Dänemark 2007 · 104 min. · FSK: ab 16 Regie: Ole Bornedal Drehbuch: Ole Bornedal Kamera: Dan Lautsen Darsteller: Anders W. Berthelsen, Rebecka Hemse, Nikolaj Lie Kaas, Charlotte Fich, Dejan Cukic u.a. |
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Zurück in der Leichenhalle |
Bis in die Mitte der 1990er Jahre war Skandinavien cineastisch ein Fall für Connaisseure und Arthouse-Fans. Da gab es den Klassiker Dreyer, den Monolithen Bergman, den neuen Kultregisseur von Trier und die Kaurismäki-Brüder, die bei uns noch am ehesten einem breiteren Publikum bekannt waren.
1995 brach in dieses Bild vom geistreichen (für manche zu geistreichen) aber sperrigen Kino des Nordens der Film Nachtwache von Ole Bornedal ein. Ein dänischer
Horrorfilm, mit geringen Mitteln produziert, voller Ideen, Anspielungen und spannender Momente.
Das Aufsehen, das dieser Film (nicht nur bei der zuständigen Genre-Fraktion) erregte, war groß und dem Regisseur Bornedal wurde eine glorreiche Zukunft vorhergesagt. Diese schien auch gleich einzutreffen, als er nach Hollywood gerufen wurde, um mit Starbesetzung und großem Budget ein Remake seines eigenen Films zu drehen. Das Ergebnis war 1997 Nightwatch, der eindrucksvoll bewies, dass der
Reiz von (Genre)Filmen wie Nachtwache meist gerade in ihren beschränkten Mitteln liegt. Wo das Geld für super Technik und teure Stars fehlt, da muss man eben durch Kreativität und ungewohnte, neue, freche Ideen seine Vision umsetzen.
Nightwatch fehlte dieser sympathisch dilettantische Charme, er war professionell, glatt und letztlich belanglos. Das Kinopublikum
bestrafte die zu einfache Kalkulation der Produzenten mit weitgehender Nichtachtung, von Ole Bornedal sollte man für lange Zeit nichts mehr hören.
Erst 2004 meldete er sich mit Dina – Meine Geschichte, einer großen europäische Kooperation mit einigen Stars und aufwändiger Ausstattung zurück. Trotz kleiner Schwächen war der Film keineswegs ein gesichtsloser »Europudding«, sondern zeigt durchaus interessante und eigenständige Ansätze. Ole Bornedal schien zurück, ein klassischer Fall vom jungen Talent in der Tretmühle Hollywood, dem es so erging, wie vielen anderen vor und nach ihm (zuletzt etwa dem Ungarn Nimrod Antal, der nach seinem sehr sehenswerten Kontroll nach Amerika ging, um dort den bedeutungslosen Motel zu drehen). So ist Hollywood nun einmal, it chews you up and spits you out.
Bei Bornedals neuestem Werk Bedingungslos bestand nun die Hoffnung, dass das ewige Talent, das charakterlich und künstlerisch an den Widrigkeiten der Filmindustrie gewachsen und gereift ist, endlich ein souveränes Meisterstück abliefert.
Leider wird diese Hoffnung enttäuscht und angesichts des vorliegenden Films wird die Frage nach den wahren Fähigkeiten Bornedals immer akuter.
Natürlich könnte man berücksichtigen, dass es für ihn schon irgendwie dumm gelaufen ist. In der Zeit, in der Bornedal versucht hat den Traum vom Hollywood-Kino Wirklichkeit werden zu lassen, hat seine (skandinavische) Heimat einen filmischen (aber auch anderweitig kulturellen) Qualitäts- und Popularitätsschub erlebt. Es gab die Dogma-Bewegung mit all ihren Auswirkungen, skandinavische Krimis und ihre Verfilmungen erlebten einen regelrechten Boom, nordische Komödien zwischen melancholisch zartbitter bis schrill, skurril und respektlos gehören bei uns mittlerweile ebenso zum Kino-Alltag wie einige der sehenswertesten, weil ehrlichsten und ergreifendsten Dramen, die von dort kommen.
In dieses neue cineastische Selbstverständnis versucht sich Ole Bornedal mit Bedingungslos nun einzureihen, indem er eine Art skandinavisches best-off anrührt, eine Prise internationale(s) Filmkunst(handwerk) darüber streut, eine gehörige Portion seiner selbst mit einbringt und das ganze dann visuell ansprechend garniert. Das Endergebnis präsentiert sich entsprechend krude.
In der verwegenen Verbindung eines subtilen Familiendramas mit einem
Thriller liegt dann auch das zentrale Problem des Films.
Gerade in der Schilderung von Beziehungen, die unter extremen Bedingungen zerbrechen, haben die Skandinaver eine gewisse Meisterschaft entwickelt (siehe etwa Open Hearts, der wie Bedingungslos auf einem tragischen Autounfall aufbaut, oder Nach der Hochzeit). Nur ist es für die dramatische Stimmung eines solchen Films tödlich, wenn der hierfür notwendige Realismus ständig durch abstruse Krimielemente und flapsige Figurenzeichnungen unterlaufen wird. Der Thrillerspannung wiederum tut es nicht gut, von langwierigen emotionellen Konflikten unterbrochen zu werden.
Verschärfend kommt hinzu, dass Bornedal nicht das gleiche Talent für Beziehungsdramen zu besitzen scheint wie etwa seine Kollegen Anders Thomas Jensens oder Susanne Bier. So gelingt es ihm kaum, die behauptete Langeweile und Tristes im Leben der Figur des Jonas zu vermitteln (wie man das in Perfektion macht, ist z.B. in Anderland zu sehen). Auch die Beziehungen von Jonas zu seiner Frau, zu seiner Geliebten Julia oder deren Familie bleiben weitgehend stereotyp, was einen als Zuschauer ungerührt zurück lässt.
Im Verlauf des Films verfestigt sich immer mehr der Eindruck, dass alles Ernste und Dramatische in Bedingungslos nur aufgesetzt bzw. aufgenötigt ist und Ole Bornedal eigentlich etwas ganz anderes machen will (möglicherweise gar nichts anderes machen kann), nämlich zurück zu seinen Wurzeln zu kehren, weshalb man oft glauben könnte, es mit der dritten Verfilmung von Nachtwache zu tun zu haben. Der augenfälligste Beleg hierfür sind
wohl die zahlreichen Szenen, die (dramaturgisch unbegründet) in einer Leichenhalle der Gerichtsmedizin zwischen diversen Toten spielen.
Doch auch weniger offensichtlich (Stil)Elemente aus Nachtwache werden hier munter repetiert.
Verhängnisvoll ist dabei, dass ein billiger, kleiner Horrorfilm nach anderen Gesetzmäßigkeiten und Prämissen funktioniert als ein Familiendrama oder ein subtiler Thriller. Stilistische Mittel und inhaltliche Eigenheiten, die man in einem Genre als gegeben akzeptiert, funktionieren im anderen überhaupt nicht. In einem Film wie Nachtwache ist es schon in Ordnung, wenn manche Figuren ein wenig »clownesk« gestaltet werden, wenn manche Szenen arg klischeehaft ausfallen, wenn man sich pausenlos in eigenen und fremden Referenzen ergeht, wenn man es mit der Logik nicht zu genau nimmt, wenn die Handlung auf Gedeih und Verderb der Spannung unterworfen und hingebogen wird, wenn der Effekt mehr zählt als die Wahrhaftigkeit.
In einem Drama, aus dem Bedingungslos zur Hälfte besteht, sind solche Elemente jedoch vollkommen fehl am Platz. Eine emotionelle Beziehungsgeschichte wird eben nicht dramatischer, indem man sie mit einem geheimnisvollen Mörder würzt, eher im Gegenteil.
Und wie ernst kann man eine Handlung schon nehmen, die darauf aufbaut, dass die weibliche Hauptfigur ihr Gedächtnis und ihre Sehfähigkeit verloren hat?
Doch auch die andere, die
»Thriller-Hälfte« kann den Film nicht retten, weil vieles (für dieses Genre) zu kompliziert, zu konfus, zu bemüht, zu nebensächlich ist, als dass echte Spannung entstehen würde.
Vielleicht hat sich Ole Bornedal mit Bedingungslos einfach überhoben. Vielleicht wollte er zu viel, wollte es zu gut machen, wollte alles auf einmal und hat sich dabei verrannt und zwischen den Genres und Stilen verheddert. Vielleicht ist er also das ewige Talent, für das es wieder einmal dumm gelaufen ist.
Vielleicht ist Bedingungslos aber auch genau das, was von ihm zu erwarten ist und das einzig wahre Talent, das er ja besaß,
steckt in einem unterhaltsamen, kleinen Film namens Nachtwache.
Es ist Nacht. Ein Mann liegt erschossen auf der Straße. Der Regen prasselt auf ihn nieder. Eine Frau in weißem Kleid eilt herbei und beugt sich mit lautem Schreien über ihn.
Das alles aus der Vogelperspektive. Dazu hört man eine Stimme aus dem Off: »Eine klasse Einstellung. Ein Opfer im Regen. Eine Frau, eine Frau gehört dazu...immer.«
Bedingungslosist ein Film, der sich bereits in den ersten Minuten selbst kommentiert: »Schöne Frauen und ein Mysterium, so fängt ein Film noir immer an«, und seine Geschichte ist im Grunde genommen einfach, aber genial.
Jonas lebt mit Frau Mette und seinen zwei Kindern in Kopenhagen. Sein Leben hat er sich allerdings anders vorgestellt. Lebendiger, als Reisefotograf. Doch nun fotografiert er Leichen im Leichenschauhaus, die leblose Seite der Kriminalogie. Und seine Ehe mit Mette entbehrt jeder vorgestellten Leidenschaft. Es ist ein ständiger Kampf gegen das Gewöhnliche, Alltägliche, Normale, den er führt, und den nur eine Amour fou beenden kann: Mit einem gewaltigen Aufprall landet Julia in Jonas Leben.
Der Aufprall wurde versucht durch einen Verkehrsunfall, an dem Jonas eine Teilschuld trägt und der in ihm solche Schuldgefühle verursacht, dass er sich fürsorglich am Bett der im Koma liegenden, durch Narben stark verunstalteten Schönen wieder findet. Und hier beginnt das Mysterium, von dem sich unser Held zutiefst angezogen fühlt: Denn obgleich Jonas ein völlig Fremder ist, erwartet Julias Familie ihn bereits sehnsüchtig. Sie glauben, dass es sich bei dem Unbekannten um einen gewissen Sebastian handelt, dem Mann, der das letzte Jahr mit Julia in Hanoi verbrachte und ihre Stimme am Telefon glücklich erscheinen ließ. Zunächst nur um nicht vom Krankenbett der Verletzten vertrieben zu werden, schlüpft Jonas spontan in Sebastians Rolle, später bleibt er, weil alle Hoffnung der Familie, Julia könne durch seine Anwesenheit wieder gesunden, auf ihm lastet. Und dann erwacht Julia aus dem Koma. Sie ist erblindet, kann sich an nichts mehr erinnern. Der echte Sebastian ist, wie Jonas in der Zwischenzeit durch seine Kriminalkollegen herausfinden ließ, bei dreckigen Drogengeschäfte in Hanoi umgekommen. Jonas wittert ein neues, nach Wahnsinn schmeckendes Leben.
Er trennt sich von seiner Frau, übersteht mit Bravur die Aufnahme in die vornehme und ihn umklammernde Familie von Julia. Alles scheint gut. Ein neues Leben voller Obsession und Mysterium könnte nun für ihn beginnen. Aber Julia beginnt sich in den Gesprächen mit Jonas immer mehr zu erinnern, an das, was vorgefallen ist, in Hanoi damals. Und immer mehr wird aus der netten Fürsorge, die Jonas alias Sebastian Julia zukommen lässt, ein für ihn lebensgefährliches Spiel. Der Thrill beginnt...
Das Mysterium des Films liegt jedoch keinesfalls in der sorgfältig konstruierten Geschichte, noch in seinem gewöhnlichem Helden, der sich auf Abenteuerreise begibt. Das Mysterium des Films ist vielmehr, wie erzählt wird, mit einer Wucht in der visuellen Sprache, die einen überwältigt. Jede Einstellung, die wir sehen, ist eine Fotografie, die man gerne noch einen Augenblick festhalten würde: Weite Einstellungen, in deren Tiefe sich die Figuren verlieren, architektonische Bildgewalt, auf deren verkanteten Schrägen die Realität nur abrutschen kann. Seelenbilder, wie das Wandeln vor riesigen Autoschrotthaufen oder Gespräche zwischen nackten, in Neonlicht gebettete Leichen. Dazu eine unübertreffbare Authentizität des Tons, der die Szenen teilweise überlagert und miteinander verklammert, wie etwa Julias Stöhnen, das sich auch über die Bilder legt, in denen Mette fragt, ob Jonas sie betrüge. Und immer wieder die wie in einen Wirbel hineinziehende, sich auf alles zubewegende und ständig kreisende Kamera. Und dann ist da noch die Ästhetik der Gewalt.
Mordszenen wie Liebesszenen filmen und Liebesszenen wie Mordszenen, so hat das Hitchcock gemacht. Diese Ästhetisierung des Schreckens zwingt das Publikum sehnsüchtig hinzusehen, abscheuliche Taten geradezu in sich aufzusaugen. Und genau das passiert in Bedingungslos, als Julia beim Aufprall des Wagens in einer Großaufnahme langsam hin und hergewiegt wird und die Splitter der Scheibe wie Schneeflocken in ihre Haare fliegen, als wäre sie eine sich hingebende Eisprinzessin.
Der Film braucht für seinen Thrill keine emotionalen Brachialakte, kein Hinleben auf einzelne Momente. Es sind die Bilder selbst, die den Zuschauer bedingungslos in den hineinziehen, und man verlässt das Kino mit einem gewaltigen Bildermeer, das die erzählte Geschichte wie einen Tsunami weggespült hat.