Deutschland 2021 · 78 min. Regie: Melanie Lischker Drehbuch: Melanie Lischker Kamera: Thomas Lischker, Melanie Lischker Schnitt: Mechthild Barth, Melanie Lischker |
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Die Schatten der Vergangenheit | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
Vor vier Jahren hat die Schweizer Filmemacherin Petra Volpe in ihrem so klugen wie überzeugenden Film Die göttliche Ordnung den Kampf einiger Appenzeller Frauen für das Frauenwahlrecht in der Schweiz in den frühen 1970ern geschildert. Ihr differenzierter Blick ließ auch Raum für die Gegner des Frauenwahlrechts und porträtierte eine Gesellschaft, die vom Politischen bis ins Private zutiefst zerrissen war.
Melanie Lischkers auf dem 36. DOK.fest in der deutschen Reihe gezeigte Dokumentation Bilder (m)einer Mutter erzählt eine sehr ähnliche Geschichte. Sie erzählt zwar nicht von dem Kampf mehrerer Frauen für das Frauenwahlrecht in der Schweiz, aber vom lebenslangen Kampf einer Frau für mehr Gleichberechtigung. Dieser Kampf ist ein einsamer, ein sehr privater Kampf und findet nicht in Appenzell, sondern in Düsseldorf statt. Denn hierhin hat es die Mutter und den Vater von Melanie Lischker in den 1970er Jahren verschlagen. In Schongau geboren und aufgewachsen, war die junge Liebe ihrer Eltern auch so etwas wie die Vision, ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Leben zu führen, ein Leben, das in Schongau undenkbar gewesen wäre. Warum es dann jedoch auch in Düsseldorf nicht zu dem wurde, was sich die Eltern einst erhofft hatten, warum ihr Traum im Alltag einfach so verlorenging, darüber erzählt Melanie Lischkers Film in eindringlichen, zärtlichen und emotionalen Bildern.
Es ist fast so, als hätte Lischker eine Lupe auf Volpes Spielfilm gelegt, denn Lischker erzählt über das Leben ihre Mutter von den Frauen, die auch von Volpe übersehen und vergessen wurden, die am Straßenrand liegenblieben, als der Zug der feministischen Bewegung durchs Land rauschte. Über Frauen, die auch vergessen wurden, weil sie nicht stark genug waren oder weil sie einfach nicht wussten, wie das gehen sollte, sie selbst zu sein. Die keine Freundinnen und Gleichgesinnte hatten wie die Frauen in Volpes Die göttliche Ordnung.
Lischker hatte das Glück, einen Vater zu haben, der die kleine Kernfamilie, die sie in Düsseldorf wurde, von Anfang an filmisch begleitet hat. Erst mit Super8, später mit Betamax und anderen Formaten, hat ihr Vater das letzte Lachen der Mutter ebenso festgehalten wie die Cord-Schuhe, die er am Anfang ihrer Beziehung noch getragen hat. Und Lischker hatte das Glück, eine Mutter gehabt zu haben, die ihr Leben in immer düsterer werdenden Tagebucheinträgen festgehalten hat.
Lischker hat die Filme ihres Vaters mit den Tagebucheinträgen ihrer Mutter verschnitten und damit ihren Eltern ein Denkmal gesetzt, das schöner und ehrlicher nicht sein könnte. Ein Denkmal für ein Zusammensein, eine Liebe und eine Neugierde, die sie nur am Anfang ihrer Beziehung hatten und zunehmend verloren haben, so unmerklich verloren haben, dass sie es erst merken, als es schon zu spät ist. Es ist eigentlich der Film, den ihre Eltern hätten machen sollen, machen müssen, aber nie gemacht haben.
Neben die biografischen »Notizen« ihres Vaters und ihrer Mutter stellt Lischker zeitzeugenartige Filmzitate. Wir sehen einen bayerischen Familienminister über die Rolle der Frau in den 1950er Jahren sprechen und sehen vor einer bizarren Männerrunde eine der wenigen erfolgreichen deutschen Politikerinnen, Annemarie Renger, vor dem Bundestag sprechen. Wir sehen also auch auf höchster gesellschaftlicher Ebene, wie schwer, wie spät und wie langsam Veränderungen möglich sind.
Und dann sehen wir wieder Lischkers Mutter, die über die »scheiß Zwänge« schreibt. Sie schreibt: »Ich habe das Gehen verlernt.« Und als alle Versuche gescheitert sind, das Gehen doch noch irgendwie hinzukriegen, bleibt ihr nur noch eins, sich selbst zu fragen: »Wer bin ich geworden?« Wir ahnen nicht nur, wir sehen, wie das funktioniert, wie Alltag und die herrschende Moral Seele und Vision auffressen, wie selbst ihr Vater seiner Frau irgendwann nicht mehr die Stärke zutraut, Maskenbildnerin werden zu können. Wie beide Eltern zu Marionetten werden. Wir sehen, wie Moral und Ethos auf basalster Ebene, der Familienebene, funktionieren. Und wie so oft, erklärt das Kleine das Große und umgekehrt.
Das wohl Tragischste und zugleich Schönste an Lischkers Film ist die Erkenntnis, dass ihre Mutter zumindest im Angesicht des Todes jene selbstbestimmte Freiheit erfahren hat, nach der sie sich so sehr gesehnt hat. Das hört sich leicht gesagt an, muss aber noch einmal betont werden: Im Angesicht des Momentes, in dem der Mensch seine (vermeintliche) Selbstbestimmung komplett abgeben muss, erlangt Lischkers Mutter ihre größte Freiheit. Eine größere, traurig-schönere Ambivalenz ist eigentlich kaum denkbar. Nur vielleicht jene der übriggebliebenen Familie, Lischkers Vater, ihr Bruder und sie, die danach so weitermachen (müssen) wie zuvor und jedes Jahr im Sommerurlaub in das Haus auf Sylt fahren, wo sie so oft zuvor mit der Mutter gewesen sind.
Weil er mit dem Kleinen das Große fast schon perfekt erklärt und so politisch wie poetisch ist, ist Bilder (m)einer Mutter weit mehr als eine (auto-)biografische Erzählung zu einem verlorenen Leben, einer verlorenen Zeit. Es ist vielmehr eine immer gültige, mahnende Erinnerung daran, auf der Hut zu sein. Ganz gleich zu welcher Zeit, in welchem Alter oder mit welchem Geschlecht.