beiden älteren, fast erwachsenen Söhne A-Ho (Wu Chien-ho) und A-Hao (Greg Hsu) sorgt, und ein als Fahrlehrer sein Geld verdienender Vater, Wen (Chen Yi-wen), der zunehmend vereinsamt, weil er mit der Tatsache, dass sein Sohn Ho wegen enes Vergehens ins Jugendgefängnis muss, nicht umgehen kann, und statt Ho zu unterstützen, ihn innerlich verlässt und damit auch die Familie im Innersten erschüttert.
Doch als ob das des Leidens nicht genug wäre, formt Chung Mong-hong seine Geschichte zu einer Kain-und-Abel-Allegorie, die so modern, formstark und überraschend erzählt ist, dass es einem beim Betrachten dieses Films vor Freude und Entsetzen immer wieder schüttelt. Denn Chung Mong-hong überführt das biblische Motiv der ungleichen Brüder und des Sündenfalls in moderne Familienstrukturen und erzählt eine brillante, dichte und realistisch gezeichnete Geschichte über Erwartungshaltungen von Eltern und die Sehnsüchte und Träume ihrer Kinder, die oft so ganz anders aussehen als die ihrer Eltern.
A Sun disponiert diese intra-familiären Blasen über die so unterschiedlichen Alltagsrealitäten der Familienmitglieder, über großgemäldeartige Szenen, in der weiterführenden Schule von Hao, dem Gefängnis und den Jobs von Ho, der Fahrschule von Wen und dem häuslichen Alltag von Mutter Qi. Wir sehen Aggressivität und Autoaggressivität, eine der unheimlichsten Film-Hochzeiten der letzten Jahre, einen Zoospaziergang von Hao und seiner Freundin, der den Zoo zu einem philosophischen Ort transformiert und wir sehen wie Wolken zu Regen und Regen zu Duschen wird und der Regen an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit die Geschichte noch einmal völlig umschreibt.
Das soll andeuten, dass A Sun nicht nur durch sein großartiges Ensemble, seine unheimlich eindringliche Filmmusik und sein komplexes Narrativ immer wieder überrascht, sondern auch durch eine überragende Kamera (Nagao Nakashima aka Chung Mong-hong) und einen Schnitt (Lai Hsiu-hsiung), der die Erzählung nicht nur trägt und unterstützt, sondern sie wie auf einer Wippe in einer fast perfekten Balance zwischen Realität und Poesie hält. Denn wie das Motiv der Sonne, die erst durch den Regen an Kraft gewinnt, so durchlaufen auch die Menschen in A Sun nicht nur ernüchternde Niederlagen, sondern lernen unter Schmerzen sich zu ändern, verwandelt sich das Lebens-Mantra des Vaters, sein »Nutze den Tag, wähle deinen Weg«, nicht nur zu einer tragischen Erkenntnis, sondern auch in einen Neuanfang.
Und wie die Kamera des Regisseurs diesen Neuanfang »malt«, in der gleißenden Sonne, auf der glimmergrünen Wiese eines Ausflugshügels über der Stadt, und dann noch einmal während einer Fahrradfahrt von Mutter und Sohn, die der großen finalen Fahrradfahrt in Steven McQueens Small Axe/Lovers Rock in nichts nachsteht, das verblüfft, das begeistert, das ist großes Kino. So groß, dass es auch auf dem kleinsten Bildschirm bestens funktioniert.
A Sun ist seit dem 10. Januar 2020 auf Netflix abrufbar.