Frankreich/B 2013 · 180 min. · FSK: ab 16 Regie: Abdellatif Kechiche Drehbuch: Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix Kamera: Sofian El Fani Darsteller: Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos, Salim Kechiouche, Jérémie Laheurte, Catherine Salée u.a. |
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Eintauchen in das reine Gefühl |
»Hier bin ich Frau… sich endlich als Frau fühlen… Glauben Sie an das Schicksal der Liebe auf den ersten Blick?« – Nein, das ist kein Ausriss aus einer Frauenzeitschrift. Dies sind die Dialoge, mit denen Abdellatif Kechiche seinen neuen Film Blau ist eine warme Farbe beginnt. Schüler lesen aus dem Roman »La Vie de Marianne« von Marivaux, unter pädagogischer Anleitung, in einem vorbildlichen Unterricht.
Kechiche ist tunesischer Herkunft, und er hat vor zehn Jahren mit seinem Film L’esquive der Jugend mit »Migrationshintergrund« in der französischen Banlieue ein Denkmal gesetzt. Er ließ die berühmt gewordenen feinsinnigen und mit Lust sinnverdrehenden Sprachspiele aus der Feder von Marivaux mit dem Argot der Jugendlichen von heute verschmelzen: der »Marivaudage« des 18. Jahrhunderts wurde im »Verlan« erneuert, die Sprache der Diener hier, der Herren dort, auf die Sprache der Ausgegrenzten und das Integration signalisierende Hochfranzösisch übertragen.
Und jetzt also La vie d’Adèle, das Leben der Adèle, »Kapitel 1 & 2«, wie er seinen Film im Untertitel nennt, in Anlehnung an die 12 Kapitel der »Vie de Marianne«. Wieder, so kann man vermuten, geht es um die Erneuerung einer Handlung und eines Lebensschicksals aus dem 18. Jahrhundert durch die Gegenwart. Die ersten Momente des Films, die Schulstunde mit der Lektüre entfalten so auch das Grundthema der Liebe, die das Leben der Marianne wie auch den weiteren Film bestimmen wird. Da geht es auch um die Liebe auf den ersten Blick, die einem im Moment des Vorübergehens befällt. Eine Flüchtigkeit, die modern und tragisch zugleich ist: Ein Moment, der einen ganz und gar erfüllt, oder der als schmerzhafter, weil unwiederbringlicher Verlust erlebt wird.
Kechiche beginnt mit dieser deutlichen Exposition, der weitere Film wird von dem unbeschreiblichen Glück und dem tiefen Unglück, zuerst erfüllter und dann verloren gegangener Liebe erzählen: Als die 17-jährige Adèle (Adèle Exarchopoulos) nach der Schule über eine Straße geht, fährt in sie der Liebesblitz ein. Eine junge Frau, sehr burschikos, sehr lässig, mit kurzen blauen Haaren, kreuzt ihren Weg. Was folgt, ist tiefste Verunsicherung im Leben von Adèle, die sich mit intensiven erotischen Träumen den Weg ins Bewusstsein bahnt.
Gleichzeitig geht La vie d’Adèle in diesem Moment aus dem Marivaux'schen Universum hinüber in die Welt des Comics. Der Film basiert auf der Graphic Novel »Blau ist eine warme Farbe« der Französin Julie Maroh. Ganz in schwarzweiß gezeichnet, hat er immer wieder blaue Stellen in den Bildern, die sich leitmotivisch durch den Comic ziehen und intensive Gefühlsmomente signalisieren. Kechiche hat so auch das Szenenbild stark durchkomponiert. Immer wieder erscheint das Blau, als allererstes in den blauen Haaren von Emma, und dann immer wieder in der Kleidung der Frauen, hier ein blaues Karohemd, dort ein blauer Pulli, und am Schluss, verzweifelt: ein leuchtend blaues Kleid.
Auch die Bildeinstellungen lassen sich durch den Comic leiten, der Kechiche als direktes Storyboard gedient haben mag. Auffällig sind die extremen Close-ups auf die Gesichter, vor allem auf das von Adèle. Ihr Schmollmund, der immer leicht geöffnet ist und ihr eine naive Verletztlichkeit verleiht, ihre Pausbacken, ihre Blicke, die immer eine Spur zu ehrlich, zu offen erscheinen, werden unter der Kamera von Sofian el Fani wie in einer Skulptur plastisch herausgearbeitet. Eine emotionale Unentrinnbarkeit macht sich dadurch breit, ganz so, als würde die Kamera direkt in die Seele der Protagonistinnen blicken.
Dem Comic ist auch die Figurenzeichnung zu verdanken, die leider oftmals sehr holzschnittartig wirkt. Die sensible Adèle, die zu Beginn Marivaux verehrt, wird in der Begegnung mit der belesenen Künstlerin Emma zu einem ungebildeten, einfachen bürgerlichen Mädchen mit relativ beschränkten Ambitionen. Adèle und Emma sind so unterschiedlich wie Spaghetti Bolognese (ein Gericht, das im Film drei- bis viermal gegessen und gelobt wird und für Adèle steht) und Austern (die für Emma stehen und einmal bei deren Eltern verköstigt werden, als Initiation von Adèle in eine unbekannte Welt).
Zentral aber ist, und da vergisst man auch gerne das durchschaubare Ausspielen der Gegensätze auf der Ebene des Drehbuchs, wie Kechiche die Liebe inszeniert. In drei langen und expliziten Szenen wird der bedingungslose, leidenschaftliche erste Sex zwischen den Frauen gezeigt, mit Details im Liebesspiel und mit Einsatz der ganzen Körperlichkeit, sehr naturlistisch, mit großer Intimität. Im Liebesakt findet der Film zu sich selbst, wird hier von der Last der Aussage befreit. Er ist dann pure Lust und Fleischlichkeit, ganz so, wie es ist, wenn man sich verliebt: reine Augenblicklichkeit, ohne den Blick auf das Gestern oder das Morgen. Der Moment, in dem man nur sich hat, ohne die Gesellschaft.
Denn die Gesellschaft ist für Kechiche, was alles zerstört. Während der Anbahnung des Paares »Adèle und Emma« wird Adèle als Lesbe beschimpft und aus ihrer Clique verstoßen, eine Spiegelung der Intoleranz gegenüber der homosexuellen Liebe im ansonsten in Liebesdingen so freizügigen Frankreich. Später wird sie aus dem Kreis der Lesben ausgeschlossen, weil sie das bodenständige Hausmütterchen gibt und nicht zum Freigeist der Community passt.
Es geht also letztlich doch um die Gegensätze wie bei Marivaux, hier die Diener, dort die Herren, jetzt in der modernen Zeit: Hier die bürgerliche und kleinkarierte Welt, die sich gegen die Freigeister wappnet, auch als Bildungskluft inszeniert, die der Liebe auf lange Sicht entgegensteht. Abseits aber dieser Thesenhaftigkeit entwickelt der Film eine überwältigende und intensive emotionale Kraft, die sich ganz ohne Worte in den Bildern mitteilt: Wir sehen das Leben der Adèle, wie sie sich hoffnungslos in der Liebe verliert, Kapitel 1 & 2.