USA 2022 · 105 min. · FSK: ab 12 Regie: Sarah Polley Drehbuch: Sarah Polley Kamera: Luc Montpellier Darsteller: Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Ben Whishaw u.a. |
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Gelebte Demokratie auf einem Heuboden... | ||
(Foto: Universal) |
Es scheint fast so, als wolle die Kanadierin Sarah Polley die Bandbreite, die sie als Schauspielerin in so völlig unterschiedlichen Filmen wie Atom Egoyans Das süße Jenseits (1997) oder dem SF-Horror in Vincenzo Natalis Splice (2009) auch auf ihre Regiekarriere übertragen. Angefangen von ihrem subtilen Alzheimerdrama An ihrer Seite (2006), der so klugen wie melancholisch-romantischen Komödie Take This Waltz (2011) bis zu ihrer großartigen, doppelbödigen, dokumentarischen Suche nach ihrem leiblichen Vater in Stories We Tell (2012) oder der wütenden Kurzserie Alias Grace (2017), für die sie nach einem Roman von Margaret Atwood das Drehbuch schrieb, könnten Filme kaum unterschiedlicher sein; gibt es neben der nagenden Suche nach einem Ausweg aus bestehenden, maladen Strukturen eigentlich nur ein weiteres Motiv, das in Polleys Regiearbeiten immer wieder variiert wird – das einer immer radikaler werdenden weiblichen Perspektive.
Polleys neuer Film Die Aussprache nach dem 2018 erschienenen Bestseller Woman Talking der kanadischen Autorin Miriam Toews stellt einen vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung dar. Denn der auf realen Ereignissen in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien fußende Roman erzählt weniger von den zwischen 2005 und 2009 unter Betäubung stattgefundenen Vergewaltigungen an jungen Mädchen durch Männer der Gemeinde, als von der fast unlösbaren Entscheidung der Frauen, wie sie nach der Aufdeckung der Taten mit ihren Traumata und den Männern umgehen sollen: Nichts tun, bleiben und gegen das Verbrechen ankämpfen, oder die Kolonie verlassen und ohne Männer leben.
Polley überführt Toews Roman mit einem hervorragenden Ensemble um Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley und Frances McDormand – die sich die Rechte an einer Verfilmung von Toews’ Roman gesichert hatte und ihn mit Brad Pitt produziert hat – in einen filmischen Rahmen, der zuallererst einmal Assoziationen an einen anderen »Mennoniten-Film« weckt, an Peter Weirs Der Einzige Zeuge (1985), in dem der Polizist John Book (Harrison Ford) die Amish Rachel Lapp (Kelly McGillis) vor eine ähnliche Frage stellt: bleiben oder gehen.
Doch anders als bei Weir, ist bei Polley Liebe nur im Ansatz im Spiel, wird in Die Aussprache vielmehr ein gesellschaftliches Mikrosystem und seine Beziehungen seziert. Dies findet vor allem in Gesprächen eines ausgewählten Kreises von betroffenen Frauen auf einem Heuboden statt, wo über Familiengeschichten Gemeindegeschichten erzählt, und über aufgedeckte Hierarchien Familientragödien und Traumata aufgearbeitet werden. Das gleicht immer wieder einem Gerichtsfilm, wie ihn das amerikanische Kino seit seinen Anfängen begleitet hat, mehr noch, als der einzige verbliebene vertrauenswürdige Mann, August (Ben Whishaw), der durch die Verstoßung seiner Mutter lange außerhalb der Gemeinde gelebt hat und nun als Lehrer wieder zurückgekehrt ist, Protokoll führt, da die meisten Frauen weder lesen noch schreiben können.
Diese Gespräche, die immer wieder auch religiöse, philosophische und psychologische Fragen zu klären versuchen, könnten gerade in ihrem wütenden Theaterformat leicht ausfransen, doch Polley flicht zwei Spannungsbögen in das Drehbuch ein, die den Gesprächen neben der grundsätzlichen Fragestellung Dringlichkeit und der statischen Theaterbühne des Heubodens Dynamik verleihen: die nahende Rückkehr der verbliebenen Männer aus der Stadt, wo sie die in Haft befindlichen Beschuldigten gegen Kaution abholen wollen und eine sich anbahnende, gegen mennonitische Konventionen verstoßende Liebesgeschichte.
Dieses fast schon klassische Western-Motiv des »Showdowns« über das Warten verleiht Polleys Film gerade mit den von Luc Montpellier episch fotografierten ländlichen Weiten und einem weiteren Fokus auf die einfachen, bei radikalen Mennoniten üblichen technikfernen Alltagsrituale und dem Soundtrack von Hildur Guðnadóttir, der durch Gitarrensolos von Skúli Sverrisson subtil unterlegt wird, dann aber aber auch ewas von einem der Spät-Western letzter Generation, wie Kelly Reichardts Meek’s Cutoff, in dem sich ebenfalls Frauen in einer Notlage ermächtigen und eine Entscheidung erzwingen.
Ähnlich wie bei Reichardt ist dann aber im Grunde weniger spannend, was passiert, als wie es passiert, sehen wir wie bei Kleists Aufsatz der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden zu. Und den Folgen dieser exemplarisch gelebten Demokratie. Und die sind dann nicht nur spannend, weil Polley die Balance zwischen Parabel und knallharter, grausamer Realität hält, die Gedanken nicht nur in einem grundsätzlichen Diskurs wie in Becketts Warten auf Godot und seinem existentialistischen Fragen nach Handeln oder Nichthandeln verharren, sondern weil Polley und nicht zuletzt die Romanvorlage und die Realität selbst eine kollektive Entscheidung zum Handeln erzwingen.
Die in der Realität allerdings etwas anders ausgegangen ist als in Polleys Film und Toews Roman – denn dort kehrten die Männer nicht zurück, sondern wurden ohne Kautions-Überbrückung zu 25 Jahren Haft verurteilt.