Türkei/Rumänien 2021 · 85 min. Regie: Ferit Karahan Drehbuch: Gülistan Acet, Ferit Karahan Kamera: Türksoy Gölebeyi Darsteller: Samet Yildiz, Ekin Koç, Mahir Ipek, Melih Selçuk, Cansu Firinci u.a. |
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Systemisches Versagen auf allen Ebenen... | ||
(Foto: déjà-vu film) |
Die Geschichte entwickelt sich so unmerklich wie schnell, ist so alltäglich wie grausam, so grotesk wie tragisch: An einem eiskalten Morgen in einem Internat für kurdische Jungen in Ostanatolien erkennt der 12-jährige Yusuf (Samet Yıldız), dass mit seinem Klassenkameraden und Freund Memo (Nurullah Alaca) etwas nicht stimmt. Er bringt ihn auf die provisorische Krankenstation der Schule, doch keiner kann oder mag sich um den immer derangierteren Jungen kümmern, so dass sich Yusuf in seiner hilflosen, kindlichen Wut an die Lehrer und schließlich auch den Direktor der Schule wenden muss, um eine Reaktion zu erzwingen.
Regisseur Ferit Karahan, der zusammen mit seiner Frau Gülistan Acet auch das Drehbuch zu Brother’s Keeper geschrieben hat, verarbeitet hier spürbar eigene Erfahrungen, nicht nur die der eigenen Kindheit, sondern auch die einer fragmentierten kurdischen Identität in einem Staatswesen, das nur noch rudimentär funktioniert, das weder Rechtssicherheit noch Gerechtigkeit bietet.
Doch Karahan belässt es mit seinem empathischen Blick nicht allein bei dem kurdischen Dilemma und der Darstellung eines Volkes ohne Heimat, sondern er macht mit einem starken Ensemble deutlich, wie subtil die türkischen Repressionen bis in die Wurzeln kurdischer Familienstrukturen eindringen und Kindern nicht nur die Heimat nehmen, sondern sie letztendlich auch ihrer Kindheit berauben.
Ähnlich wie Mehmet Ali Konar in seinem eindringlichen The Dance of Ali and Zin arbeitet auch Karahan mit zurückgenommenen Handlungselementen und kargen Dialogen, sind es die Blicke, die letztendlich alles erklären. Die die Hilflosigkeit der Eltern ahnen lassen, die ihre Kinder in die Obhut des türkischen Staates geben, der wiederum über brutale Hierarchien und Rituale den Kindern deutlich macht, welche Rolle sie in der der türkischen Gesellschaft spielen. Karahan findet dafür beeindruckende Bilder voll visueller Kraft, inhaltlichem Nihilismus und einem subtilen Humor, der einen ähnlich verstörenden Kinderheim-Mikrokosmos entfaltet wie 2014 Myroslaw Slaboschpyzkyjs großes Jugenddrama The Tribe.
Dabei wird auch klar, dass dieser Mikrokosmos alles andere als nur von der Tragik der kurdischen Gesellschaft erzählt. Denn so wie Karahan und Acet von den Repressalien und den Hierarchien erzählen, denen die Kinder ausgesetzt sind, so erzählt er auch von den Hierarchien innerhalb des ausschließlich türkischen Lehrerpersonals, die allesamt Verbannte und dann auch Verdammte auf diesem Sonderposten am Ende der Welt sind. Durch diesen Brückenschlag auf die andere Seite der Macht und die Demonstration, dass selbst die Macht machtlos und nur einer weiteren Hierarchieebene hilflos ausgeliefert ist, zeichnet Karahan nicht nur sehr präzise, gnadenlos, dann aber auch immer wieder mit fast schon grotesken Elementen ein düsteres Bild nicht nur der gegenwärtigen Türkei, sondern auch von autokratischen Gesellschaften und ihrer Funktionsweise an sich, lässt sich diese Geschichte problemlos auf andere Kulturräume übertragen. Wird über das Kleine das Große erklärt.
Die vielleicht bitterste Note dieses intensiven, aufwühlenden Films ist jedoch, dass er in seiner Beschreibung einer degenerierten »Heimat« und dem über allem liegenden Schnee, der jeden Schmerz mit seiner Kälte zu ersticken scheint, an eines der großen Meisterwerke des kurdischen Kinos erinnert, an Yılmaz Güneys Yol – Der Weg (1982), in dem ebenfalls der Tod in der Kälte und im Schnee lauert, und in dem die Protagonisten ähnlich hilflos einer Gesellschaft ausgeliefert sind, die in einem blinden, fast schon apathischen Amoklauf alles unter sich zu begraben scheint, die Täter genauso wie die Opfer. Damals so wie heute.