Bruder Schwester Herz

Deutschland 2019 · 105 min. · FSK: ab 6
Regie: Tom Sommerlatte
Drehbuch:
Kamera: Willi Böhm
Darsteller: Sebastian Fräsdorf, Godehard Giese, Karin Hanczewski, Wolfgang Packhäuser, Jenny Schily u.a.
Kurz vor dem Showdown

Von starken Frauen und verwundeten Männern

»Martin: Debbie, Debbie, Debbie, don’t you remember? I’m Martin, I’m Martin, your brother, remember? Debbie, remember back.
Martin: Do you remember how I used to let you ride my horse? And tell you stories? Oh, don’t you remember me, Debbie?
Debbie Edwards: I remember, from always. At first I prayed to you: ›Come and get me, take me home.‹ You didn’t come.
Martin: But I’ve come now, Debbie.
Debbie Edwards: These are my people. Go. Go, Martin, please!«
The Searchers, John Ford

Gut, es gibt Valeska Grise­bachs Western, aber der spielt in Bulgarien. Und es gibt natürlich Hark Bohms Tschetan, der India­ner­junge, aber das ist lange her. Nun bringt Tom Sommer­latte den »Western« endlich wieder nach Deutsch­land, und zwar in die bran­den­bur­gi­sche Gegenwart, auf eine kleine Stier­zucht­farm im Prignitzer Rosen­winkel, in der Bruder, Schwester und Vater symbio­tisch vor sich hinleben. So symbio­tisch, dass es schon fast inzestuös-intensive Momente sind, die den Alltag von Franz (Sebastian Fräsdorf) und seiner Schwester Lilly (Karin Hanc­zewski) prägen. Die vermeint­liche Idylle zeigt jedoch schnell auch ihre Risse. Die Mutter, die den Vater vor langer Zeit schon verlassen hat, ist einer. Die Wirt­schaft­lich­keit des Betriebes und die Konkur­renz mit den Nachbarn ist ein anderer. Und als dann auch noch ein Indianer, in der Gestalt des Musikers Chris (Godehard Giese) in die Idylle einfällt und Lilly kurzer­hand »entführt«, gerät das bis dahin so selbst­ver­s­tänd­lich erschei­nende Fami­li­en­kon­zept bedroh­lich ins Schwanken.

Sommer­latte, der sich mit seinem mehrfach ausge­zeich­neten Spiel­film­debüt Im Sommer wohnt er unten (2015) bereits verfah­rener Fami­li­en­kon­stel­la­tionen ange­nommen hatte, lässt in Bruder Schwester Herz aller­dings die komö­di­an­ti­schen Einsprengsel weitest­ge­hend hinter sich und bietet statt­dessen ein präzises, sich langsam entwi­ckelndes Tableau von komplexen Charak­teren, die sich im Verlauf der Geschichte glaub­würdig weiter­ent­wi­ckeln.

Das, was Sommer­lattes Film dabei so inter­es­sant macht, ist nicht nur das Aufbre­chen und Neude­fi­nieren der intra­f­a­mi­liären Struk­turen, die radikale Eman­zi­pa­tion vom Komplex Familie; eine Entwick­lung, die in fast schon thera­peu­ti­scher Dichte und Dramatik vollzogen wird, sondern die damit einher­ge­hende Schil­de­rung des modernen, bäuer­li­chen Alltags in Deutsch­land, der ähnlich, wie andere Arbeits­um­felder, im gegen­wär­tigen deutschen Film so gut wie gar nicht präsent ist oder meist nur stereotyp ange­rissen wird – von Ausnahmen wie Thomas Stubers In den Gängen oder David Nawraths Atlas einmal abgesehen.

Sommer­latte hingegen zeigt in bissiger Direkt­heit die alltäg­li­chen Mühen, eine Rinder­zucht am Laufen zu halten, zeigt ritua­li­sierte Knei­pen­abende einer neuen Gene­ra­tion von Bauern, aber auch das ernüch­ternde Dilemma, alten, »roman­ti­schen« Struk­turen und Klischees anzu­hängen und nicht »modern« zu wirt­schaften, dafür aber immerhin einen alten Jugend­traum zu leben.

Dieser Traum, den vor allem Franz versucht in die Zukunft zu retten, ist dann auch so etwas wie die Liebe zum alten Western, der über die sich mehr und mehr bekämp­fenden Fami­li­en­mit­glieder ein Stell­ver­treter-Duell gegen den Neo-Western austrägt. Wie Sommer­latte dann dieses Duell um die »selbst­er­mäch­tigten« Frauen Sophie (Jenny Schily) und Lilly und die in Seele und Körper »verwun­deten« Männer mit einem bis in die Neben­rollen über­ra­gend besetzten Ensemble zum Showdown führt, ist nicht nur toller »Western«, sondern auch berüh­rendes Drama.