Frankreich/B 2011 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Pierre Schoeller Drehbuch: Pierre Schoeller Kamera: Julien Hirsch Darsteller: Olivier Gourmet, Michel Blanc, Zabou Breitman, Laurent Stocker, Sylvain Deblé u.a. |
||
Eros und Thanatos der Politik |
US-Präsidenten sieht man oft im Kino, europäische Politiker ziemlich selten. Wenn ein Politiker im Film die Hauptrolle spielt, ist es meistens der amerikanische Präsident oder ein Präsidentschaftskandidat, der auf dem Weg zur Macht moralischen Schaden nimmt. Oder ein amerikanischer Präsident, der vom richtigen Helden in regelmäßigen Abständen über den Stand der Dinge informiert wird. Eine Weile verhinderten US-Präsidenten im Kino auch selbst die nahende Katastrophe und kämpften gegen Atombomben, Meteore, Außerirdische. Natürlich kommen auch in europäischen Filmen Politiker vor, aber mehr in Nebenrollen. Die Politik selbst ist im Kino selten die Hauptperson. Doch jetzt stellt der Spielfilm Der Aufsteiger des Regisseurs Pierre Schoeller endlich einmal einen Spitzenpolitiker ins Zentrum: Bertrand Saint-Jean ist Verkehrsminister der Französischen Republik. Er will auf dem Weg zur Macht keinen moralischen Schaden nehmen. Aber auch er muss Kompromisse eingehen, Prinzipien opfern. Ein spannendes Portrait der Hinterzimmer der Macht, das in Deutschland kaum denkbar wäre...
Ein Mann steht vor dem Spiegel und streicht sich langsam Eiswürfel über das Gesicht. Er sagt zu sich selbst, aber laut: »Wir werden hungrige Tiger sein in dunkler Nacht.« Es ist Bertrand Saint-Jean, Verkehrsminister der französischen Republik. Eben hat man ihn mitten in der Nacht aus schweren Träumen geweckt. In den Ardennen ist ein mit Kindern besetzter Bus eine Böschung hinabgestürzt. Es gibt über zehn Tote, der Minister wird an den Unfallort gerufen, denn er muss Emotionen zeigen, Mitleid bekunden, und zugleich auch klar machen, dass die französischen Behörden gut arbeiten. Wenn die Presse ausreichend bearbeitet wurde, kann er den emotionalen Kredit gleich nutzen, um die Privatisierungspläne seines Konkurrenten, des Finanzministers abzuwehren.
Unsere Politiker, wir kennen sie, glauben sie jedenfalls zu kennen. Sie wirken vertraut, wie Familienmitglieder. Kann man sich vorstellen, dass sie zu Figuren eines Shakespeare-Dramas werden könnten? Dass sie Abgründe haben, tragische Dimensionen ihres Charakters sichtbar werden? Etwas in der Art gab es in den letzten Jahrzehnten eigentlich nur einmal: Bei der Affaire und dem Tod des norddeutschen Ministerpräsidenten Uwe Barschel. Aber kann man sich deutsche Politiker und deutsche Politik zwischen Bundestag und Kabinettssitzung als Gegenstand eines Kinofilms vorstellen? Wohl eher doch nicht.
Genau das hat aber jetzt der Franzose Pierre Schoeller unternommen. In seinem Film Der Aufsteiger (im Original prägnanter: L’exercise de l’Etat) portraitiert Schoeller einen französischen Verkehrsminister. Die Politik bildet hier nicht nur den Hintergrund eines privaten Dramas, es greifen auch keine Außerirdischen oder Terroristen an, sondern sie steht im Zentrum: Der Alltag der demokratischen Macht, ihre Hinterzimmer und Rednerpulte. Und da sind noch die Medien. Saint-Jean muss an seinem Image arbeiten: »Du bist ein politisches Ufo« sagt ihm seine Beraterin, »Du hast kein Image. Weil du keine Geschichte hast – Du musst erst noch Geschichte schreiben, verstehst du? Du bist verschwommen.«
Der Aufsteiger ist ein straightes, klares Porträt eines fiktiven Spitzenpolitikers. Dieser Bertrand Saint-Jean, Verkehrsminister der französischen Republik, hat Probleme zu lösen, Entscheidungen zu treffen, vor allem aber muss er seine Macht behaupten in dem menschlichen Haifischecken des Kabinetts, gegen die Intrigen der Parteifreunde, der Opposition und gegen den Druck der Lobbyistenverbände.
Zugleich wird klar, dass auch Spitzenpolitiker immer in ein System eingespannt sind, das ihnen kaum Freiheiten lässt. Selbst seine Worte werden ihm von seinem Büroleiter und seiner Pressesprecherin souffliert. Authentizität ist von gestern.
Auch wenn der Film Der Aufsteiger heißt, geht es hier nicht um den Aufstieg der Hauptfigur selbst, sondern um das Portrait eines Aufsteigers im Herzen der Macht. Saint-Jean – also der »heilige Johannes« ein hübsches Namensspiel, das die vermeintliche Unschuld der Figur noch verstärkt – ist ein »Homo novus«, der sich im Laufe dieses Films gewissermaßen durchsetzt, weil er weniger zynisch ist, weniger abgebrüht, weil er noch berührbar ist. Ein
Protegierter, der zunächst ohne Hausmacht ist, und von den Parteigranden auch genau als solcher auf seinen Posten geschleust wurde: Er soll ein schwacher Minister sein, ein Spielball der Interessen der Anderen.
Als er das nicht kapieren will, sagt man zu ihm:»Bertrand, du sollst nicht die Welt retten, du sollst nur die 5 Prozent in den Umfragen zurückholen, die wir wegen der Bahnhöfe verlieren.« Der Premierminister selbst erklärt ihm: »Du hast nur eine Mission: Entschärfen,
entschärfen, entschärfen.«
Doch Saint-Jean ist zäh. Wir sehen ihn, wie er lernt, wie er innerhalb der Partei Bündnisse schmiedet, sich Tricks ausdenkt, seine Rivalen und politischen Gegenspieler bekämpft, die Medien für seine Ziele einspannt. Ein Königsdrama der Demokratie. Geprägt von Winkelzügen, überraschenden Volten, hochspannenden Dialogen.
Und dieser Saint-Jean ist auch keineswegs ein Unsympath, auch kein charmanter Mörder wie Richard III., sondern ein netter Mensch, der halt gelegentlich über Leichen gehen muss; einer, der den Kontakt zu den kleinen Leuten hält, der sich tatsächlich für das Privatleben seines Chauffeurs interessiert, und versucht, die Dinge etwas anders zu machen. Besser, ehrlicher. Und der daran scheitert, der allmählich auf der schiefen Ebene des Alltags hinabrutscht und so wird, wie alle anderen.
Es ist eine fiktive sozialistische Regierung, die der Film zeigt, ohne jeden Bezug zur gegenwärtigen. Denn Der Aufsteiger wurde bereits vor zwei Jahr gedreht, zu einer Zeit, als Sarkozy noch fest im Elysee saß, und mit Hollande gar niemand rechnete. Auch haben diese Sozialisten mit Hollande oder mit Steinbrück wenig gemein. Es handelt sich eher schon um eine Weißwein-Linke aus den Zeiten des »Dritten Wegs«, den Jahren von Schröder und Blair. Es ist eine kapitalismusfreundliche Linke vor der großen Krise, die Staatsfirmen privatisiert. Nur die Hauptfigur ist einer, der gegen diesen grassierenden Neoliberalismus ankämpft.
So bietet der Film unter der Hand durchaus auch ernstzunehmende politische Diskussionen, die die ältere Linke mit einer neuen, weichgespülten, die ihre Ideale verraten hat, konfrontiert.
Dann spitzt sich die Handlung noch einmal zu: Der Verkehrsminister hat – gewissermaßen ein heimlicher Witz des Drehbuchs – selbst einen Verkehrsunfall. So verbindet dieser Film Politik mit Eros und Thanatos, in dem die Erotik der Macht zu spüren ist, die Figuren aber dann andererseits auch dem Tod begegnen.
Dieser Politikerfilm gibt somit Einblick, wie es in den Hinterzimmern der Macht tatsächlich ablaufen könnte, aber er erhöht dies dann auch zu einem Stück echten Kinos, indem es »bigger than life« aussehen darf.
Nur: Warum ist so etwas in Deutschland trotz allem unvorstellbar? »Politik als Handlungsraum für Dramen, Thriller oder gar Komödien ist im deutschen (Kino-)Film nach wie vor ein weißer Fleck. Unabhängig davon, ob es sich um authentische oder um frei erfundene Personen und Begebenheiten handelt.« – In der aktuellen Ausgabe der Filmzeitschrift »Filmdienst« stellt der Autor Reinhard Lüke diese berechtigte Frage nach den Gründen dieser »rätselhaften Missachtung« der gegenwärtigen Politik, während an historischen Stoffen, an Kino- und Fernseh-Produktionen, die sich mit der NS-Zeit, der RAF oder mit Mauerbau und Stasi auseinandersetzen, andererseits kein Mangel herrsche. »Aus der aktuellen Politik entlehnte Figuren sucht man dagegen vergebens. Wenn doch einmal Volksvertreter in Erscheinung treten, dann handelt es sich um nachgeordnete Rollen.«
Lüke gibt auch einige versuchsweise Antworten. Er verweist auf den Flop der ZDF-Serie »Kanzleramt« nach dem Vorbild »West Wing« und immerhin einer Vorlage von Hans-Christoph Blumenberg und dem Journalist Martin E. Süskind. Die sei zu provinziell, weil zu privatistisch gewesen, argumentiert Lüke. Stimmt vermutlich.
All diese Erklärungsmuster reichen aber nicht weit genug. Zum einen ist Autor Lüke einfach zu höflich, um auch einmal auf die offenkundige Tatsache zu verweisen, dass viele deutsche Filmemacher einfach zu schlecht und auch zu phantasielos sind für solch einen Stoff, der seiner Natur nach komplizierter ist, als jene Bückware, die die deutsche Filmszene dominiert.
Erwähnt werden muss auch die Angst der Fördergremien, die in den letzten Jahren manche guten Stoffe nicht gefördert haben – mit fadenscheinigen Argumenten. Um die Filmemacher zu schützen, wollen wir hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Wenn man aber die Begründungen der Fördergremien für ihre Ablehnung liest, fällt es schwer, hier nicht an eine Mischung aus bösen Absichten und Inkompetenz zu glauben. Noch wichtiger ist wohl die Macht der Fernsehräte. Ohne Fernsehen geht auch im Kino nichts. Und warum sollten Gremien die mit Politikern durchsetzt sind, ein Interesse daran haben, den Politikbetrieb auch in seinen Banalitäten offen darzustellen?
Wie es anders und besser gehen könnte, zeigt dagegen auch die dänische Fernseh-Serie »Borgen«, die man bei uns auf Arte sehen kann, und nun auf DVD kaufen. Das ist eine Serie zum Thema Politikbetrieb, die sich tatsächlich sehr von innen heraus entfaltet – ein europäisches Gegenstück zu »West Wing« und anderen Serien und Filmen, in denen es immer um den US-Präsidenten geht. Es wird höchste Zeit, dass sich Europa auf das Eigene besinnt, also auch mal zeigt, wo die Unterschiede zu den USA liegen, auch ein bisschen beweist, dass in Europa die Dinge in der Politik eben nicht nur von einer einzigen Person abhängen. Eine Person kann schon einen Unterschied machen, insofern wird Geschichte von »großen Personen« gemacht, Männern wie Frauen. Aber es gibt andererseits eine wahnsinnig starke Gemengelage aus Fraktionen. Man muss sich Bündnisse schaffen, Kompromisse eingehen, die auch Nachteile haben. Man muss immer irgendwas von den eigenen Idealen opfern, um dann etwas zu erreichen. Das ist nicht nur gut unterhaltend, sondern es ist auch ein bisschen lehrreich, also gewissermaßen genau das, was Politikfilme tun müssen: Politik, das ist nicht immer große Skandale oder böse Diktaturen, es ist auch nicht immer »alles oder nichts«, es sind Kompromisse und jenes »langsame Bohren dicker Bretter« wie es Max Weber in »Politik als Beruf« beschrieb.
Es geht nämlich hier auch um Entschlossenheit: »Mit Zweifeln macht man keine Revolution«, heißt es einmal. Saint-Jean muss diese Lektion lernen, aber er lernt. Darum ist dieser Film nicht das Portrait der bösen Politik, sondern das Portrait eines guten Politikers.
Der Aufsteiger zeigt, dass Politik heute allerdings auch dieses Medienspiel ist, also etwas ganz Eigenes, das gewissermaßen nichts mit der Politik zu tun hat, und doch hängt die Politik völlig von ihm ab. Der dritte Ball in der Luft, mit dem jeder Politiker jonglieren muss, ist das Private, die Intimität, die immer wieder durchschlägt und den Alltag viel deutlicher prägt, als man das von außen sieht.