Japan 2021 · 121 min. · FSK: ab 12 Regie: Mamoru Hosoda Drehbuch: Mamoru Hosoda Musik: Taisei Iwasaki, Yûta Bandoh, Ludvig Forssell Schnitt: Shigeru Nishiyama |
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Virtuose Coming-of-Age Poesie | ||
(Foto: Koch Films/KSM/24 Bilder) |
Wie sehr die Multi-, Metaverse und Cyber-Ideen sich inzwischen auf fast schon alltagstaugliche Weise in den verschiedensten Film-Genres festgesetzt haben, konnte man zuletzt in Dan Kwans und Daniel Scheinerts Everything Everywhere All at Once gut nachvollziehen, eine Entwicklung, in der sich zunehmend Ideen aus Spielewelten wie Fortnite und Filmwelten gegenseitig zu inspirieren scheinen.
Diese Entwicklung ist selbstverständlich auch nicht an dem japanischen Anime vorbeigegangen. Schon in seinem Debütfilm Summer Wars (2009) hat Mamoru Hosoda die reale Welt mit der virtuellen Welt auf Konfrontationskurs geschickt; in seinem neuen Film Belle macht er das ebenfalls, doch mit weitaus mehr Zwischen- und äußerst überraschenden Untertönen – und einem faszinierenden Anspielungsreichtum an Klassiker des Zeichentrickfilms.
Dabei ist die Geschichte im Kern eine sehr einfache: die 17-jährige Suzu ist durch den Tod ihrer Mutter traumatisiert und hat weder zu ihrem Vater noch ihren Mitschülern funktionierende Beziehungen. Dies ändert sich erst, als sie auf den Rat ihrer einzig verbliebenen Freundin Hiro, einer Computer-Nerdin, der virtuellen Welt von »U« beitritt und über ihren Avatar »Belle« eine Art von Selbsttherapie einleitet. Endlich kann sie wieder die sein, die sie noch mit ihrer Mutter war: ein musikalisch begabtes Mädchen, das in »U« zu singen beginnt und eine immer größer werdende Fan-Gemeinde gewinnt.
Hosoda präsentiert hier die vielleicht älteste Hoffnung virtueller Räume, ja des Internets an sich – die psychische Gesundung durch einen Rollenwechsel, der sich zunehmend auch auf die reale Person auswirkt. Doch mit der Integration des alten französischen Kunstmärchens und vor allem der von Hosoda geschätzten Disney-Adaption von Die Schöne und das Biest (1991), durch die Suzu sich auf mehreren Ebenen emanzipieren muss, um schließlich wirklich ein neuer Mensch zu werden und das alte Trauma zu besiegen, fließt auch zunehmend die Kritik an den virtuellen Realitäten mit ein.
Belle zeigt dabei nicht nur die Vertrollung der virtuellen Welt von »U«, die Grausamkeit sozialer Dynamiken, sondern macht durch überbordende Tableaus, in denen so ziemlich alle sozialen Medien, die als Brücken zwischen realer und virtueller Welt unerlässlich sind, auch die Überforderung für das Individuum deutlich, diese Brücken sicher zu beschreiten, ohne dabei abzustürzen.
Um die Gefahren dieser Dichotomie zu verdeutlichen, haben sich Hosoda und sein Disney-Animationsvirtuose Jin Kim (der u.a. für Zoomania und Encanto mitverantwortlich gewesen ist) dafür entschieden, die reale Welt durch vorwiegend handgezeichnete Animationen gegenüber den 3D-gerenderten der Meta-Welt abzugrenzen. Diese Bruchlinien sind zwar markant, doch da beide Versionen gleichermaßen von kreativen Ideen nur so sprühen und ähnlich beeindruckend sind, macht Hosoda trotz aller Kritik damit deutlich, dass die eine Welt nicht mehr ohne die andere kann, dass es vielmehr darum geht, die Stärken des Virtuellen in die reale Welt zu überführen und umgekehrt die reale Welt über gezielte »Outings« in die virtuelle Welt zu transportieren, um die außer Rand und Band geratene Moral im virtuellen Raum und die individuellen Traumata im Realen wieder in den Griff zu kriegen.
Das ist nicht nur zeichnerisch delikat, denn Hosoda und Kim zitieren nicht nur den Stil Disneys, auch Ideen aus jüngeren Filmen wie etwa die verdrehten Häuser aus dem Spider-Verse werden zitiert, und es werden immer wieder auch Anleihen aus der Ästhetik der Ghibli-Studios genommen und Alltagsmomente wie ein Bad in der Badewanne, ein Bahnhof oder einfach nur die Details von Strommasten, Laternen oder Ampeln sind mit so wunderbarer Poesie wie in den besten Ghibli-Filmen animiert. Und Ghiblis legendäre märchenhafte Symbole werden sowohl in den virtuellen als auch den realen Raum übertragen und transformieren damit zu erzählerischen Schnittstellen, wie etwa der Walfisch, der Belle aus der Disney-Figur der »Schönheit« entführt und sie zu Ghiblis Ponyo werden lässt, die ja ebenfalls eine zweigeteilte Welt befrieden musste, um zu etwas Neuem zu werden und zu überleben.
Gleichzeitig bricht Hosoda immer wieder mit beiden Zeichentrickkonzepten, beweist Mut zur Hässlichkeit, etwa in den verzerrten Gesichtern und Körpern zweier Jugendlicher, die sich ihre Liebe nicht trauen einzugestehen, oder in den völlig überfrachteten Informationskaskaden des Internet und dann natürlich in der sehr erwachsenen Geschichte, die hier auch erzählt wird, eine von Missbrauch und der Ohnmacht. In diesen Momenten ist Belle dann ganz nah an einem anderen großen Anime-Erfolg der letzten Jahre, an Makoto Shinkais Your Name, der über Coming-of-Age-Poesie ebenfalls von den Missständen unserer Gegenwart erzählt hat.
Dadurch besitzt Belle allerdings weder die ästhetische noch erzählerische Geschlossenheit eines Ghibli- oder Disney-Films und schafft selten, diese völlig überraschenden, emotionalen, ja fast rätselhaften Momente der Uneindeutigkeit zu erzeugen, für die Ghibli berühmt geworden ist. Doch dafür erzählt Belle eine eindeutige und wichtige Geschichte über unsere Gegenwart und die Notwendigkeit, auch unser ureigenstes Ich ohne Angst und Scham zu zeigen, im realen wie auch im virtuellen Raum. Und dass es auch mit der Liebe erst so richtig etwas werden kann, wenn die Altlasten aus unserer Vergangenheit abgetragen sind.