USA/Kanada 2021 · 118 min. · FSK: ab 12 Regie: Justin Chon Drehbuch: Justin Chon Kamera: Ante Cheng, Matthew Chuang Darsteller: Justin Chon, Alicia Vikander, Mark O'Brien, Linh-Dan Pham, Sydney Kowalske u.a. |
||
Diese kleine, glückliche Familie | ||
(Foto: Universal Pictures) |
Saving nickles saving dimes
Working til the sun don’t shine
Looking forward to happier times
On Blue BayouI’m going back someday
Come what may
To Blue Bayou
Where the folks are fun
And the world is mine
On Blue Bayou(Songtext Blue Bayou)
»Heimat ist für mich auf jeden Fall mit positiven Emotionen verbunden. Mit sich wohlfühlen, heimisch fühlen, an einen Ort kommen, wo man alles kennt, zum Beispiel seine Nachbarin. Das ist, wenn ich von einer Reise zurückkomme, in meine Straße rein fahre – da denke ich 'Ja, ich bin zu Hause'. Das ist für mich Heimat. Aber Heimat ist auch, wenn ich zurückdenke an meine Kindheit, Musik zum Beispiel. Wenn ich bestimmte Lieder höre, dann kommen Erinnerungen aus der Kindheit oder dieses 'Berührt-Sein'. Das ist für mich Heimat. Und als Ort ist es für mich auf jeden Fall Stuttgart im Engeren, dann Baden-Württemberg, dann Deutschland und dann Europa.«
(Muhterem Aras, Was ist Heimat)
In der Mitte des Films singt Kathy (Alicia Vikander) bei einem Gartenfest die alte Roy Orbison-Schnulze »Blue Bayou«, der der Film seinen Titel verdankt. Besungen wird ein Sehnsuchtsort, unerreichbar und fern. Eigentlich sind dieser Ort und das Glück aber gar nicht so weit, denn Kathy wohnt am Rande von New Orleans, in der Nähe des Bayou, und hat einen liebenden Ehemann und eine süße Tochter aus erster Ehe. Eine Idylle also? Diese kleine, glückliche Familie, die Nachwuchs erwartet, bildet den Kern von Justin Chons Film, für den er auch das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm.
In einer Idylle lebt die Familie allerdings nicht, denn Antonio (Justin Chon) findet neben seinem schlecht laufenden Tätowierladen aufgrund seiner Vorstrafen keinen zweiten Job, um seine Familie mit der hochschwangeren Kathy versorgen zu können. Auch muss Antonio das Vertrauen seiner Stieftochter Jessie (Sydney Kowalske) gewinnen, was gar nicht so leicht ist. Zudem versucht gerade Jessies leiblicher Vater Ace (Mark O’Brien), ein Polizist, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen, nachdem er jahrelang von der Bildfläche verschwunden war. Stoff genug für ein Liebes-Sozialdrama, das aufgrund einer Verhaftung auch zu einem politischen Drama wird: Der seit über 30 Jahren in Louisiana lebende Antonio soll in sein »Heimatland« Korea abgeschoben werden, weil seine amerikanischen Adoptiveltern keine Einbürgerung für ihn veranlasst hatten. Den teueren Anwalt kann sich die Familie gar nicht leisten und so muss Antonio überlegen, wie er schnell an Geld kommt. Noch hat er Kontakt zu seiner alten Gang von Motorraddieben.
Justin Chon macht mit diesem komplexen Drama auf die Situation vieler adoptierter Menschen mit Migrationsgeschichte in den USA aufmerksam, die von der Abschiebung bedroht sind, weil sie im Jahr 2000 älter als 18 Jahre waren, als das »Child Citizenship«-Gesetz in Kraft trat. Ähnliches war gerade im deutschen Kino mit Toubab zu sehen. Auch dort wurde eine geringfügige Straftat zum Anlass genommen, um einen Menschen abzuschieben, der mit seinem Geburtsland gar nichts mehr verbinden konnte. Chon, der sich mit Vorliebe politisch-sozialen Stoffen zuwendet (Gook, 2017, Ms. Purple, 2019, seine Serie »Pachinko« startet dieses Jahr), hat für sein Drehbuch eine aufwendige Recherche betrieben, um seine Story möglichst nahe an dem tatsächlichen Erleben der Abgeschobenen anzusiedeln. Auch Armut, Identität, vergebliche Jobsuche und Kriminalität als einziger Ausweg werden hier thematisiert. Trotzdem wählt Chon für seine Inszenierung keinen dokumentarisch-nüchternen Stil oder eine geradlinige Handlung, wie etwa Andreas Dresen in seinem auf der Berlinale gezeigten Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush. Im Gegenteil: Blue Bayou ist ein extrem stilisierter Film, der mit seinen vielen Motorradfahrten, den großen Emotionen und seiner häufig gewählten dunklen Abendatmosphäre an The Place Beyond the Pines erinnert. Statt Ryan Gosling ist es hier Justin Chon, den die Kamera immer wieder umkreist, in großer Nähe sucht und die seinen eher unbeweglichen Blicken die tragischen Emotionen zu entlocken versucht. Lenkt diese künstlich fokussierte Protagonistenstilisierung nicht zu sehr von der eher überindividuellen politischen Aussage ab? Die sehr abwechslungsreiche Musik von Roger Suen dreht dann, zusammen mit der im Schlussteil eskalierenden Handlung, die Emotionen auf den höchsten Pegelstand, bis auch der letzte Zuschauer im Saal im Tränenmeer davonschwimmt. Kann man nicht auch mit subtileren Methoden überzeugen? Schließlich ist allein schon die Tatsache, dass ein Mann, der fast sein ganzes Leben in den USA gelebt hat, nicht als Staatsbürger anerkannt und abgeschoben wird, erschütternd genug.
Vielleicht hätte Chon auch gut daran getan, nicht zu viele Themen in sein Drehbuch hineinzupacken: In poetischen Bildern wird – immer wieder in Bruchstücken eingefügt – das Drama seiner versuchten Ertränkung durch seine Mutter erzählt. Mit Parker (Linh Dan Pham) wird die Geschichte einer sterbenskranken Vietnamesin eingeführt, die natürlich das Thema Migration unterstützt, aber sonst nicht so recht dazuzupassen scheint. Auch die differenzierte Polizeidarstellung mit der Verknüpfung der Vater-Tochter-Thematik ist lobenswert, wird aber nur angerissen. Vor allem der Handlungsfaden um die Adoptivmutter Antonios, die er nach langer Pause widerstrebend aufsuchen muss, um ihre Fürsprache vor Gericht zu veranlassen, fällt nur – wie auch die Beleuchtung seiner trostlosen Kindheit – arg kurz aus. All dies wäre aber für das Verstehen des Protagonisten von großem Interesse gewesen.
Bei aller Kritik ist Justin Chon trotzdem ein äußerst stimmungsvoller, packender, teilweise poetischer Film mit einer sehr wichtigen politischen Botschaft gelungen, der in allen Rollen mit fantastischer Besetzung überzeugen kann, allen voran Sydney Kowalske, welche die junge Tochter des Paares spielt. Sie kann mit ihren traurigen Blicken mehr transportieren als der gesamte Score. Es ist eine der großen Fragen des Kinos, warum die USA immer wieder diese unfassbar guten Kinderdarsteller hervorbringen (bald auch Woody Norman in Come On, Come On), während diese in anderen Ländern oft die Ausnahme bleiben.