Deutschland/NL 2020 · 183 min. · FSK: ab 12 Regie: Burhan Qurbani Drehbuch: Martin Behnke, Burhan Qurbani Kamera: Yoshi Heimrath Darsteller: Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng u.a. |
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Ewige Charaktere oder Gescheiterte, ein moderner Döblin oder ein Film ohne Resonanz? | ||
(Foto: Stefanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany) |
»Da steht mein Franz und fragt sich: 'Was tun? Soll ich weg? Soll ich bleiben?' Als wenn ihn einer in'nen Teig geschmissen hätte und nu kriegt er das Zeug nicht los. Er möchte fort, aber es geht nicht. Franz – man hat dich reingelegt«
Aus dem Film
Drei junge Menschen im Berlin von morgen früh; sie lieben sich, sie hassen sich, sie kommen voneinander nicht los. Sie haben Spaß und malträtieren sich, sind zärtlich zueinander und beuten sich selber aus und alle anderen: Körper als Material, Zeit als Treibstoff, die Metropole als Bühne – das alles ist Berlin Alexanderplatz in den Händen von Burhan Qurbani und seinem Team. Sie nehmen Alfred Döblins Roman als Vorlage so ernst, dass sie sie nicht etwa als Geschichte aus ferner Vergangenheit erzählen, sondern gegenwärtig: Hauptfigur Franz ist Francis (gespielt vom guinea-bissauischen Portugiesen Welvet Bungué), ein Flüchtling aus Afrika, der im Unterleib der Hauptstadt zu überleben versucht, und dabei auf Mitzi trifft, die seine Liebe wird, und auf Reinhold, der ihn wie der Teufel höchstselbst verführt, sein bester Freund wird und sein Verhängnis.
Berlin ist hier zwar wie bei Döblin ein von Gewalt und Diskursen durchdrungener Großstadtdschungel, aber eben einer von heute: Drogenhandel in der Hasenheide, der Kampf um einen deutschen Pass, Überleben an der Grenze zur Selbstzerstörung. Es war Döblin, der die Sätze schrieb: »Der Mensch ist ein hässliches Tier, der Feind aller Feinde, das widrigste Geschöpf, das es auf der Erde gibt.«
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»Da steht mein Franz und fragt sich: 'Was tun? Soll ich gehen, soll ich bleiben?' Als wenn ihn einer in'nen Teig geschmissen hätte und nu kriegt er das Zeug nicht los. Er möchte fort, aber es geht nicht. Franz – man hat dich reingelegt.«
Das ist ein Ton im deutschen Film, wie man ihn seit vielen Jahren nicht erlebt hat: episch, mit langem Atem und Geduld, ein Ton, der sich nicht heranschmeißt an die Zuschauer, der auch nicht Angst hat vor ihnen, der sie nicht belehren will.
Ein Ton, der über sich hinausblickt, biblisch ist, mythisch, aber realistisch, und jedenfalls nie romantisch oder verkitscht. Es ist der expressionistische Ton von Alfred Döblin und seinem Großstadtroman »Berlin Alexanderplatz«. Aber es
ist auch der Ton von Burhan Qurbani. Qurbani, nach seinem Debüt Shahada 2010 und einem weiteren Film nun zum zweiten Mal im Berlinale-Wettbewerb, hat Döblins Vorlage in die Gegenwart verpflanzt, aktualisiert, auch verpoppt, ohne ihr aber etwas von ihrer archaischen Kraft zu nehmen, ihrem Fremdartigen. Qurbani modernisiert Döblin, aber er beraubt ihn nie seines epischen Atems, er behält die
mythische Komponente ebenso bei wie die expressive Sprache dieses Nietzscheaners und Sozialisten, der in dieser Kombination so unzeitgemäß ist, wie einer heute nur sein kann, damals nur sein konnte. Und zugleich so modern wie keiner – denn Döblin war ein Montagekünstler, der in seine Erzählung historisches Wissen – die Geschichte von Napoleons Rückzug über die Beresina – ebenso hineinflicht, wie zeitgenössische Schlager-Zitate – »Mein Papagei frisst keine
harten Eier« –, was sich seitdem allenfalls Pop-Literaten getraut haben: Ein Künstler der Montage und damit der dem Kino entlehnten, absolut modernen Methode der Verbindung und Zusammenschau des Unzusammenhängenden. Schon bei Döblin steht der Rhythmus – der Sprache und der Dinge – im Zentrum.
Die Stimme gehört der großartigen Jella Haase, deren Figur der Mieze, einer anständigen Hure zwischen zwei abgründigen Männern, hier zur Erzählerin und damit zum Zentrum und zur Taktgeberin des Films wird. Sie sorgt immer wieder für kleine Ruhe-Momente im Fluss dieses Films.
Besonders einfallsreich und schlüssig ist dieser Kniff, Mieze zur Erzählerin zu machen, die große Liebe von Franz Biberkopf, die Hure des Babylon Berlin, die von sich selber sagt, sie sei nicht aus Zucker, sie
sei aus Marmor.
Jella Haase ist in dieser doppelten Funktion der Gravitationspunkt des Films. Zusammen mit Albrecht Schuch als Reinhold, Verhängnis und Gegenspieler im Leben von Franz Biberkopf. Sein Reinhold ist ein Unhold, bleich und schlaff, zugleich mit dämonisch funkelndem Blick, ein irrlichternder, unterdrückt homosexueller Krimineller und neurotischer, von diversen Empfindlichkeiten, von »Laktoseintoleranz, Fructoseintoleranz« gequälter Verführer mit dem Charme
des Irrsinns.
In einer Szene erklärt er seine Arbeit: »Schwangere werden nicht bedient, Kinder werden nicht bedient, Hipster zahlen das Doppelte.«
Franz Biberkopf wird hier zu Francis, einem Afrikaner, der als Flüchtling nach Berlin kam, sich als Sans-Papiers, ohne Passdokumente auf illegalen Baustellen verdingt, und dann von Reinhold für Drogendeals und Schlimmeres angeheuert wird und in das Dunkel der Großstadt Berlin eintaucht. Aber innerlich ein guter Naivling, ein Lazarus.
Dies ist ein weiterer großer Einfall des Regisseurs: Ein Afrikaner, ein Flüchtling, ein Schwarzer ist Franz Biberkopf, nicht mehr ein proletarischer Arbeiter aus den 20er Jahren. So aktualisiert er seinen Stoff. So macht Quarbani aus »Berlin Alexanderplatz« eine Geschichte des Kampfes um Anerkennung und Würde.
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Für den Film gibt das alles ein Muster vor: Es sind auch Bilder, so grell und dabei lebensecht, so schön, und dabei genau, wie man sie viele Jahre vermisste. Alles Akademische fehlt hier, alles Gedämpfte, Sichere. Berlin Alexanderplatz ist ein riskanter Film. Darum gelingt er so gut.
Hervorzuheben sind Qurbanis Mitarbeiter: Ein junges Team um die »Sommerhaus«-Produzenten Jochen Laube und Fabian Maubach, das mit einem jungen Zugang belegt, wie frisch und unverstaubt Döblins Stoff ist: Etwa die Filmmusikerin Dascha Dauenhauer, der Kameramann Yoshi Heimrath. Und die Montage von Phillipp Thomas, die adäquat Döblins Montagetechnik auf die Leinwand überträgt. Eine tolle Schnittfolge ist etwa die Szene, wie Franz und Mieze jeweils allein in ihrem Apartment umherstreifen – doch ihre Bewegungen so aufeinander abgestimmt sind, dass es ist, als wären sie zusammen im Zimmer.
So entsteht ein Film aus einem Guss, der adäquat Döblins Techniken auf die Leinwand überträgt, und zu einem atmosphärisch dichten Ganzen fügt.
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Bereits zweimal wurde Alfred Döblins Großstadtroman »Berlin Alexanderplatz«, ein Meilenstein der literarischen Moderne, seit seinem Erscheinen 1929 verfilmt: 1931 in neusachlichem Realismus von Phil Jutzi, 1980 von Rainer Werner Fassbinder als Fernsehserie und hitziges neoromantisches Nachtstück. Und jetzt, 40 Jahre später von dem 1980 in Erkelenz geborenen Sohn afghanischer Einwanderer, der an der Filmakademie Ludwigsburg studierte. Wie Phil Jutzi und im Gegensatz zu Fassbinder hat Qurbani die Geschichte als eine aus der Gegenwart erzählt: Gleich fünf deutsche Filmpreise gewann er im Mai – jetzt kommt Berlin Alexanderplatz ins Kino.
Er zeigt Menschen eines bunten Deutschland, die nicht länger gegen die Wand prallen, sondern durch sie hindurchbrechen. So wird die Geschichte von Franz zur Geschichte aus einem neuen Deutschland, das so multi-kulti ist, wie das Berlin der zwanziger Jahre, in dem Döblins Roman spielt. Nur für die Rechtsextremisten von heute ist das eine Freak-Show – was Qurbani sogar direkt ironisch aufgreift.
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Es gibt Einwände gegen diesen Film. Mein eigener: Er ist zu lang. Ein befreundeter Editor sagte mir: Wenn man den auf 90 Minuten heruntergeschnitten und konzentriert hätte, wäre er ein Meisterwerk geworden. Ich finde das nicht. Für mich funktioniert er sehr gut, so wie er ist, am Ende leiert er allerdings ein bisschen aus. Und immer wieder gibt es mal Momente, da denke ich: Das hätte jetzt schneller gehen können; das war jetzt nicht nötig. Oder: Wenn bestimmte Sachen gefehlt
hätten, hätte ich sie nicht vermisst und es wären die großen Stärken viel besser zur Geltung gekommen. Ich hätte lieber mehr von Jella Haase gesehen.
Was mich an der Länge stört: Sie schreckt Publikum ab und ermüdet. Mit 2 Stunden 15, 20, oder 30 wäre der Film nicht schlechter.
Überhaupt die Schauspieler. Sie sind gut, aber trotz allem nicht die Stärke des Films, sondern ein Problem. Haase ist großartig, ohne Einschränkung. Nicht viele Varianten, aber die stimmen. Albrecht Schuch ist auch sehr, sehr gut, aber trotzdem stimmt auch irgendwie fast nichts. Warum? Er ist komplett in seinem eigenen Film, macht sein eigenes Ding – wahnsinnig gut, aber ohne jede Selbstdisziplin, stattdessen ein einziger Schauspielermanierismus, etwas nur Gemachtes, im
Effekt eine Karikatur in einem Film, in den das nicht hingehört. Und hier, nur hier, muss man Burhan Quarbani vorwerfen, dass er das nicht in den Griff gekriegt hat, dass er – warum auch immer – den Schauspieler nicht bändigt.
Und Joachim Król als Gangsterkönig Pums habe ich wirklich gern gesehen, ist ein interessanter Versuch, aber auch dem armen Mimen ein bisschen viel aufgebürdet.
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Bedenkenswert und interessant ist der Verriss von Andreas Kilb in der FAZ. Nur verstehe ich nicht, wie er dem Film vorhalten kann, was im Roman sich findet: »Schnitter, der heißt Tod«, das hat Döblin gleich zwölf Mal aus dem alten Volkslied zitiert. Die Hure Babylon stammt von ihm, nicht von Tom Tykwer, und das »Happy End, das sich aus einer Netflix-Serie auf die Leinwand verirrt hat«, steht zwar anders bei Döblin, aber eher noch happier.
In Schutz nehmen muss man diesen Film aber – vor den Nicht-Filmkritikern, die dann Kritiken schreiben dürfen, wie Thomas E. Schmidt in der »Zeit«, ein Literaturkritiker, dem natürlich nichts Besseres einfällt, als dem Film vorzuhalten, wo er Döblins Roman reduziert, von ihm abweicht, und der von Film so wenig versteht, dass er – komplett im Inhaltismus gefangen – genau die Stärke übersieht, die man als Einzige nicht bestreiten kann: Dass dies Kino ist, dass hier mit filmischen Mitteln erzählt wird. Und darum Berlin Alexanderplatz allen Ernstes »TV-Ästhetik« vorwirft.
Und dann, nur vier Sätze später, natürlich, wie alle, denen nichts zu diesem Film einfällt, Rainer Werner Fassbinders Version von 1980 als leuchtendes Vorbild zitiert – eine TV-Serie, die heute fast schon nicht ansehbar ist, und die die Hälfte der Leute, die sie preisen, nie komplett gesehen hat.
Alles ist konformistisch an dieser Art von verfehlter Filmkritik.
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Tatsächlich ist dies ein ganz ausgezeichneter Film mit geringfügigen Mängeln. Spätestens mit diesem Werk beweist Qurbani, dass er einer der wichtigsten Filmemacher des aktuellen deutschen Gegenwartskinos ist.
Dieser Film hat einen epischen Atem. Und er erzählt vom Deutschland der Gegenwart. Wer hätte das gedacht?
Berlin Alexanderplatz ist seit dem 16. Februar 2021 auf Netflix abrufbar.
»Es ist aber in der Welt so eingerichtet, daß die dämlichsten Sprichworte recht behalten, und wenn ein Mensch glaubt, nu ist gut, dann ist noch lange nicht gut. Der Mensch denkt und Gott lenkt, und der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.« – Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz
Kurz vor Ende der diesjährigen Berlinale, nachdem man schon fast mit dem Gefühl nach Hause fuhr, nur Filme gesehen zu haben, die den sieben Zwergen ähnelten und dann und wann auch ein Schneewittchen, dann, ganz am Ende, war es plötzlich so, als wenn die böse, alles überschillernde Königin endlich das Feld betrat. Da betrat nämlich endlich Burhan Qurbani mit seinem Franz Biberkopf die große Leinwand.
Denn Qurbani, der ja schon mit Wir sind jung. Wir sind stark. gezeigt hat, welche bitterböse Wut in ihm steckt, hat sich tatsächlich eines der größten Romane der Moderne, und Deutschlands sowieso, Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« angenommen und ihn – jawohl: großartig »missbraucht«, d.h. in unsere Moderne transponiert. Hat ihm einen Franz Biberkopf spendiert, der nicht mehr aus Berlin kommt, sondern aus Guinea-Bissau, hat sich also Weket Bungue zu seinem Hauptdarsteller erkoren und ihn zu Frances gemacht, einen Migranten, der es nach Europa geschafft hat und der im Laufe des Films dann neu getauft wird, aus dem Sklavennamen Frances wird Franz und aus Franz der bessere Deutsche.
Allein schon die Idee, Döblins Biberkopf am Anfang nicht aus dem Gefängnis kommen zu lassen, sondern aus dem Mittelmeer entsteigen zu lassen, ist eine fantastische, großartige Idee, ist großes Kino. Denn genau das sind ja heutzutage die viel größeren Gefängnisse, aus denen alle, die nichts mehr zu verlieren haben, zu entkommen versuchen, ihrer eigene »Heimat«. Und das erklärt dann auch, dass Qurbani aus Döblins großem Stadtroman die Stadt fast völlig entfernt hat. Was für Döblin noch Ausdruck der Moderne war, die moderne Stadt, das moderne Berlin, das Döblin dann ja auch so kongenial zu Sprache verhäckselt hat, das ist bei Qurbani nicht mehr die Stadt, sondern ist die Welt, die Welt der Migranten, die Welt, die keine Städte mehr kennt, die alle völlig austauschbar sind.
Das und die fragilen Gleichgewichte interkultureller Freundschaften hat im letzten Jahr auch schon Sebastian Schipper auf ganz andere Weise in seinem viel zu wenig beachteten Roads gezeigt. Doch Qurbani hat nicht einen originären Stoff im Rücken, sondern er hat die Macht von Döblin im Rücken, einen Döblin, den Jella Haase immer wieder einspricht, der den Film und seine Bilder und seine Schauspieler in Flammen setzt. Aber er hat auch Gegenwind, er hat den von Heinrich George verkörperten Ur-Biberkopf vor sich (1931), und er hat die 930 Minuten von Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie (1979/80) gegen sich.
Besteht Qurbani diesen wüsten Sturm? Ich würde sagen, ja, er besteht, auch wenn er dann und wann auch einmal scheitern mag, so wie das für jedes Gesamtkunstwerk gilt. Denn man kann natürlich fragen, ob eine Serie nicht doch besser gewesen wäre, um diesem Romanbabel ganz gerecht zu werden, und man könnte fragen, ob nicht doch die ganz großen Gefühle fehlen (die erst in den letzten zwanzig Minuten eingelöst werden), weil wie in Döblins Roman natürlich auch hier zu viel Überbau ist, steht Franz B. ja auch hier bei Qurbani nicht nur für sich, sondern ist auch ein Brennglasangriff auf unsere globalisierte Gegenwartsgesellschaft und ist auch das Liebespaar nicht einfach nur ein Liebespaar, sondern auch ein Platzhalter für Traumatisierungen der übelsten Art. Und man könnte fragen, ob die klassischen Gangsterszenen wirklich so sein müssen, wie sie sind, so wie bei Döblin?
Aber das sind im Grunde nur vielleichtige »Vielleichts«, denn vielleicht sind ja gerade wegen dieser rasant inszenierten kleinen Suspense-Zugeständnisse an eine andere Ära des Films und unserer eigenen Geschichte die drei Stunden nie zu lang, ist dann sogar Jella Haase, mit der ich bislang nur wenig anfangen konnte, eine »Mieze«, die in ihrer Rolle so zerbricht, wie sie Döblin angelegt hat, ist das ein Film der großen Bilder, ein Film mit großem, epischem Impetus, einer ewigen Geschichte, wie wir an dieser Adaption besonders gut sehen können.
Denn Döblins Charaktere sind ewige Charaktere, Scheiternde, die immer wieder scheitern werden, und sie sind alle ein Wucht, waren es immer. Bei Piel Jutzi 1931 waren sie das und bei Fassbinder ebenso und nun auch bei Burhan Qurbani und Weket Bungue als Franz B. Weshalb ich genau mit ihm, mit Franz, der müssen muss, immer wieder müssen muss, enden will. In einer Romanverfilmung, die den Nerv der Zeit bloßlegt, die den Bogen aus den kritischen 1920er Jahren in die ebenso kritischen 2020er spannt, und die deshalb zurecht sich selbst zitieren wollen will: »Ein Hoch auf den neuen Franz.«
Berlin Alexanderplatz ist seit dem 16. Februar 2021 auf Netflix abrufbar.
»Ich bin Deutschland!« spricht Flüchtling Francis, der »neue« Franz Biberkopf, in einer Schlüsselszene des Films – man denkt unweigerlich an Stanley Kubricks Spartacus (1960) mit dem kürzlich verstorbenen Kirk Douglas, in dem sich die Sklaven gegenüber ihren Herren erheben. Es ist der Moment, in dem es kurz so scheint, als könnte das mit dem Titel gegebene große Versprechen endlich eingelöst werden. In dem kurz etwas anklingt, das Resonanz erzeugen könnte.
Burhan Qurbani ist spätestens mit seinem zweiten Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark. in die erste Riege der ernstzunehmenden deutschen Regisseure vorgestoßen. Mit Berlin Alexanderplatz liefert er seine mit Spannung erwartete Neuinterpretation des bereits bei seinem Erscheinen im Jahre 1929 als modernem Klassiker gefeierten Romans von Alfred Döblin ab, und setzt sich dabei Vergleichen mit Piel Jutzis Filmversion von 1931 und vor allem mit Rainer Werner Fassbinders monumentalem Fernsehmehrteiler von 1980 aus.
Qurbani versetzt den Stoff in die heutige Zeit; sein zentraler Kniff hierbei ist, den bei Döblin aus mehrjähriger Haft entlassenen Arbeiter Franz Biberkopf zu Francis aus Bissau (erstmals im deutschen Kino zu sehen: Welket Bungué) umzudeuten, der nach einer Flucht übers Meer in Berlin landet und mangels Papieren zunächst als Schwarzarbeiter Fuß fasst, um später ins Drogendealer-Milieu abzudriften. Aus seiner Perspektive verläuft die frei nach dem Roman bearbeitete Handlung. Die neun Bücher bei Döblin verdichtet Qurbani zu drei Stunden, die in fünf Teile plus Epilog gegliedert sind. Die Off-Stimme Miezes (Jella Haase) flankiert diese, was eine Art Bänkelsang oder Chor darstellt.
Man sieht und spürt, dass keine/r der Beteiligten sich geschont hat. Gerade technisch ist der Film hervorragend. Allem voran Szenenbild und Kostüm liefern großartige Arbeit ab. Auch die Kameraarbeit von Yoshi Heimroth und die Darsteller sind hervorzuheben. Hier fangen aber schon die Probleme an. Die Entscheidung, in Cinemascope zu drehen, erscheint aufgrund der in jederlei Hinsicht beabsichtigten epischen Breite naheliegend. Viele Einstellungen springen einen förmlich an mit ihrer grellen Farbigkeit, wahlweise auch mit gedämpften Tönen. Der Wille, Bilder mulitisemantisch aufzuladen, etwa mittels Neonfarben als Wiederkehr einer auf offener See aufflammenden Leuchtrakete, ist unübersehbar. Oft wirken die Bilder aber seltsam geleckt, oft auch leer, als sei der Bildinhalt zu klein für das Format, die Breite oder Tiefe des Bildes wird kaum entscheidend genutzt, um etwas zu vermitteln, das nicht an der Oberfläche ersichtlich ist, dafür kippt die Kamera manchmal effekthascherisch ab, man fragt sich, was das genaue Konzept hinter all dem ist, und ob die Wahl des breitestmöglichen Bildformats nicht der klaustrophobischen Situation der Hauptfigur entgegenwirkt.
Der Cast müht sich ab, jede/r für sich genommen macht auch einen bemerkenswerten Job, doch als Ensemble fügt es sich nicht zusammen. Welket Bungué, Jella Haase und Albrecht Schuch (als Reinhold) als zentrale Darsteller scheinen in drei unterschiedlichen Filmen zu spielen. Besonders Schuch, der in Systemsprenger noch großartig zurückhaltend war, spielt hier launig auf und kostet seine exaltiert angelegte Rolle (neudeutsch: »sexy«) mit allzu großem Genuss aus, was aber keine Resonanz auf das durchweg stoische, physisch geprägte Spiel von Bungué erzeugt, während Jella Haase noch am ehesten das zeigt, was man vom deutschen Normalnull-Kino erwartet. Mangelnde Resonanz ist nicht nur auf dieser Ebene der entscheidende Begriff: Zwischen den Darstellern kommt es nie zu echten Schwingungen oder Vibrationen, es erklingt nichts auf einem humanen oder sinnlichen Level, was auf die Zuschauer überspringen könnte und nachwirkt. Die stellenweise lachhafte Dualität Frances-Reinhold gibt einem durch ihre Unglaubwürdigkeit Rätsel auf. Dies alles, weil die Figuren Konstrukte sind und sich darüber nicht erheben können, sondern tun, was sie tun sollen.
Das lässt sich auch auf die Handlungsebene übertragen. Francis geht im Verlauf des Films durch die Hölle, doch es lässt einen erstaunlich kalt. Man weiß natürlich, was passieren wird, und könnte das »episch« nennen. Dennoch ist der Ansatz dramatisch, hier ist kein Brechtianer am Werk. Der Film will trotz aller Schauhaftigkeit seine Künstlichkeit, anders als Döblin, gerade nicht ausstellen, was man an realistischen Elementen wie dem angesprochenen Szenenbild oder etwa der Bilingualität sehen kann. Es ist zu bedauern, dass sich die Modernität des Romans auf keiner Ebene wiederfindet. Das deutsche Kino war bereits mit Lola rennt viel avantgardistischer. Hier wurde die große Chance vertan, auf dem Rücken einer bekannten und sich dazu anbietenden Vorlage konzeptuell endlich wieder einmal Experimentierfreude zu zelebrieren.
Über das gezeichnete Berlin-Bild muss auch gesprochen werden. Ein Vorbild für die überbordende Visualität und neuartige Montagetechnik des Romans ist Walther Ruttmanns Dokumentation Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt. Wo Döblin, analog zu Ruttmanns Stummfilm-Klassiker, ein facettenreiches und bis heute nachwirkendes Zeitporträt einer Metropole in ihrer Glanzzeit einfängt, zeigt Qurbani bis auf die gesichts- und namenlosen Dealer der Hasenheide rein gar nichts von dem, was das heutige Berlin adäquat beschreibt. Es ist eine Anhäufung von Klischees, die Partys sind eine artifizielle Melange aus 20er- und 80er-Jahre-Kitsch, dunkelhäutige sowie transsexuelle Menschen stehen stellvertretend für ein diffuses Konzept von Diversität. Gerade der Drogensubplot lässt an 4 Blocks denken und entlarvt, wie wenig man im Vergleich dazu über Berlin erfährt, und wie sehr der eigentliche Fokus in diesem Film doch wieder weißen Menschen gehört.
Wer seinen Film »Berlin Alexanderplatz« nennt, muss sich nun einmal dem Anspruch stellen, auch ein Film über die namensgebende Stadt zu sein, doch im Kontrast zu den vorherigen Versionen wirkt der Film sonderbar klein, es laufen trotz der behaupteten Breite immer dieselben Figuren durchs Bild, so dass sich die Frage stellt, ob die strenge Struktur dieses Films und seine Miniatur-Epik ihn nicht für eine Miniserie bzw. einen Sechsteiler prädestiniert hätten.
Es stellt sich zudem die Frage, ob sich das singuläre Trauma einer Fluchterfahrung, was der Film als Motiv für Francis' unerschütterlichen Antrieb deutet, sich in die Gesellschaft zu integrieren, so gut als Substitut für eine mehrjährige Prägung durch einen menschenverachtenden Gefängnisaufenthalt wie bei Döblin eignet. Qurbanis eigener Antrieb wird durch ein unlängst erschienenes Interview mit der Süddeutschen Zeitung deutlich. Er wolle das Klischee »Schwarzer Mann = Dealer«, das Menschen in den Sinn komme, wenn sie über die Hasenheide spazieren gingen, aufbrechen. Aus der Annahme, dass ein solcher Film aber nicht wahrgenommen werden würde, kam ihm der Gedanke, dies mit »Berlin Alexanderplatz« in Beziehung zu setzen. Deswegen nennt die Süddeutsche den Film auch treffend ein »Trojanisches Pferd« (ein Kollege nannte ihn gar eine »Mogelpackung«). Ich denke, dass der oben wiedergegebene grundlegende Gedanke schon einmal nicht stimmt: Das rassistische Klischee vom schwarzen Dealer wird von den meisten Menschen nicht unreflektiert übernommen. Dies anzunehmen, halte ich für problematisch. Zweitens könnte man behaupten, dass sich auch der Film diverser Klischees bedient, um seine Geschichte zu erzählen, denn die Drogenbande wird geführt von weißen Herren, die beides missglückte Karikaturen sind (Joachim Król gibt eine Art Joe Pesci für Arme), und die meisten Schwarzen bleiben namen- und charakterlos wie ihre realen Pendants – bis auf Ottu, der auch noch ein klassischer »Onkel Tom« ist. Drittens hätte Qurbani natürlich auch direkt etwas über sein Sujet machen können, ohne über diese gewaltige Bande zu spielen. Eine Reportage des SZ-Magazin von Patrick Bauer aus dem Jahre 2017 über die komplexe Lage im Görlitzer Park ist mir präsent geblieben. Sie schafft das, was der Film nicht schafft – sie zeigt das wahre Dilemma von Menschen aus Fleisch und Blut, sie gibt vorverurteilten Menschen eine Stimme, sie eröffnet neue Perspektiven – und sie klingt nach.
Natürlich ist trotz aller Kritik anzuerkennen, dass dies ein unbestritten persönlicher Film ist – die Auseinandersetzung mit den großen Themen Migration und Ausgrenzung sowie der Wille, Barrieren niederzureißen, sind in Qurbanis Werk omnipräsent.
So sehr mir dieses hehre Anliegen und die eingangs erwähnte Proklamation eines »neuen« Deutschland aus politischen Gründen sympathisch sind, um so mehr verstört mich der gewählte künstlerische Ansatz. Dies ist nicht ein Film der Bilder oder Töne. Dies ist nicht ein Film der Schauspieler. Dies ist noch nicht einmal ein Film, in dem eine persönliche und/oder politische Haltung im Zentrum steht. Vielmehr ist dies ein Film der Ambition. Der Hang zu großen Statements, zum großen
Gestus, zum breiten Pinselstrich steht einer sinnlichen, subtilen, empathischen Wahrhaftigkeit im Wege, der Film will Herz und Eier haben, kann sich aber nie davon lösen, eine Kopfgeburt zu sein, der Regisseur ist wagemutig, aber ihm fehlt doch das Vertrauen, auch mal loszulassen. Hier will jemand nichts weniger als sein Meisterwerk schaffen, und gerade deswegen kann es niemals eins werden.
Qurbani würde eine unforcierte Selbstverständlichkeit gut zu Gesicht stehen, denn
wir haben mit ihm jemanden, der sonst alles mitbringt, um das deutsche Kino auch international wieder stärker zu repräsentieren – und dessen mangelnde Resonanz im Ausland zu überwinden. Bis es aber dazu kommt, wird Fassbinders Epos die definitive Döblin-Verfilmung bleiben und diesen neuerlichen Versuch, die Prognose kann man getrost wagen, lange überdauern.
Berlin Alexanderplatz ist seit dem 16. Februar 2021 auf Netflix abrufbar.