Rumänien 2010 · 183 min. Regie: Cristi Puiu Drehbuch: Cristi Puiu Kamera: Viorel Sergovici Darsteller: Cristi Puiu, Clara Voda, Valeria Seciu, Luminita Gheorghiu, Catrinel Dumitrescu u.a. |
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Hier wird gerade das Märchen vom bösen Wolf erzählt. Auf Rumänisch |
»Die Großmutter sollte nackt sein.« – Am Anfang steht ein latent absurdes Gespräch zwischen zwei Eltern über diesen Satz der Tochter: In Grimms Märchen »Rotkäppchen«, so hat die Tochter argumentiert, könne es nicht stimmen, dass die Großmutter angezogen aus dem Bauch des Wolfs befreit werde, denn der hatte ja ihre Kleider an. »Stimmt«, sagt der Vater.
Genaues Hinsehen und -hören, ruhiges Nachdenken sind auch für den Betrachter dieses Films unverzichtbar, wie die Erinnerung an die Abgründe, die jeder Idylle innewohnen, und denen man oft erstmals in jenen Kindermärchen begegnet, in denen jederzeit alles ganz anders werden können, im Guten wie im Bösen.
So geht es einem auch in Aurora, dem neuesten Film von Regisseur Cristi Puiu, der 2005 mit seinem Langfilm-Debüt Der Tod des Herrn Lazarescu den bis heute anhaltenden Boom des rumänischen Films, die rasant gestiegene Aufmerksamkeit für dieses Kinoland einleitete – erst über ein Jahr später gewann Cristian Mungiu mit 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage in Cannes die Goldene Palme. Auch Aurora mutet gewissermaßen »rumänisch« an: Am Anfang gibt es Schlamm und Regen, hässliche Menschen und Elend. Doch der Film ist viel ruhiger und geduldiger, wenn man so will »konzentrierter« inszeniert, als viele Werke aus Rumänien, deren Stärke oft in der Entfaltung und Darstellung eines chaotischen, völlig unsicheren und ins Wanken geratenen Alltags mittels bewegter, dogmaartig mobilisierter Handkamera liegt. Hier ist das Gegenteil der Fall: Lange statische, gefällig und sehr bewusst komponierte Einstellungen dominieren das sich in aller Ruhe entfaltende, dreistündige Szenario, das allerdings im Verlauf des Films immer offener, geheimnisvoller, immer rätselhafter wird. In der letzten der drei Stunden gibt es dann eine Phase, in der sich eine atemberaubende Szene an die nächste reiht.
Man begleitet den Vater der Anfangsszene – Puiu spielt diese Hauptrolle selbst – nun zunächst durch sein Leben in der im aufregenden, vielschichtigen Panorama gezeichneten Metropole Bukarest: Arbeitslosigkeit, Einkauf im Billigsupermarkt. Kaum ein Wort wird gesprochen. Ein Mensch, den man nicht mag. Man erkennt seinen Menschenhass. Man denkt an Camus' »Der Fremde«, sieht, wie er übt, um sich zu erschießen. Einer der intensivsten, besten Momente dieser ersten Filmhälfte ist der Besuch der Hauptfigur in einer Nobelboutique. Er fragt nach einer Frau, die dort gearbeitet hat, wird immer zudringlicher, beleidigt die Angestellten, und jeden Moment glaubt man, um seine Gewaltphantasien wissend, die Spannung werde gleich explodieren und in ein Blutbad münden. Doch nichts dergleichen passiert. Zunächst bleibt es bei einem Menschen unter Druck, der in Verhalten wie Motiven bis zum Ende unverständlich, ja völlig ungreifbar bleibt. Irgendwann dann beginnt der Mann damit, aus völlig unerfindlichen Gründen Menschen zu erschießen, mit denen er kaum etwas zu tun hat. So scheint es zumindest.
Die Kamera zeigt das alles neutral und distanziert, manchmal aus Nebenräumen, der Zuschauer ist gezwungen sich in aller Ruhe mit der Figur auseinanderzusetzen. Im Unterschied etwa zu Corneliu Porumboius Police, Adjective ist ein gewisser Sadismus des Regisseurs dabei unübersehbar, wenn er sein Publikum in die ästhetische Klippschule schickt und dort nachsitzen lässt.
Es ist fraglos kein Versäumnis, sondern bewusst gewählte Methode, dass Aurora den Zuschauer völlig allein und verloren lässt, mit Informationen über Ort, Figuren und Geschichte überaus geizig umgeht. Der Film bleibt in der Schwebe, scheint ästhetisch wie gedanklich nie ganz auf den Punkt zu kommen. Er entschließt sich trotz komischer Momente nie zur Komödie, aber auch nicht dazu, die Brutalität wirklich brutal zu zeigen. Man kann sich viel denken, muss das aber auch, denn der Film hilft einem nicht dabei, belohnt die Geduld des Zuschauers nie. Daher ist der Eindruck zwiespältig: So genau Aurora inszeniert ist, so stark die anfängliche Irritation wirkt, so sehr ist ihm auch ein gewisses Raunen eigen. Etwas zu offensiv trägt der Film seine Bedeutsamkeit vor sich her. Natürlich inspiriert das alles zu Reflexionen über »Gewalt in der Gesellschaft«, über »Postkommunismus«, das Wirken der »Securitate« in Rumänien und das grundsätzlich »Kafkaeske« der Verhältnisse in Osteuropa. Und wo im Kino laut geschwiegen wird, liegt immer die These nahe, hier werde besonders eindringlich »Kommunikationslosigkeit« zum Thema gemacht
Denkt man derartige Interpretationsschneisen in Aurora hinein, macht alles auch unbedingt Sinn, ist dies ein wichtiger Film, und der Betrachter hat gute Gründe, demütig erst einmal in sich zu gehen, und weiter nachzudenken. Aber diese Begriffe stehen auch alle für Klischees unserer Wahrnehmung. »Gewalt in der Gesellschaft« und »Kommunikationslosigkeit«, das kann alles sein und auch sein Gegenteil. Und wer weiß schon wirklich, was »Postkommunismus« bedeutet, was »Securitate«? Zunächst einmal bedient dies sämtlich unsere Vorstellung des »Anderen«, Nicht-Westlichen, Unsicheren, Gefährlich-Bösen. Osteuropa halt.
Völlig befriedigen kann das Vorgehen des Filmemachers nicht. Gewiss: Aurora ist eine beklemmende Studie über einen pathologischen Einzelgänger, und den bösen Wolf in uns allen. Es ist auch eine Studie im filmischen Sehen, die sich der Strategien eines gewissen Strangs des klassischen Modernismus bedient – Lakonie, Ruhe, Statik. Aber Puiu verfällt einem Fetischismus der Mittel. Und er drückt sich um das notwendige Minimum an Positionierung, indem er eine Projektionsfläche entwirft, die derart offen und beliebig ist, das der Betrachter am Ende nicht mehr irritiert wird, sondern jeweils genau das finden wird, was er zuvor schon immer über Rumänien, das Kino und den Menschen gedacht hat.